Anmerkungen zu: Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800- 1933, Frankfurt a.M. 2011.
Götz Aly ist einer der umstrittensten zeitgenössischen Historiker. Seine Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust liegen zumeist quer zur vorherrschenden Forschungsmeinung, sind manchmal mit einer provokativen Absicht geschrieben und sind dennoch äußerst einflussreich in Historiker-, Soziologen- und Journalistenkreisen. Bei Aly ist die historische Forschung immer nur der verlängerte Arm der Politik. So färbte zuletzt seine Metamorphose vom Alt-68er zum Neoliberalen auch auf seine Bücher zum Dritten Reich ab.1 Die Lust an der Provokation, an der unorthodoxen politischen Meinung und an gewagten „Großthesen“ sichern Aly hohe Auflagen und machen ihn zum „König des Feuilletons“, gehen aber leider voll zu Lasten der wissenschaftlichen Solidität.
Aly zählt zu jenen Historikern, die glauben, sich nicht an Forschungsständen orientieren zu müssen, sondern mit jeder Studie das Rad neu erfinden zu können. Auch für sein jüngstes Buch, das sich der Geschichte des Antisemitismus zwischen 1800 und 1933 widmet, verwirft Aly sämtliche Ergebnisse der Antisemitismusforschung in Bausch und Bogen. Begrüßenswert ist die Absicht des Autors, nach sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Faktoren zu fragen, die den Holocaust ermöglichten, anstatt die übliche Politik- und Ideengeschichte von der völkischen Bewegung bis zum Nationalsozialismus wiederzukäuen. Mit der Ausnahme seiner eigenen Familiengeschichte wendet sich Aly dann aber leider keineswegs den „einfachen Leuten“ zu, sondern nutzt überwiegend gedruckte Quellen, die zumeist von berühmten Bildungsbürgern oder Politikern stammen. Am Ende entsteht so einmal mehr eine methodisch fragwürdige Mentalitätsgeschichte „von unten“ aus Quellen „von oben“.
In Aufbau, Stil und der Tendenz zu gewagten „Großthesen“ knüpft das Buch eher an die phänomenologischen Studien an, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen, als an die aktuelle Antisemitismusforschung. Aly widmet sich der Geschichte des deutschen Antisemitismus unter der Fragestellung, warum die Deutschen im Holocaust zu Tätern und die Juden zu Opfern wurden. Eine echte Forschungsfrage ist das allerdings nicht, denn Aly lüftet bereits in der Einleitung das Geheimnis. Die Juden hätten sich nach ihrer Emanzipation im 19. Jahrhundert einen Modernisierungsvorsprung in Wirtschaft und Gesellschaft erarbeitet. Währenddessen reagierten die Deutschen auf sozioökonomische Modernisierungsprozesse eher träge und ablehnend. Den Erfolg der Juden, die noch wenige Jahrzehnte zuvor eine diskriminierte Minderheit am Rande der Gesellschaft waren, beargwöhnten die Deutschen mit dem Sozialneid der „zu kurz gekommenen“. Dieser Sozialneid habe sich dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem immer radikaleren Antisemitismus gesteigert, weil nun auch die Deutschen in soziale Positionen drängten, die vor ihnen die Juden okkupiert hatten. Die Gegenüberstellung von „Deutschen“ (statt Christen oder Nichtjuden) und „Juden“ ist kein Lapsus des Rezensenten, sondern entspricht Alys Diktion.
Dass es ein Modernisierungsgefälle zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen gab, aus dem Mentalitätsunterschiede resultierten, ist nicht zu bestreiten. Die radikalen Schlussfolgerungen, die Aly daraus zieht, beruhen allerdings auf grotesken Verallgemeinerungen auf der Grundlage einer als Mentalitätsgeschichte getarnten Völkerpsychologie. Weder berücksichtigt der Autor mentalitätsprägende Faktoren, die quer zum Gegensatz „Deutsche“ – „Juden“ standen (soziale Schicht, Geschlecht, Urbanitätsgrad, religiöse Bindung usw.). Noch kümmern ihn Prozesse wie Akkulturation und Kulturtransfer, die bis 1933 trotz aller antisemitischen Tendenzen die Juden fest in die deutsche Gesellschaft einbanden. Stattdessen stehen „Deutsche“ und „Juden“ in Alys Buch einander als identitäre Kollektivgruppen gegenüber, denen konträre Mentalitäten unterstellt werden. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts populäre Selbst- und Fremdzuschreibungen werden vom Autor einfach beim Wort genommen und normativ umgewertet: Aus dem rassischen Überlegenheitsanspruch der Völkischen wird das Zerrbild des „Deutschen“ als kollektivistischem, trägem und spießbürgerlichem Freiheitsfeind gezimmert. Die antisemitische Wahnvorstellung von der „Judenherrschaft“ wird in das philosemitische Konstrukt vom Juden als aufstiegsorientierten Erfolgsmenschen übersetzt. Das ist Mentalitätsgeschichte zum Abgewöhnen.
Im Gegensatz zu Einleitung und Schlussbetrachtung argumentieren die einzelnen Kapitel etwas zurückhaltender und gleiten seltener in einen feuilletonistischen Stil ab. Der Autor untersucht die deutsche Geschichte vom Ende des Heiligen Römischen Reiches bis zur NS-Machtergreifung auf Entstehungs- und Verbreitungsbedingungen des Antisemitismus. In diesem Zusammenhang frischt Aly die These vom „deutschen Sonderweg“ auf. Im Unterschied zu Hans-Ulrich Wehler2 macht er aber nicht die Beharrungskraft vormoderner Eliten für den Verfall der politischen Kultur verantwortlich, sondern die modernisierungs- und freiheitsfeindliche Volksmasse. Aus diesem Grund insistiert Aly darauf, den Antisemitismus nicht allein der politischen Rechten anzulasten, sondern einem nebulösen deutschen Volkscharakter zuzuschreiben. Schließlich seien ja auch die vormärzlichen Demokraten Antisemiten gewesen. Diese Behauptung ist nicht ganz falsch, aber quellenkritisch angreifbar. Als Gewährsmänner führt Aly ausgerechnet Fürst von Metternich, Heinrich von Treitschke und Franz Schnabel an, die allesamt aus unterschiedlichen Gründen Gegner der 1848er waren und ein Interesse daran hatten, sie in ein schlechtes Licht zu rücken. Aly knöpft sich auch die SPD vor. Einzelne judenfeindliche Aussagen aus den Reihen der Partei hält er für unbedeutend.3 Ihr Eintreten für soziale Gleichheit, gegen Kapitalismus und Liberalismus habe aber den NS-Volkskollektivismus mentalitätsgeschichtlich vorbereitet. In dieser Logik hat auch die Erfindung der Eisenbahn Auschwitz vorbereitet. Der Zusammenhang zwischen Kapitalismuskritik und Antisemitismus war eine Möglichkeit, aber weder zwingend noch universell. Aly selbst zitiert ausführlich Friedrich Naumann, der sich gleichzeitig für einen starken Sozialstaat und gegen den Antisemitismus aussprach. (S.136-143) Der Widerspruch zu seinen eigenen Thesen fällt Aly leider nicht auf. Außerdem gerät in der gesamten Darstellung völlig aus dem Blickfeld, dass für die Verbreitung des Antisemitismus neben mentalen Dispositionen in erster Linie die Multiplikatorenfunktion von Eliten verantwortlich zu machen ist.
Trotz aller quellenkritischer Schwächen und manchen befremdlichen Pauschalurteilen ist Aly zuzustimmen, wenn er betont, dass eine sozioökonomisch motivierte Judenfeindlichkeit in Deutschland auch über die Reihen der überzeugten Antisemiten hinaus sehr weit verbreitet war. Daraus lässt sich aber nicht auf eine gesamtgesellschaftliche antisemitische Mentalität schließen. Aly tut dies dennoch, indem er, ähnlich wie Daniel Goldhagen und Lars Fischer, die Unterscheidung zwischen Antisemitismus als Stereotyp und Antisemitismus als Weltanschauung verwischt.4 Ebenso wenig bietet die Sozialneidthese Aufschlüsse über Tätermotivationen im Holocaust. Denn der Holocaust betraf nicht nur die assimilierten und aufstiegsorientierten deutschen Juden, sondern in viel größerem Umfang die pauperisierten Ostjuden. Worum hätte man die „Luftmenschen“ Osteuropas beneiden sollen?
Ohne Zweifel, Sozialneid war und ist eine wichtige Ursache für Antisemitismus. Auch hat die Antisemitismusforschung, mit Ausnahme des volkskundlichen Ansatzes in der Nachfolge von Utz Jeggle5, mentalitätsgeschichtliche Aspekte gegenüber der Politik- und Ideengeschichte vernachlässigt. Alys Sozialneidthese ist aber wegen ihres monokausalen Anspruchs und ihrer völkerpsychologischen Fundierung kein Gewinn für die Geschichtsschreibung zum deutschen Antisemitismus. Der Forschungsstand ist mittlerweile zu komplex, als dass man mit monokausalen „Großthesen“ etwas erreichen könnte – außer die Steigerung der Auflage und den Widerspruch der Zunft. Es steht zu befürchten, dass die „neue Kulturgeschichte“ Alys Buch als abschreckendes Beispiel nutzen wird, um die berechtigte Frage nach sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Ursachen des Antisemitismus als essentialistisch zu diskreditieren. Damit hätte Götz Aly der Antisemitismusforschung einen Bärendienst erwiesen.
Autor: Thomas Gräfe
Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800- 1933, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2011. ISBN 9783100004260
Anmerkungen
1 Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005; Ders., Unser Kampf. 1968 – Ein irritierender Blick zurück, Frankfurt a.M. 2008.
2 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871- 1918, Göttingen 1973.
3 In dieser Frage sind Aly ohnehin einige grobe Recherchefehler unterlaufen. So wirft er der Partei vor, sich bei der Antisemitismus-Debatte im Preußischen Abgeordnetenhaus 1880 nicht zu Wort gemeldet zu haben. Die SPD war jedoch aufgrund des Dreiklassenwahlrechts bis 1908 gar nicht im Preußischen Abgeordnetenhaus vertreten. Besonders grotesk ist aber, dass Aly ausgerechnet den „planetarischen Imperialisten“ Johann Plenge zum typischen Sozialdemokraten erklärt. Vgl. Aly, Warum die Deutschen, S. 125-136, 207-209.
4 Vgl. Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin (9.Aufl.) 1996; Lars Fischer, The Socialist Response to Antisemitism in Imperial Germany, Cambridge 2007.
5 Vgl. Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, Tübingen (2.Aufl.) 1999. Siehe auch die Arbeiten der Jeggle-Schüler Ulrich Baumann, Dagmar Herzog und Martin Ulmer.