„Und irgendwann, schon in nicht allzu ferner Zeit, wenn Ihr eine bessere Zukunft erleben werdet, findet Ihr Spuren von mir in Form von Dokumenten bei Frau (oder Herrn) Gusz.“ (1)
Auf der Suche nach der gelöschten Zeit
Das vorangestellte Zitat stammt aus einem Brief, den ein polnischer Jude am 31.7.1943 in der Ahnung seiner baldigen Ermordung an seine Frau schrieb. Es ist vielleicht das einzige Zeugnis, das von ihm blieb. Der Brief befindet sich nun im Archiv des israelischen Forschungs- und Dokumentationszentrums zum Holocaust, Yad Vashem, in Jerusalem. Angesichts seines bevorstehenden Todes bringt der Verfasser seine Hoffnung zum Ausdruck, den Angehörigen und der Nachwelt Spuren seiner Existenz zu hinterlassen. Von vielen Menschen, die der Vernichtungspolitik der Nazis zum Opfer fielen, sind nicht einmal die Namen bekannt. Die Befreiung von der Nazi-Herrschaft haben nicht mehr viele Juden in Deutschland erlebt. Die jüdische Kultur in Deutschland war völlig vernichtet.
Einzig die Synagogen waren im Stadtbild mehr oder minder erhalten geblieben und nun funktionslos.(2) Eine Architektur unterschiedlicher Formen und Größen ohne die für sie bestimmte Klientel war zum Abriss freigegeben und verschwand mehrere Jahre später, weil es kaum Juden gab, die sie nutzen und unterhalten konnten, und anscheinend auch niemand von deutscher Seite auf die Idee kam, sie als Zeichen einer willkommenen Rückkehr zu restaurieren bzw. wieder aufzubauen. Im Fall der Synagoge im Bayerischen Viertel Schönebergs, die die Pogromnacht sowie den Krieg relativ gut überstanden hat, gab es den dokumentierten Versuch von Seiten des Jewish Congregation Synagogue Commitee Münchener Straße 37, die Synagoge instand zu setzen, der aber aus nicht zu eruierenden Gründen im Sande verlief.(3) Denn einen Schmerz über den Verlust der jüdischen Bevölkerung verspürte gewiss nur eine Minderheit der Deutschen. Außerdem verhinderte die personelle Kontinuität aus der Nazi-Zeit an vielen Stellen in der Gesellschaft lange eine ernsthafte Thematisierung und eine eigene Form von Erinnerungspolitik. Das Gedenken an die Opfer bestand im weitesten Sinne aus formelhaften Sprachhülsen, die an den entsprechenden Gedenktagen in Reden und Texten veröffentlicht wurden. In seinem Roman „Die Bewerbung“, in dem der Protagonist Carsten Schröder auf Spurensuche nach der Nazi-Vergangenheit seines Vaters geht, beschreibt der Autor Manfred Zach es so:
„Niemand in Deutschland wollte noch an das tertium imperium erinnert werden, nachdem es in Rauch und Flammen aufgegangen war. Alles sollte Rauch gewesen sein, Rauch aus Kanonen, aus Krematorien, aus Trümmern. Ein riesiges kollektives Rauchopfer, nach dessen Verglühen sich die Anzünder in Leidensgefährtenschaft mit den Opfern, die sie kurz vorher noch für Tiere gehalten hatten, begaben. Die ununterscheidbare Asche der Toten als Katharsis der Lebenden: Welch elegante Art, das widerwärtige Geschehen hinter sich zu lassen! Wie leicht, wie perfekt, wie schicksalhaft endgültig!“(4)
Erst ab Ende der 1970er Jahre nahmen die von Interesse und Empathie für die Opfer geleiteten dokumentarischen Recherchen und künstlerischen Projekte zu. Allmählich waren die Apparate und Schaltstellen aufgrund ‚biologischer Lösung‘ von alten Nazis befreit und eine neue und unbelastete Generation konnte Fuß fassen. Wie lange eine kritische Behandlung einer einflussreichen Berufsgruppe im Zentrum von staatlicher Macht durch entsprechende Kräfte verhindert werden kann, war unlängst am Beispiel des Auswärtigen Amtes zu sehen. Das hatte sich erst 2005, noch unter Joseph Fischer, durchgerungen, eine Historikerkommission mit einer kritischen Studie zur eigenen institutionellen Verstrickung in die NS-Politik und die Vernichtung der europäischen Juden zu beauftragen. Die umfangreiche Studie erschien Oktober 2010.(5)
Dass es trotz einer vielfältigen Erinnerungskultur immer noch Bereiche gibt, die, über die wissenschaftliche Thematisierung hinaus, in der Kunst erhellend und sinnlich, sowohl eindrucksvoll wie gleichwohl spannend behandelt werden können, zeigen Martin Mühlhoff und Christian Vossiek mit ihrem konzeptuellen Projekt missing synagogues.
Das Künstlerduo begann seine Arbeit im Rahmen eines umfangreichen Dokumentationsprojektes aller Synagogen und Betstuben in Berlin, das von David Paul, einem Richter aus New York mit osteuropäischen jüdischen Wurzeln, 2003 initiiert worden war. Nachdem es sich mangels Förderung zerschlagen hatte, hielten Martin Mühlhoff und Christian Vossiek an ihrem Vorhaben fest und setzten die Dokumentation der zerstörten Synagogen fort.
Unspektakuläre Orte in Berlin: Straßenecken, Häuserzeilen, Parkplätze, Hinterhöfe, Treppenhäuser, Nachkriegsarchitektur und postmoderne Architektur sowie Brachen und Parks. Nicht mehr und nicht weniger ist in der Serie von 46 Fotografien der beiden Künstler zu sehen, die 2004 und 2005 entstand. Es handelt sich um die ehemaligen Standorte der Synagogen der Jüdischen Gemeinde sowie der Synagogenvereine Berlins, wie sie bis zum 9.11.1938 existierten, bevor sie in der Reichspogromnacht den Angriffen der Nationalsozialisten und ihren Unterstützern ausgesetzt waren und teilweise in Rauch aufgingen. Einige bereits von den Nazis beschädigte Synagogen überstanden die Bombardierungen durch die Alliierten im Krieg und wurden erst in den fünfziger und sechziger Jahren abgerissen.(6)
Mühlhoff und Vossiek dokumentieren die Negation einer früheren städtebaulichen Szene und markieren mit ihrer Kamera die Orte der Überbauung und Auslöschung. In diesem Sinne ist ihre fotografische Arbeit eine Suche nach einer verschütteten Historie, über die entweder Beton gegossen wurde oder buchstäblich das Gras gewachsen ist. Es sind nüchterne Bilder. Sie sind technisch perfekt, ohne bizarre Perspektiven oder andere effektheischende Verfremdungen gefertigt. Doch bereits bei der flüchtigen Durchsicht stellt sich ein leicht beunruhigendes Gefühl ein, das beim zweiten Blick einer Gewissheit weicht. Vermutlich, um den Betrachtern eine völlige Konzentration auf den Ort, die Beschaffenheit der Architektur, den Charakter ihrer Nutzung und ihre unmittelbare Umgebung zu ermöglichen, haben die Fotografen tunlichst darauf geachtet, keine Ablenkung durch Passanten zuzulassen, die die Szenen en passant bevölkern könnten. Nahezu gespenstisch wirken deshalb diese Aufnahmen von Orten inmitten einer der größten Städte Deutschlands, obwohl sie häufig an belebten Straßen liegen. Die Passauer Straße 2 mit dem heutigen Parkhaus vom Kaufhaus des Westens befindet sich mitten in der City West und ist üblicherweise stark von Autos und Fußgängern frequentiert. Auch auf dem Bild von der großen Wohnanlage in Friedrichshain in der Gollnowstraße 12 ist keine Person festgehalten. Alle anderen Bilder der Serie sind ebenso menschenleer. Der Titel der Serie ließe sich somit von missing synagogues – bleibt man im englischen Kontext – auf missing men erweitern. Die Abwesenheit von Menschen in den Bildern als konnotative Referenz an die vernichteten jüdischen Menschen wurde somit zum Bestandteil der Serie. Eine Dokumentation der verschwundenen Synagogen wird