Zur Abschlussausstellung „Traurigsein kommt sowieso – Ein jüdisches Poesiealbum 1938/39“ im Interimsmuseum München/Reichenbachstraße
München, U-Bahnhof Fraunhoferstraße. Irgendwo zwischen Au und Glockenbach steht ein Streifenwagen, der hier beinahe schon Gewohnheit ist. Auf der Höhe der Hausnummer 27 in der Reichenbachstraße dann ein bewachter Eingang, Ausweis und Personenkontrolle, Metalldetektoren – die Schwelle, so scheint es, in eine andere Welt.
Dahinter, jenseits von Verkehrsgeräusch und Szenecafés, ein Gebäudekomplex, der die Spuren vieler Jahrzehnte trägt. Die Synagoge, 1931 für die ostjüdische Glaubensgemeinschaft gegründet und am 20. Mai 1947 als erste nach dem Zweiten Weltkrieg wiedereröffnet, galt damals vielen als Zeichen der Hoffnung auf Zukunft jüdischen Lebens auch im Land der Shoah, und besonders in München. Dennoch ist an diesem Ort wie an keinem anderen sonst spürbar, wie weit entfernt der christlich-jüdische Dialog in Deutschland noch immer von der Normalität ist, wie wenig getragen er ist von einem Klima des Vertrauens und der Sicherheit für beide Gesprächspartner.
Durch ein einfaches Hinterhofgässchen dann gelangt man zu einer kleinen Einrichtung, die im Münchener Kulturbereich jedoch inzwischen zu einer festen Größe avancierte: Das Jüdische Museum. Gegründet 1989 in einer beeindruckenden Privatinitiative des Müncheners Richard Grimm, hatte es zunächst seinen Sitz in der Maximilianstraße, bevor es 1998 im Rückgebäude der Synagoge Einzug hielt, wo es bis zum heutigen Tage von Stadtmuseum und Stadtarchiv München mit Unterstützung der Israelitischen Kultusgemeinde München betrieben wird. Dieser Tage jedoch wird es seine Pforten zum letzten Mal für das Publikum öffnen, und dies glücklicherweise aus einem Anlass, der gleichsam zukunftsweisend und ermutigend ist: demjenigen der Eröffnung des Jüdischen Zentrums St. Jakobsplatz am 22. März 2007. Dieses Projekt, das jüdische Kultur im Herzen Münchens beheimaten und damit eine Brücke zwischen Zukunft und Vergangenheit bauen will, wird auch die Institution des Jüdischen Museums integrieren und einen neuen Ort der Begegnung schaffen. Zeit also für eine Abschlussausstellung, für das Adieu eines Provisoriums, das all sieben Jahre lang seinen Weg durch 12 Ausstellungen mit Mut, Vision und Sachverstand verfolgte.

Poesiealbum der Inge Goldstein, Eintrag von Ruth Pappenheim, April 1938; Quelle: Jüdisches Museum München
„Immer lustig, immer froh, Traurigsein kommt sowieso!“ ein Wort, das beinahe prophetische Qualität hat, bedenkt man die Umstände, unter denen man ihm hier begegnet. „Traurigsein kommt sowieso“ hat deshalb auch Doris Seidel, die Kuratorin, ihr letztes Projekt genannt und greift damit einen durch die Zeiten hindurch bekannten Albenspruch auf, den Inge Berger ihrer Freundin Inge Goldstein 1938 mit auf den Weg gab. Denn im Zentrum der Dokumentation steht als einziges Exponat ein kleines Buch, in dem dreizehn Einträge von nichts anderem erzählen als von kindlicher Sehnsucht nach Normalität, nach einem Leben in und mit der Gesellschaft. Gerade jedoch die Dimension des Privaten ist es, die den Betrachter wiederholt um Fassung ringen lässt, kennt er doch so manches Sprüchlein aus seinen Kindertagen oder findet es heute wieder im Poesiealbum der eigenen Kinder.
Ausgehend von diesem Erinnerungsbüchlein also, entstanden 1938 und treuer Begleiter in der Zeit der Emigration ab Oktober desselben Jahres, werden die Lebensgeschichten der dreizehn Schüler und Schülerinnen und ihres Religionslehrers nachgezeichnet. Elf dieser Kinder besuchten 1938 die Jüdische Volksschule in der Herzog-Rudolf-Straße, zwei weitere Einträge datieren aus der Zeit des Exils, in der neu gewonnene Freundinnen den Text gegen das Vergessen auf Deutsch bzw. Englisch gleichsam fortschrieben. Die kurzen Intervalle und die Hast der Einträge scheinen hierbei bereits ein Anschreiben gegen die Zeit zu belegen, die die Auseinandergerissenen unerbittlich drängte, die vielen leergebliebenen Seiten wiederum mag man in der Retrospektive als voids empfinden, als Platzhalter, die schmerzlich der vielen Opfer gemahnen. Der Stellenwert, den das Album grundsätzlich im Kampf um das Bewahren kindlicher Lebenswelten einzunehmen schien, wird deutlich, wenn man die Vitrine im Hauptraum betrachtet, die dem Betrachter weitere Versbändchen, zum Beispiel von Hilde Rosenbaum, präsentiert. „Euch nehm ich mit!“ war wohl der Gedanke der kleinen Besitzerin, als sie gezwungen war, ihre nötigste Habe für die lange Reise ins Ungewisse einzupacken.

Dritte Klasse 1937/38 an der jüdischen Schule in der Herzog-Rudolf-Straße; Quelle: Stadtarchiv München, Hugo Holzmann
1994 besuchte Inge Wetzstein, geb. Goldstein, mit 65 Jahren noch einmal ihre Geburtsstadt München und schenkte im Folgejahr schließlich dem Jüdischen Museum ihr Poesiealbum, damit es Zeugnis ablegen möge von einem kindlichen Alltag jenseits jeglicher Normalität. Denn obwohl sie lediglich von der Deportation und Ermordung ihres Schulfreundes Günter Hess im litauischen Kaunas mit Sicherheit wusste, stand doch für die dreizehn hier eingeschriebenen Leben Schlimmstes zu befürchten. Im Zuge der Recherche ergab sich dann auch die erschütternde Bilanz: Vier Kinder wurden 1941 nach Kaunas deportiert und dort ermordet, fünf Kindern gelang mit ihren Eltern zusammen die Flucht in die USA, zwei erhielten eine Ausreisemöglichkeit nach Großbritannien, eine Familie machte sich auf den Weg nach Palästina und ein Mädchen überlebte die Zeit der Shoah in München.
Die jüdische Volksschule in der Herzog-Rudolf-Straße, 1924 als öffentliche Bekenntnis-Sonderschule gegründet, wurde zunächst bis 1933 mehrheitlich von Kindern aus Familien orthodoxer Herkunft besucht. Erst die massive Vertreibung jüdischer Kinder aus dem öffentlichen deutschen Schulwesen führte dazu, dass die ursprünglich vierklassige Schule auf acht Jahrgangsstufen erweitert wurde, Klassenstärken und Lehrerzahl wuchsen. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 dann wurde die Einrichtung in direkter Nachbarschaft der orthodoxen Synagoge Ohel Jakob zum Teil so stark zerstört, dass der Unterricht erst wieder im Januar des Folgejahres provisorisch in den Räumlichkeiten von Hort und Kindergarten aufgenommen werden konnte. Der Zeit des Verdrängtwerdens und Gedrängtseins folgte schließlich die des Verlustes, wurden doch diejenigen Kinder, deren Familien keine Ausreise bewirken konnten, ab November 1941 zu großen Teilen deportiert. Als an einem Junitag 1942 schließlich jeglicher weiterer Unterricht verboten wurde, zählte die gesamte Schülerschaft noch dreizehn jüdische Kinder.
Die Ausstellung beleuchtet jedoch nicht nur das Thema jüdischer Kindheit und Jugend im München der Dreißiger Jahre, sondern bemüht sich auch um eine gründliche Darstellung dessen, was diese heute ausmacht. Das Bild der Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart aufgreifend, stellt sie in ihrer letzten Abteilung das Wirken zum Beispiel der Sinai-Grundschule dar und versucht, die vielen Facetten jüdischer Kindheit und Jugend zu porträtieren, die in München als zweitgrößter jüdischer Gemeinde glücklicherweise wieder beheimatet sind. Da das Wissen um die andere Kultur aber bei den Kindern Brücken baut, die über den Tag hinausgehen, widmet sich die Ausstellung nicht nur thematisch, sondern auch medial den Kindern. Da werden Ratespiele angeboten, bei denen es auch etwas zu gewinnen gibt, und auf die Kinder im Vorschulalter warten Ausmalangebote mit Bezug zu jüdischen Festen.
Begleitet wird diese Dokumentation von einem Filmabend am 16. Februar 2006, 19 Uhr im Filmmuseum (Eintritt 4 Euro), an dem Peter Lilienthals „David“ (1978/79) zu sehen sein wird. Aus der Perspektive des Rabbinersohnes wird hier eine Familiengeschichte im Berlin zur Zeit des erstarkenden Nationalsozialismus skizziert und dargestellt, was es insbesondere für die Jüngsten bedeutete, allein und haltlos in Dunkel und Ahnungslosigkeit zu existieren, mit einer Lücke im Leben, die auch später nie mehr geschlossen werden kann. Ein Podiumsgespräch zum Thema „Jüdische Kindheit während der NS-Zeit“ (22.02.2006, 19 Uhr im Vortragssaal der Münchener Stadtbibliothek), und kostenlose Führungen der Kuratorin Frau Seidel (am 9. Februar, am 9. März und am 6. April 2006, jeweils ab 18 Uhr) beschließen das Programmangebot.
Mit diesem Lebewohl bleibt das kleine jüdische Interimsmuseum seinem bisher auch schon sehr persönlichen Anspruch treu und schreibt sich tief in die Herzen und Köpfe seiner Anhängerschaft ein, für die sich die Vorfreude auf das kulturelle Miteinander am Jakobsplatz selbstverständlich auch mit einem kleinen sentimentalen Gefühl mischt. Die Flamme der Erinnerung, sie wird übergeben an das neue jüdische Museum im Jakobsplatz, das sich ebenfalls der Herausforderung zu stellen hat, Bewahrer jüdischer Identität zu sein. Denn weit über allgemeine museumsdidaktische Theorien hinaus kommt dem jüdischen Museum die fundamentale Funktion des kollektiven Gedächtnisses zu, muss es doch den Dialog dreier Generationen rekonstruieren. Seine wichtigste Aufgabe wird es sein, immer wieder unermüdlich die Lücken aufzuzeigen, die infolge von Massenmord und Emigration, von Traumatisierung und Sprachverlust auch der nachfolgenden Generationen klaffen. Mit dem wenigen an Dokumentationsmaterial, das vor der Vernichtung gerettet werden konnte, den Opfern und ihren Angehörigen eine Stimme zu verleihen. Und einen Ort anzubieten, auch für die Trauer und deren Bewältigung.
Diesen Weg konsequent zu gehen, bedeutet aber nicht zuletzt, jüdisches Leben als festen Bestandteil unserer Gesellschaft zu etablieren und so dafür Sorge zu tragen, dass die Öffentlichkeit selbst ein wachsames Auge hat. Dass Zivilcourage die Polizeikontrollen eines Tages vielleicht wirksam ersetzten kann. Und wo anders sollte man damit anfangen als bei den Kindern?
Zu sehen von 24. Januar bis 27. April 2006 in den Räumen des Jüdischen Interimsmuseums, Reichenbachstraße 27, 80469 München.
Öffnungszeiten: Di 14–18h, Mi 10–12h und 14– 18h, Do14– 20h Eintritt frei
Kontakt: Jüdisches Museum München, Frau Doris Seidel, Tel. 08920 00 96 93
Kostenfreie Führungen: 9. Februar, 9. März und 6. April 2006, 18h
Autorin: Michaela Gröner lebt und arbeitet als freie Redakteurin und Lektorin in München. Die Beschäftigung mit jüdischer Kultur und Geschichte zählt gleichermaßen zu ihren beruflichen wie persönlichen Schwerpunkten. Jeder Nachdruck dieses Textes, auch auszugsweise, bedarf der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung der Autorin.
Links
Offizielle Seite des Jüdischen Interimsmuseums
http://www.muenchen.de/Rathaus/kult/museen/juedisch/150482/poesie.html (Seite nicht mehr abrufbar / 27. Januar 2017)
Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern:
http://www.ikgmuenchen.de/index.php?id=59
Offizielle Seite des Jüdischen Zentrums am St. Jakobsplatz
http://www.juedischeszentrumjakobsplatz.de/
Mit Unterstützung von Gegen Vergessen – für Demokratie e. V.
http://www.gegenvergessen.de/
Aktion Paten für Toleranz
http://www.patenfuertoleranz.de/