Bis vor wenigen Jahren galt es als Lehrbuchwissen, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Antisemitismus in den 1940er Jahren vor dem Hintergrund des Holocausts einsetzte und von der „Kritischen Theorie“ initiiert wurde.[1] Angesichts der unzähligen wiederentdeckten Vorläufer, ist es mittlerweile nicht mehr haltbar, die Antisemitismusforschung erst mit ihrer akademischen Etablierung beginnen zu lassen. Wie bereits die Sammelbände von Hans-Joachim Hahn und Olaf Kistenmacher sowie die von Birgit Erdle und Werner Konitzer herausgegebene Quellenedition beweisen, entstanden die ersten Antisemitismustheorien parallel zur Ausbreitung des modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert in ganz Europa, vorwiegend aber in Deutschland, Österreich und Frankreich.[2]
Franziska Krah konzentriert sich in ihrem Buch auf die Beiträge deutscher (d.h. mit wenigen Ausnahmen deutsch-jüdischer) Forscher, die zwischen 1901 und 1933 publiziert wurden. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen Heinrich Coudenhove, Constantin Brunner, Julius Goldstein, Arnold Zweig, Fritz Bernstein und Michael Müller-Claudius, die zunächst in Kurzbiographien vorgestellt werden. Wo es sich anbietet, werden auch Arbeiten anderer Theoretiker diskutiert, wie Norbert Elias, Franz Oppenheimer, Felix Goldmann, Adam Röder, Erich Kuttner und Matthias Mises. Krah konstatiert, dass die frühe Antisemitismusforschung stark politisiert und nur schwer vom anti-antisemitischen Kampfschrifttum unterscheidbar war. (S. 74-84) Die zeitgenössischen Antisemitismustheoretiker waren überwiegend akademische Außenseiter oder Privatgelehrte. Dies hängt zum einen mit der starken Verbreitung des Antisemitismus an den Universitäten und im Bildungsbürgertum zusammen. Zum anderen standen die relevanten geisteswissenschaftlichen Forschungsdisziplinen Politologie, Soziologie und Psychologie erst am Anfang ihrer Akademisierung. Während die wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung Krahs überzeugt, bleibt die Darstellung des politischen Kontexts (Judenemanzipation, Verbürgerlichung, moderner Antisemitismus, völkische Bewegung, „Judenfrage“-Diskurs, Instabilität der Weimarer Republik) lückenhaft.
Umso ausführlicher fällt die ideengeschichtliche Analyse aus. Die Konkurrenz zwischen einem weiten und einem engen Antisemitismusbegriff begleitet die Antisemitismusforschung offenbar schon von Beginn an. Vertreter eines weiten Antisemitismusbegriffs, wie Coudenhove und Mises, subsumierten darunter auch die vormoderne Judenfeindschaft und tendierten dazu, eine Kontinuität religiöser Motive in die Moderne hinein anzunehmen.[3] Die meisten Antisemitismustheoretiker unterschieden hingegen zwischen vormodernem Antijudaismus und modernem Antisemitismus, der nicht mehr auf einen Religionsgegensatz zurückzuführen sei, sondern sich überwiegend auf Rassentheorien stütze. Deshalb suchten die Forscher bevorzugt in Soziologie und Psychologie nach Erklärungsansätzen und griffen teils explizit auf die Standardwerke von Georg Simmel, Gustave Le Bon, Sigmund Freud und Alfred Adler zurück. Bis in die 1920er Jahre erfreute sich die Gruppensoziologie großer Beliebtheit, die den Antisemitismus als eine Frage von Inklusion in und Exklusion aus Gemeinschaften beleuchtete. Dabei blieb umstritten, ob es sich um einen ethnischen Realkonflikt handelte (so u.a. Fritz Bernstein) oder um eine Gruppenkonstellation, die sich allein aus den willkürlichen Definitionen der Antisemiten ergab (so u.a. Constantin Brunner). Die Stärke der Gruppensoziologie ist es, auf andere Mehrheits-Minderheits-Konflikte übertragbar zu sein. Dies ist aber auch zugleich ihre Schwäche, denn, mit Ausnahme des Verweises auf die Diasporasituation, gibt sie wenig Auskunft