selbstredend zu einer Referenz an die vernichtete jüdische Kultur als Ganzes und ihre Träger. Dabei geht es den Autoren bei der Dokumentation der Orte früherer Synagogen vermutlich kaum um das religiöse Judentum ausschließlich – zumal die Synagogen im Vergleich zu christlichen Kirchen nicht geweiht sind und eine umfangreichere Funktion als Kommunikationsort über den bloßen Gottesdienst hinaus haben. Die Architektur der Synagogen bis zur Machtübergabe(7) an die Nazis war ein sichtbares Zeichen einer jüdischen Präsenz in einer sowohl von Duldung, Assimilation wie auch Emanzipation und Integration der Juden geprägten Zeit. Im Berlin der Weimarer Republik lebten laut der Volkszählung von 1925 172.672 jüdische Menschen. Bei einer kritischen Würdigung der Tatsache, dass nicht alle sich als Juden zu erkennen gaben und einige ohne festen Wohnsitz waren, scheint eine Zahl von 177.500 realistisch, wie sie 1931 Hubert Pollack, der damalige Leiter des statistischen Büros der Jüdischen Gemeinde in Berlin, schätzte.(8)
Allein 56.000 der Berliner Juden wurden ermordet, ungefähr 90.000 konnten noch rechtzeitig emigrieren. Der Rest tauchte unter oder konnte sich mittels sogenannter ‚Mischehen‘ schützen. Nach dem Krieg (1946) befanden sich noch 7.274 Juden in Berlin.(9) Mühlhoff und Vossiek legen Wert darauf, den heutigen städtebaulichen Kontext der ehemaligen Synagogenstandorte zu erfassen. Obzwar sie mit ihren Fotografien die ehemaligen Orte der Synagogen markieren, ist die ‚Erzählung‘ ihrer Existenz den Bildern nicht sichtbar eingeschrieben. Es bedarf zusätzlicher Daten, um die ‚überschriebene‘ Geschichte als Differenz zu der von den Fotografen erfassten Situation lesen zu können. Jeder der 46 Aufnahmen ist die notwendige Information auf der gegenüberliegenden Seite im Buch beigefügt. Sie umfasst die Träger der jeweiligen Synagoge, die genaue Adresse, den Namen des Architekten, den Zeitraum der Errichtung, das Einweihungsdatum, oftmals die Kapazität, eventuell den Umbau, das Ausmaß der Zerstörung während der Reichspogromnacht, die Kriegszerstörung, das Jahr des Abrisses und gegebenenfalls die heutige Nutzung. Die Diskrepanz zwischen den auf den linken Seiten aufgelisteten textlichen und nummerischen Daten und den auf der rechten Seite reproduzierten Fotografien schaffen den Assoziationsraum, in dem der Betrachter versucht, die Geschichte für sich zu rekonstruieren. Da ihm dabei keine Gegenüberstellung anhand alter Fotografien oder Zeichnungen des zerstörten Gebäudes behilflich sind, werden in dieser ‚Lücke‘ zwischen Textur und Bild unterschiedliche ‚Filme‘ ablaufen, weil sie aus dem individuellen Bildspeicher an die Oberfläche befördert werden. Ob das Material direkt den Kontext der ‚Reichspogromnacht‘ betrifft, oder andere Motive der öffentlichen Demütigung von Juden unter den Augen jubelnder Menschen abgerufen werden, hängt vom jeweiligen Bildkanon des Betrachters ab. Und der ist dank einer reichhaltigen Gedenkkultur groß.
