2011 veröffentliche der Berliner Historiker Götz Aly ein Buch mit dem Titel „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“, in dem er die Frage, warum die Deutschen im Holocaust zu Tätern und die Juden zu Opfern wurden, mit einer verblüffend simplen These beantwortete. Der soziale Aufstieg der agilen Juden habe aufseiten der trägen Deutschen Sozialneid ausgelöst.[1] Wie schon die Gegenüberstellung von „Juden“ und „Deutschen“ (ganz so, als ob die Juden keine Deutschen gewesen seien) suggeriert, fußt die Sozialneidthese auf zeitgenössischen völkerpsychologischen Zuschreibungen und ignoriert beharrlich die Tatsachen von Assimilation und Kulturtransfer. So kann es nicht verwundern, dass Alys Historikerkollegen dem Buch zu Recht eine primitive Quellenkritik und die zwanghafte Neigung zur einfachen aber umso reißerischen These unterstellten. Wahrscheinlich wurde das Werk gerade wegen der groben fachlichen Mängel ein Bestseller, weil es auch Leserkreise erreichte, die an wissenschaftlichen Standards chronisch uninteressiert sind.
Götz Aly zeigt sich von der heftigen Kritik der Fachwelt wenig beeindruckt. In seinem Buch „Europa gegen die Juden“ hat er jüngst nachgelegt und die Sozialneidthese auf den gesamten Kontinent ausgedehnt. Überall in Europa habe sich im 19. Jahrhundert aus dem Neid auf den sozialen Aufstieg der Juden der Antisemitismus ausgebreitet. Durch die Gleichheitsideen des 20. Jahrhunderts und den zunehmenden sozialen Aufstiegswillen der christlichen Mehrheitsbevölkerungen habe er sich noch verschlimmert bis hin zu Pogrom und Völkermord. Die Radikalisierung des Antisemitismus im ostmitteleuropäischen Raum der Zwischenkriegszeit wird vom Autor ausführlich und quellennah geschildert. Hier erwirbt sich Alys Buch das Verdienst, die osteuropäischen Pogrome einem breiteren Publikum bekannt zu machen, während die heutigen Nationalisten, vor allem in Polen, Ungarn und der Ukraine, ihr blutiges Erbe vergessen machen wollen. Doch die Motive für Diskriminierung und Gewalt werden nicht im europäischen Vergleich erforscht, sondern stets demselben Deutungsmuster unterworfen. Welche Plausibilität kann Sozialneid als Entstehungsursache des Antisemitismus in Osteuropa haben, wo die Juden überwiegend in Armut lebten und in einigen Ländern nicht einmal gleichberechtigte Staatsbürger waren? Warum hatten – nach Alys eigener Einschätzung (S. 14) – gebildete, wohlhabende und assimilierte Juden in Ungarn, Bulgarien und Rumänien bessere Chancen, den Holocaust zu überleben? Um Platz für aufstiegswillige Christen zu schaffen, hätte man doch gerade sie berauben und vernichten müssen. Hier passen die empirischen Befunde nicht zur These.
Stattdessen wird behauptet, die „Judenfrage“ habe sich überall als „soziale Frage“ gestellt. Aly will nicht wahrhaben, dass der Antisemitismus als verschwörungstheoretische Weltanschauung einen sozialpsychologischen Mehrwert transportierte. Deshalb widmet er der antisemitischen Ideenwelt des Untersuchungszeitraums nur wenige lapidare Worte. Der Rassenantisemitismus wird gar nicht erwähnt, eine religiös motivierte Judenfeindlichkeit habe es im 20. Jahrhundert nicht mehr gegeben. Die ethnische Homogenisierung der 1918/19 neu entstandenen Nationalstaaten bezieht der Autor zwar ein, deutet sie aber in eine soziale Säuberung zu Lasten der „beneideten Vorbilder“ um. (S. 357) Die Pogrome in Osteuropa zwischen 1918 und 1923 und die Kollaboration mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hätten dazu gedient, die sozialen Aufstiegschancen der christlichen Mehrheits-Ethnie zu verbessern. Diese Politik hätten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Kommunisten fortgesetzt. Auch ihren Säuberungen wird die Sozialneidthese aufgezwungen. Innovativ ist dieses Deutungsschema nicht. Es ist von dem russisch-amerikanischen Historiker Yuri Slezkine übernommen, der mit seiner Gegenüberstellung von „apollonischen“ Russen und „merkurischen“ Juden zeitgenössische antisemitische Zuschreibungen nahtlos in soziologische Kategorien übersetzte.[2] Andere Standardwerke zum osteuropäischen Antisemitismus werden bei Aly immer nur so zitiert, dass sie Slezkines Vorgaben nicht widersprechen.