über die Auswahl der Juden als Feindbild. (S. 134-157) Hier setzten die psychologischen Erklärungsmodelle an, indem sie Projektion und Kompensation als psychopathologische Mechanismen der Feinbildkonstruktion identifizierten. Unter Projektion versteht man die Abspaltung negativer Eigenschaften des Selbst und deren Übertragung auf andere Personen oder Gruppen. Projektion stehe in Abhängigkeit zum Bedürfnis nach Kompensation, d.h. sie erfolge als Reaktion auf Deprivationserfahrungen. Große Abweichungen und begriffliche Unsicherheiten gab es dann allerdings bei den Diagnosen (Psychose, Neurose, Narzissmus, Minderwertigkeitskomplex), die die Antisemitismusforscher stellten. Zudem blieb umstritten, ob die Pathologie eher auf der Ebene von Individuum oder Gesellschaft zu verorten sei. Mit der damals noch unterentwickelten Sozialpsychologie war das nicht zu klären. Die wichtigste bleibende Erkenntnis der psychologischen Forschungstradition ist, dass es sich beim Antisemitismus um eine Form des „Symboldenkens“ (Müller-Claudius) handelt. Der Antisemit konstruiere ein im Wahn und nicht in der Wirklichkeit verankertes Judenbild und übertrage es auf die wirklichen Juden. (S. 202-244) Diese Erkenntnis ist folglich nicht erst durch Jean-Paul Sartres berühmten Essay in die Welt getreten.[4]
Die frühe Antisemitismusforschung befasste sich aber nicht nur mit der kruden Ideenwelt des Antisemitismus, sondern auch mit seinem rationalen Aspekt, d.h. der Formierung als politische und soziale Bewegung. Als solche diene er der politischen Mobilisierung und Manipulation, insbesondere der Kaschierung handfester sozioökonomischer Klasseninteressen des Adels gegenüber dem Bürgertum oder des Bürgertums gegenüber dem Proletariat. Wenn Krah dennoch zu dem Ergebnis gelangt, dass die Forschung erst ab den 1940er Jahren „gesellschaftliche Prozesse stärker in ihre Analysen einband“ (S. 423), so ist das allein der Quellenauswahl der Autorin geschuldet. Denn die (neo)marxistische Forschungstradition hat kein eigenes Kapitel erhalten und ist allein durch Karl Kautsky vertreten. Das ist insofern ein Mangel, als sie durch die Anbindung an die Publizistik der Arbeiterbewegung eine größere Breitenwirkung in nichtjüdischen Kreisen erreicht haben dürfte als die von Krah diskutierten Schriften, für deren Verbreitung überwiegend jüdische Verbände und Verlage sorgten. Man kann neomarxistischen Autoren viele Reduktionismen und Fehleinschätzungen vorwerfen, doch mit Krisentheorie, „Fetischisierung“ und halbiertem Antikapitalismus lieferten sie Erklärungsmodelle, die heute – vermittelt durch die „Kritische Theorie“ – zum Mainstream der Antisemitismusforschung gehören, in Krahs Buch aber mit keinem Wort erwähnt werden.[5]
Während die soziologischen und psychologischen Erklärungsmodelle sich am neuesten Stand der damaligen Forschung orientierten (und teils bis heute nicht überholt sind), zeigte sich bei der Analyse des Zusammenhangs von Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus, dass die meisten Antisemitismusforscher hier nicht aus konventionellen Denkweisen heraustraten. Sie teilten durchaus einige nationalistische und rassentheoretische Grundannahmen, um nachzuweisen, dass Nationalstolz und Rassenforschung auch ohne Judenfeindlichkeit auskommen könnten. Der essentialistische Gehalt von Nation und Rasse wurde selten komplett bestritten, sondern eher milieutheoretisch relativiert. Zionisten wie Elias Auerbach und Ignaz Zollschan gingen gar selbst von der Existenz einer jüdischen Rasse aus, um damit die Assimilation anzugreifen und die Notwendigkeit eines Judenstaats zu untermauern. Die Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Nationalismus oder zwischen wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Rassentheorien erscheint aus heutiger Perspektive inkonsequent, galt den damaligen Theoretikern aber als Chance, die Antisemiten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.[6] Positiv hervorzuheben ist, dass Krah im Unterschied zu vielen anderen Historikern und Soziologen die Verbindung des Antisemitismus mit Nationalismus und Rassismus in ihrer historischen Genese beleuchtet und nicht einfach als gegeben voraussetzt. (S. 244-319)