Mit ihrer Spurensuche reihen sich die beiden Künstler in einen größeren Kontext fotografischer wie auch konzeptueller künstlerischer Arbeiten ein, als deren bekannteste Vertreter der Amerikaner Joel Sternfeld und der Franzose Christian Boltanski zu nennen wären. Sternfeld hatte 1993 und 1994 historische Tatorte in den USA dokumentiert und dazu in knappen Angaben die Daten geliefert. Ganz anders und näher an dem von Martin Mühlhoff und Christian Vossiek gewählten Thema war Boltanski mit seinem Berliner Projekt The Missing House im ehemaligen jüdischen Scheunenviertel gewesen. Er thematisierte eine durch die Bombardierung im Krieg entstandene (Bau-)Lücke und markierte die angrenzende Brandmauer mit den recherchierten Namen der Bewohner, den Angaben zu ihren Berufen sowie den Daten ihres Einzugs und bei einigen auch ihres Auszugs. Da sich das Haus im jüdischen Viertel nahe des Alexanderplatzes befand, wurde diese Arbeit unweigerlich zu einem Mahnmal für die Shoah, denn einige Hausbewohner waren 1942, auf dem Höhepunkt der Deportationen, in die Vernichtung ‚ausgezogen‘. Wenn der Filmemacher Claude Lanzmann in seiner epischen Dokumentation Shoah (10) Berichte über die Vernichtung zu Landschaftsaufnahmen montierte, die nichts als idyllische Kiefernwälder und Wiesen zeigen, so legte er damit die Geschichte jener Orte frei.
Der amerikanische Künstler Shimon Attie ließ Anfang der 1990er Jahre das alte jüdische Scheunenviertel in Berlin für einen kurzen Moment sichtbar werden, indem er alte Aufnahmen auf die Gebäude projizierte und die Projektionen in Fotografien festhielt. Der Kölner Künstler Gunter Demnig erinnert dagegen mit seinen als Kleinstdenkmäler konzipierten Stolpersteinen, die er vor den ehemaligen Wohnhäusern von NS-Opfern ins Pflaster einlässt, dauerhaft an die Ausgrenzung und Vernichtung. Die ebenfalls in Köln lebende Sabine Würich hat zwischen 2002 und 2004 ungefähr 100 Kölner Tatorte nationalsozialistischer Gewalt fotografisch dokumentiert und die Bilder mit Zitaten und Texten kombiniert, die die Verbrechen memorieren.(11).
Martin Mühlhoff und Christian Vossiek konfrontieren mit ihrem Projekt missing synagogues Orte im heutigen Stadtbild Berlins mit lang zurückliegenden und architektonisch mehrfach ‚überschriebenen‘ Situationen und Geschehnissen. Sie machen sich ein ‚Bild‘ von der heutigen Situation und so eine verschüttete ‚Erzählung‘ wieder zugänglich.
Autor: Matthias Reichelt
Anmerkungen
(1) Walter Zwi Bacharach: Dies sind meine letzten Worte … Briefe aus der Shoah. Göttingen: Wallstein Verlag 2006, S. 103.
(2) Siehe die umfangreiche Dokumentation des Berlin Museums (Hg.): Synagogen in Berlin. Zur Geschichte einer zerstörten Architektur. Berlin: Willmuth Arenhövel 1983.
(3) Siehe Kunstamt Schöneberg, Schöneberg Museum: Orte des Erinnerns. Bd. 2: Jüdisches Alltagsleben im Bayerischen Viertel. Eine Dokumentation. Berlin: Edition Hentrich 1995, S.107.
(5) Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München: Blessing Verlag 2010.
(7) Da der Begriff ‚Machtübernahme‘ nahelegt, die Nazis hätten die Macht ohne geringste Legitimierung durch die Bevölkerung an sich gerissen, bevorzugt der Autor den Begriff ‚Machtübergabe‘. Dieser Begriff verweist sowohl auf den großen Rückhalt der NSDAP in der Wählerschaft als auch auf die Unterstützung konservativ-bürgerlicher Parteien bei der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler sowie deren Zustimmung beim Reichsermächtigungsgesetz.
(8) Siehe Gabriel E. Alexander: Die jüdische Bevölkerung Berlins in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: Demographische und wirtschaftliche Entwicklung. In: Reinhard Rürup (Hg.): Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien. Berlin: Edition Hentrich 1995, S. 119.