Mit viel Fantasie aber ohne Quellenbezug liest Aly aus rechten „Ordnungen der Ungleichheit“ Gleichheitsversprechen heraus und dichtet linken Gleichheitsideen Antisemitismus an. (S. 350) Der Umstand, dass zehntausende osteuropäische Juden jüdisch-sozialistischen Parteien (d.h. sozialistischen Parteien von Juden für Juden) angehörten, passt nicht ins Bild und wird daher verschwiegen.[3] Dass die Opfer des Gleichheitswahns selbst für diese Gleichheit kämpften, entzaubert den angeblichen Grundzusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und Antisemitismus. Nur die Verquickung von Geschichte und Politik kann erklären, warum ihn der Autor dennoch erzwingen will. Unausgesprochen stützt sich Aly eher auf die Beobachtung der Gegenwart als der Vergangenheit. Aktuell stellt sich der globale Rechtspopulismus ja tatsächlich als ein Klassenkampf der Arbeiter der ersten Welt gegen das Subproletariat der dritten Welt dar. Doch die fundamental anderen Verhältnisse im Europa des frühen 20. Jahrhunderts lassen sich damit nicht erfassen. Alterität hat in Alys politisiertem Geschichtsbewusstsein keinen Platz – hier ist er seiner 68er-Vergangenheit treu geblieben.
Immerhin zwingt die europäische Perspektive Aly in einem anderen Bereich zur Kurskorrektur. Aus einer spezifisch deutschen Prädisposition für den Antisemitismus wird die Behauptung einer Gesamtverantwortung der europäischen Völker für die Judenvernichtung unter der Schirmherrschaft nationalsozialistischer Planung. (S. 10) Die lange Tradition des Antisemitismus in den vom Dritten Reich besetzten bzw. abhängigen Ländern habe den Holocaust erst ermöglicht. Die antisemitischen Maßnahmen hätten der deutschen Besatzung keine Sympathien gekostet, sondern Sympathien eingebracht. Das ist in dieser Pauschalität zwar falsch, doch wenigstens revidiert Aly damit den völkerpsychologischen Ansatz seines Buches „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ – womit er seine ursprüngliche Beantwortung dieser Frage dem Papierkorb überantwortet. Die Sozialneidthese wird gruppensoziologisch umgebogen, wobei Aly allerdings dabei bleibt, die Aussagen von Antisemiten schlicht beim Wort zu nehmen. So zeichnet der Autor das Bild eines ethnischen Realkonflikts zwischen beneideten Juden und neidischen Christen.[4] Als Kronzeugen dienen ihm Zionisten wie Theodor Herzl und Arthur Ruppin, die den Holocaust vorhergesagt hätten. (S. 376) Selbstverständlich darf auch Werner Sombart nicht fehlen, dessen krude Mischung aus Wirtschaftsantisemitismus und Zionismus an keiner Stelle kritisch hinterfragt wird. Stattdessen wird der Ökonom zum sozialdemokratischen Judenfreund geadelt. (S. 65) Auf Quellen- oder gar Ideologiekritik darf man in Alys Werk nicht hoffen.
Das Buch „Europa gegen die Juden“ wurde 2018 mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Als Literaturpreis ist dies eine angemessene Ehrung, da der wissenschaftliche Gehalt nicht im Vordergrund der Bewertung steht. Inhaltlich wiederholt das Buch Alys monokausale Lieblingsthese, der Holocaust sei ein Raubmord zur Finanzierung des Sozialstaats gewesen.[5] Sie wird auch diesmal unter seriösen Historikern keine Anhänger gewinnen, da sie einen „erwünschten“ Nebeneffekt zur Hauptsache erhebt und in einer grenzenlosen Naivität zeitgenössische antisemitische Klischees über die „reichen“, „gebildeten“ und „mobilen“ Juden tradiert. Verwerflich ist aber vor allem die implizierte geschichtspolitische Botschaft, die mit unlauteren Mitteln soziale Gerechtigkeit als Staatsziel diffamiert. Da hilft es auch nicht, dass sich Aly gegen diese Schlussfolgerung präventiv verwahrt. (S. 379)
Autor: Thomas Gräfe
Götz Aly, Europa gegen die Juden 1880-1945, Frankfurt a.M. 2017.
Anmerkungen
[1] Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800- 1933, Frankfurt a.M. 2011.
[2] Yuri Slezkine, Das jüdische Jahrhundert, Göttingen 2006.
[3] Markus Börner/ Anja Jungfer/ Jakob Stürmann (Hg.), Judentum und Arbeiterbewegung. Das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018.
[4] Bezeichnenderweise erklärt Aly die Schwäche des Antisemitismus in Skandinavien und Italien lapidar mit der Tatsache, dass dort wenig Juden lebten und sie deshalb für die Christen keine Konkurrenz darstellten. Doch das traf nach der Abtrennung Elsass-Lothringens auch auf Frankreich zu, wo der moderne Antisemitismus dennoch eher entstand als in Deutschland. In Spanien kam der Antisemitismus sogar ganz ohne Juden aus. Vgl. Manfred Böcker, Antisemitismus ohne Juden. Die Zweite Republik, die antirepublikanische Rechte und die Juden. Spanien 1931 bis 1936, Frankfurt a.M. 2000.
[5] Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005. Mit obskuren Rechentricks ermittelt Aly, dass die Arisierungsgewinne den Reichshaushalt nennenswert aufgebessert hätten und tut so, als sei das Geld direkt in die Sozialkassen geflossen. Er vergisst selbstverständlich, den volkswirtschaftlichen Schaden dagegen zu rechnen, der dem Dritten Reich durch seine Judenpolitik im Außenhandel entstand. Faktisch war der „Raubmord“ an den europäischen Juden für das Dritte Reich ein teurer Luxus, gerade unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs.