Von der Vermessung der Gliedmaßen bis zur Vernichtung von Menschen – die tödliche Medizin der Nazi-Ärzte
Täter haben Gesichter und ihre Lebensgeschichten. Oft, viel zu oft sind ihre Biografien weder von Verfolgung geschweige denn von einer Verurteilung getrübt. Sie leben ein „normales“ Leben weiter, während die Opfer anonym bleiben und hinter einer unfassbaren Numerik in einer grauen Masse verschwinden. Dies gilt für viele Bereiche des NS-Terrors. Insbesondere für Ärzte, Klinik- und Anstaltspersonal sowie die – meistens männlichen – Bürokraten, die sich, legitimiert von einem mörderischen System, anmaßten, über Tod und Leben von Kranken, Alten, Behinderten zu entscheiden. 210.000 Menschen wurden aufgrund ihrer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankungen ermordet und an über 400.000 Menschen Zwangssterilisierungen vorgenommen. Da sind sie wieder, die unfassbaren Zahlen, hinter denen tragische Einzelschicksale stehen. Eine Ausstellung des Holocaust Museum in Washington von 2004 wird nun nach einer Station im Deutschen Hygiene Museum in Dresden (2006) im Jüdischen Museum in Berlin gezeigt und wurde von der dortigen Projektleiterin Margret Kampmeyer um konkrete Fallschilderungen erweitert. Damit wird ein in den 80er-Jahren vor allem durch Ernst Klees mutige Pionierarbeit erstmals erschlossenes Thema wieder aktuell vorgestellt. Warum die Ausstellung Tödliche Medizin ausgerechnet im Jüdischen Museum Station macht, das sich dezidiert der Wahrung und dem Überleben der jüdischen Kultur verpflichtet hat, und nicht etwa im Deutschen Historischen Museum gezeigt wird, in dessen Aufgabengebiet dieses Kapitel fällt, bleibt eine offene Frage. Dessen ungeachtet zeichnet die Ausstellung die Entwicklung einer nicht nur in Europa verbreiteten Eugenik, einer mit kaltem Rationalismus und auf rationelle Planung orientierten Moderne bis hin zur Ermächtigung der Nazis nach. Die Idee, menschliches Leben in „wertlos“ und „wertvoll“ einzuteilen und daraus eine Politik abzuleiten, ist keineswegs die Erfindung der Nazis und schon lange vor 1933 wurden in staatlichen Institutionen mittels Zwangssterilisierung Menschen gedemütigt und entwürdigt. Falsche wissenschaftliche Annahmen über die Vererbbarkeit von vielen Krankheiten, die sich später als nicht vererbbar herausstellten, können als Irrtum abgetan werden. Der von niemandem zu autorisierende Eingriff in die Würde eines Menschen ist klar und deutlich als Verbrechen zu bezeichnen.
Die Idee einer Bio-, Gen- und Züchtungspolitik zur Produktion einer überlegenen „Rasse“ hat es in verschiedenen Wissenschaftszirkeln, z.B. auch in den USA, gegeben. Aber erst durch die Nazis konnten die wahnhaften Vorstellungen einer „reinen Rasse“, eines „gesunden Volkskörpers“ durch „Ausmerzen“ und „Unschädlichmachen“ schlechten Erbgutes bzw. deren Träger zur Staatspolitik werden. Auch der zur Staatsideologie erklärte Antisemitismus wurde Bestandteil der genozidären NS-Rassenpolitik gegenüber Juden, Sinti und Roma. Das große Verdienst der Ausstellung ist es, durch Einzelfallschilderungen dem Verbrechen an den vielen namen- und gesichtslosen Opfern wenigsten in einigen Fällen eine persönliche Geschichte zu geben. Martin Bader, ein Schuhmachermeister aus Giengen an der Brenz, erlitt nach der Spanischen Grippe eine Schüttellähmung (Parkinson) und musste wiederholt Pflege- und Heilstätten aufsuchen. Sein Fall kann durch Briefwechsel mit den Kindern und seinem Tagebuch bis zur Einweisung in die Tötungsanstalt Grafeneck dokumentiert werden. Bei den Tätern ist das ebenso wichtig, gerade weil die Vordenker und Forscher zur Nomenklatura der Wissenschaft gehörten und in den meisten Fällen nach 1945 unbeschadet ihre Karrieren fortsetzen konnten. Das war bei den ausführende Ärzten vor Ort auch nicht anders. Auch Dr. Frederike Pusch (1905–1980), die ab 1942 die „Kinderfachabteilung“ – mit der Auswahl für die Tötung vorgesehener Kinder befasst – in der Landesanstalt Görden in Brandenburg leitete, gehört dazu. Ihrem Befund gemäß wurde die kleine „auffällige“ Hilde kurz vor ihrem elften Geburtstag in Brandenburg/Havel ermordet. Nach dem Krieg ist Frederike Pusch bis zu ihrer Pensionierung in der DDR an der Universitätsklinik Halle und später in der Neuropsychiatrischen Abteilung am Krankenhaus in Blankenburg/Harz tätig gewesen. Pusch war nur einer der vielen Ärzte, die unbescholten und offenbar ohne Unrechtsbewusstsein weiter praktizieren durften. Das Zusammenhalten und gegenseitige Decken unter den Kollegen vereitelte die Strafverfolgung, wenn sie überhaupt angestrebt wurde.
Erwin Baur, Gründer des Kaiser Wilhelm Instituts für Anthropologie in Berlin, war bereits 1905 Mitglied der „Gesellschaft für Rassenhygiene“ und ab 1917 ihr erster Vorsitzender. Er legte einen wesentlichen Grundstein für das mörderische Programm der Nazis: „Sie dürfen überzeugt sein, dass von niemand sonst die Sterilisationsgesetze der Reichsregierung mehr gebilligt werden als von mir, aber damit ist, wie ich immer betonen muss, nur erst ein Anfang gemacht.“ Auch wenn er Ende 1933 gestorben ist, prägte sein Geist das dann folgende NS-Programm. Das „Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung“ verehrt ihn bis heute auf seiner Webseite für seine wissenschaftliche Leistung.
Autor: Matthias Reichelt
Jüdisches Museum Berlin
Tödliche Medizin
Rassenwahn im Nationalsozialismus
Bis 19. Juli, täglich 10–20 Uhr
Begleitbuch 16,90€