Eine Kontroverse durchzieht die historische Antisemitismusforschung von Beginn an. Einige Historiker unterscheiden zwischen einem religiös motiviertem Antijudaismus der Vormoderne und einem überwiegend rassistisch motivierten Antisemitismus in der Moderne. Andere Historiker lehnen diese Unterscheidung ab und betonen, dass auch der moderne Antisemitismus christliche Wurzeln habe. Dem zweiten Lager ordnet sich die Studie von Tilman Tarach zu. Im Unterschied zu anderen in diese Richtung zielenden Veröffentlichungen begnügt sich der Autor nicht mit anthropologischen oder mentalitätsgeschichtlichen Spekulationen, sondern versucht, die Kontinuität zwischen Antijudaismus und Antisemitismus an einem breiten kulturgeschichtlichen Quellenspektrum nachzuweisen.
Davon ausgehend, dass der Antisemitismus eine „Konstante in der christlichen Geschichte“ (S. 16) sei, widmet sich der Autor zunächst den klassischen mittelalterlichen Vorwürfen gegen die Juden, die sich in Kirche, Theologie und Volksfrömmigkeit entfalteten und vom monastischen Klerus verbreitet wurden. Doch Christusmord, Hostienschändung, Antitalmudismus, Brunnenvergiftung und Ritualmord tauchten als Motive auch im modernen Antisemitismus auf – teilweise in ihrem klassischen religiösen Kontext, teilweise als adaptierte Metaphern jüdischer „Schädlichkeit“. Letzteres demonstriert der Autor vor allem an Karikaturen aus Julius Streichers „Stürmer“. Tarach widerspricht zu Recht der Annahme eines Paradigmenwechsels von der Religion zum Rassismus im Kontext von Aufklärung und Säkularisierung. Beides habe sich nicht ausgeschlossen. So forderten bereits die limpieza-de-sangre-Gesetze im frühneuzeitlichen Spanien die „Reinheit des Blutes“ von Kandidaten für weltliche und geistliche Ämter. Da die Kirchen ihre eigene judenfeindliche theologische Tradition vor 1945 nicht hinterfragten, blieben sie unfähig, ein moralisches Gegengewicht zum Holocaust in die Waagschale zu werfen. Kirchliche Dienststellen unterstützten die Nationalsozialisten bei der Erstellung von Ariernachweisen durch die Auswertung von Kirchenbüchern. Und selbst die Bekennende Kirche konnte sich nur dazu durchringen, Konvertierte und „Mischehen“ zu schützen. Die „echten“ Juden hätten durch Gottes Verwerfungsurteil und die hartnäckige Verweigerung der Konversion das Unheil selbst heraufbeschworen. Obwohl sich die Nationalsozialisten bei der Gleichschaltung kirchlicher Strukturen und konservativer konfessioneller Milieus schwer taten, konnten sie deren Judenfeindlichkeit für sich nutzen. Wie Tarach schon am Coverbild eindrucksvoll zeigt, war der Antisemitismus im Dritten Reich keineswegs atheistisch oder antichristlich, sondern bezog die antijudaistische Tradition der Kirchen geschickt in die Propaganda ein.
Ist der christliche Antisemitismus durch die Abwendung der Kirchen von ihrer judenfeindlichen Theologie überwunden? Tarach ist der Ansicht, er habe sich lediglich transformiert und nutze heute Israel als Projektionsfläche, um weiterhin sagbar zu bleiben. Auf der einen Seite stehen Evangelikale, die sich nach außen philosemitisch geben. Doch ihre bedingungslose Unterstützung Israels entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als eine Fortsetzung von alten christlichen Dogmen und Superioritätsansprüchen. Auf der anderen Seite haben sich palästinensische Extremisten und Terroristen sowie ihre Sympathisanten im Westen Motive, Symboliken und Argumentationsmuster des christlichen Antisemitismus angeeignet.
Drei Kritikpunkte kann man Tarachs Studie nicht ersparen. Erstens hält der Autor die Judenfeindlichkeit der vorchristlichen Antike nicht für traditionsstiftend und schiebt sie leichtfertig beiseite. (S. 12) Wenn allein das Christentum für Entstehung und Ausformung des Antisemitismus durch die Jahrhunderte maßgebend war und es im Zeitalter der Säkularisierung blieb, könnten Atheisten und Muslime nur Antisemiten sein, indem sie unbeabsichtigt christlichen Dogmen auf den Leim gehen. Zweitens gerät der Autor in eine methodische Falle, in die bereits zahlreiche andere kulturgeschichtliche Studien getappt sind. Sprachliche und symbolische Analogien an Zeitpunkt A und Zeitpunkt B sind noch kein Beleg für eine kontinuierliche Tradierung zwischen A und B. Hostienfrevel und Ritualmordlegende verschwanden im 17. und 18. Jahrhundert weitgehend aus West- und Mitteleuropa, um mit dem Aufkommen des modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert wieder populär zu werden – diesmal sogar an Orten (Osteuropa, Naher Osten), wo sie keine kulturelle Tradition hatten. Das spricht eher für eine „Erfindung von Tradition“ (Eric Hobsbawm) durch die Antisemiten und gegen weit ausgreifende Kontinuitätsthesen. Religiös motivierte Judenfeindlichkeit war seit dem 19. Jahrhundert kein fortgesetzter mentaler Traditionsüberhang aus dem Mittelalter, sondern formierte sich als ein modernes Phänomen völlig neu. Im Mittelpunkt stand nun die Identifizierung des Judentums mit einer gefürchteten und verhassten säkularen Moderne, nicht die mittelalterlichen exegetischen Märchenstunden eines Martin Luther oder Johannes Eck. Drittens stellt Tarach die kühne These auf, dass allein schon die Unterscheidung zwischen einem vormodernen christlichen Antijudaismus und einem modernen Antisemitismus eine „Entlastungsstrategie“ (S. 9) sei. Blickt man auf die Ergebnisse der vatikanischen Historikerkommission, ist das gewiss zutreffend. (S. 187f.) Doch die Argumente der Antisemitismusforschung für eine solche Unterscheidung nimmt der Autor gar nicht zur Kenntnis. Die identitätspolitische Zuordnung von Kontinuitätsthesen zu jüdischen Forschern und der Leugnung solcher Thesen zu christlichen Forschern, ist schlicht falsch. Im Literaturverzeichnis fehlen die bahnbrechenden Studien von Uriel Tal, Kurt Nowak, Olaf Blaschke und Wolfgang Heinrichs zum Verhältnis von Antisemitismus und Konfession ebenso wie Derek Hastings Arbeit zum Verhältnis der frühen NSDAP zum Katholizismus. Anlässlich des Reformationsjubiläums erschienen zahlreiche Studien zu Martin Luthers Judenfeindlichkeit und ihrer Rezeption in den folgenden Jahrhunderten. Auch sie wurden ausweislich des Literaturverzeichnisses nicht genutzt. Vieles, was Tarach als Neuentdeckung oder gar Aufdeckung von „Verleugnetem“ ausgibt, ist längst ein alter Hut – wenn auch vielleicht noch nicht bei jedem seine Institution schützenden Kirchenhistoriker angekommen.
In der Summe wertet Tarachs Buch viele interessante Quellen zur christlichen Grundierung des Antisemitismus aus. Dem durchaus seriösen Umgang mit den gut ausgewählten Quellen stehen dann leider manche unhaltbare Thesen und die Skandalisierung von Bekanntem gegenüber. Wenn das Buch aber dazu anregt, genauer auf religiöse Elemente im modernen Antisemitismus zu schauen, hat es seine Aufgabe erfüllt.
Autor: Thomas Gräfe
Tilman Tarach, Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus, Freiburg 2022.