„Mir ist die Sprache gestorben“
„Lebenssatt“ wie seine Frau Inge vermutet, starb neunzigjährig am 9. Juni 2013 Prof. Walter Jens. Letztlich nahm ihm, dem Kopfarbeiter, eine schwere Demenz sein Werkzeug.
Mit ihm ist wieder ein sich den Zielen der Aufklärung der Humanität und der Gerechtigkeit Verpflichteter aus dem Leben gegangen. Sein Tod hat das Land, das keine kulturelle Schuldenbremse kennt, noch ärmer gemacht. Denn Walter Jens hat sich immer eingemischt, für Widerspruch, Nachdenken, Streit und für Debatte gesorgt. All das hatte ein einst vom Krieg und Naziideologie zerrüttetes Deutschland – vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit – bitter nötig gehabt. Wie gut ist es daher, dass Menschen in ihrer lebendigen Phase, in schreibender Weise, der Nachwelt etwas hinterlassen. Und Walter Jens hat dieses Privileg eifrig genutzt und viel geschrieben. Obwohl er sich nie als Sozialist verstand, habe die rote Fahne aber immer dazu gehört. Im Grunde, könnte man sagen, dass der bürgerliche Demokrat Walter Jens nach dem Wort des Marxisten Antonio Gramsci handelte: „Man müsste etwas schaffen, für ewig“. Die Vielzahl seiner Bücher und Publikationen sind bleibende Zeugen seines Schaffens. Nennen wir beispielhaft seine erste Arbeit „Das weiße Taschentuch“ (1947) oder später „Das Testament des Odysseus“ (1957), „Der Fall Judas“ (1975) und schließlich „Die Friedensfrau“ (1986). Immer wieder hat er sich antiken griechischen Modellen zugewendet und ihre Stoffe verarbeitet. So auch 1949 mit seiner Habilitationsschrift über Tacitus und die Freiheit.
Doch vor all seinen „Schriftgütern“ und „Redensarten“, denn ab 1965 hatte er an der Universität Tübingen den ersten Lehrstuhl für Rhetorik unter sich, da lag ein Studium der Germanistik und der Klassischen Philologie. Einer seiner Lehrer war der Philosoph Martin Heidegger, der als NSDAP-Mitglied, den Sozialdemokraten Möllendorf ablösend, Rektor der Freiburger Universität wurde. Das Thema NSDAP-Mitgliedschaft sollte Jens im Alter wieder einholen. Immerhin war dies für Hannah Ahrendt Grund genug, bis 1950 mit ihrem Mentor Heidegger zu brechen. Jens blieb und soll ab 1942 selbst zumindest als NSDAP-Mitglied geführt worden sein. War es nun ein Eigentor, das der Torwart der Freiburger Studentenmannschaft hier zuließ? Oder hat sich Walter Jens wirklich nicht erinnern können? Eine schwere Asthmakrankheit bewahrte ihn jedenfalls vor dem Kriegseinsatz und so war er der Krankheit sogar dankbar, „weil sie ihm vorm Marschieren bewahrte und er nie eine Waffe in die Hand nehmen musste“. In der Tat war Jens ein Mann des Friedens, was man von den verschieden farbigen herrschenden und be-herrschten Politikern seit 1990 nicht mehr sagen kann, da durch sie wieder Krieg vom deutschen Boden ausging. So verließ er Anfang der 1980er Jahre die Studierstube, um sich im Widerstand gegen den NATO-Doppelbeschluss zu engagieren. Ein Höhepunkt dabei sicher seine Teilnahme an einer Sitzblockade gegen die Stationierung von Pershing-Raketen in Mutlangen. Später sollte er zwei vor dem Golfkrieg desertierte US-Soldaten bei sich verstecken.
Die Westberliner Akademie der Künste wählte Walter Jens 1989 zu ihrem Präsidenten. Es sollte nach eigenem Bekunden, seine glücklichste Zeit werden. Sie währte bis 1997. Wie sein Nachfolger Prof. Klaus Staeck in seinem Nachruf bemerkte, ging er in der Zeit der deutschen Vereinigung mit seinem ostdeutschen Gegenüber Heiner Müller den mühsamen Weg der gleichberechtigten Zusammenführung beider Akademien. Ja, und dieses Werk gelang, und es entstand eine blühende (Kultur)-Landschaft. Nochmal Staeck: „ Er war davon überzeugt, das sich Intellektuelle in gesellschaftliche Belange einzubringen und zu warnen haben, wenn Freiheitsrechte gefährdet sind.“
Das sollte wirklich Herzensangelegenheit eines Jeden sein, unabhängig von der bevorzugten Parteienfarbe. Denn mit der Freiheit verhält es sich doch so ähnlich wie mit dem Frieden: Fehlt es, dann nützt alles andere auch nichts. Mit dem Tod von Prof. Walter Jens beklagen die demokratischen Kräfte des Landes einen weiteren Mahner vor dem Nichts.
Gewisse Innenminister und Justizminister, sind seinem Vermächtnis entgegen, immer noch im Amt. Bleibt also noch viel zu tun, damit man sich, wie es Thomas Mann sagte, und Walter Jens in „Zeugen des Jahrhunderts“ (ZDF, 1991) zitierte: „Ich würde mich in einem Deutschland wohlfühlen, in dem Marx Hölderlin liest“.
Autor: René Lindenau