In einem abschließenden Kapitel untersucht Krah, welche Rückschlüsse die Antisemitismusforscher von ihren Theorien auf die praktische Bekämpfung des Antisemitismus zogen. (S. 337-410) Mehrfach bemängelt sie das Fehlen empirischer Studien. (S. 75, 319) Tatsächlich lag jedoch durch journalistische Intellektuellenbefragungen ausführliches empirisches Material vor, auf das die Theoretiker allerdings nicht zurückgriffen. Eher muss folglich von einer mangelnden Verbindung zwischen Theorie und Empirie gesprochen werden, was bis heute für die Antisemitismusforschung charakteristisch geblieben ist.[7] Die Antisemitismusforscher waren sich einig, dass der Antisemitismus ein Problem der Mehrheitsgesellschaft sei, doch vor allem die gruppensoziologischen Studien erteilten in Form von Assimilation oder Zionismus Handlungsempfehlungen für die jüdische Minderheit. Die Trennung zwischen Antisemitismusforschung und „Judenfrage“-Diskurs wurde selten konsequent durchgehalten. Konkrete Konzepte für die Bildungsarbeit wurden erst spät erwogen und blieben vage, weil man realistischerweise nicht auf die Unterstützung staatlicher Bildungseinrichtungen hoffen konnte. Einige der soziologischen und alle psychologischen Antisemitismustheorien zweifelten die Wirksamkeit von Aufklärung und Bildung in grellem Kontrast zum heute vorherrschenden naiven Bildungsoptimismus an, konnten allerdings keine Alternativen benennen. Zum Pessimismus dürfte auch beigetragen haben, dass sich die Autoren ihrer mangelnden Breitenwirkung bewusst waren. An Auflagenzahlen und Rezensionen zeigt Krah, dass als potenzielle Leser allenfalls jüdische Kreise oder ein winziges linksbürgerliches Milieu in Betracht kamen, d.h. Personen, die ohnehin nicht gefährdet waren, Antisemiten zu werden. (S. 393-410) Hier wäre ein Vergleich mit der zeitgenössischen völkisch-antisemitischen Literatur angebracht gewesen, die weit erfolgreicher war, Leser außerhalb der eigenen Resonanzkammer für sich zu interessieren. Dabei kann man ein Vorherrschen antisemitischer Mentalitäten, wie es Krah implizit tut, nicht als Naturgesetz annehmen, da es zumindest vor 1918 ein breites Meinungsspektrum zwischen Antisemitismus und Anti-Antisemitismus gab. Damit ist zugleich der wichtigste Unterschied zur heutigen Antisemitismusforschung angesprochen. Sie kann durch empirische Meinungsforschung auch schicht-, alters- und geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesse und das Dunkelfeld der Zwischenpositionen erfassen, während die älteren Theorien einen statischen Dezisionismus pflegen. (D.h. man entscheidet sich, Antisemit zu sein oder eben nicht. Alle anderen gelten als indifferent oder latent antisemitisch.) Die Neigung der frühen Antisemitismustheoretiker zum soziologischen oder psychologischen Strukturdeterminismus mit der Dynamik und Kontingenz historischen Wandels zu kontrastieren, hätte der Studie gut getan, allerdings nichts an ihrem Ergebnis geändert. Zu Recht resümiert Krah, dass es an Wissen über den Antisemitismus nicht mangelte, wohl aber an wirksamen Strategien der Wissensvermittlung und Antisemitismusbekämpfung.
Autor: Thomas Gräfe
Franziska Krah, „Ein Ungeheuer, das wenigstens theoretische besiegt sein muß“. Pioniere der Antisemitismusforschung in Deutschland, Frankfurt a.M. 2016.
Anmerkungen
[1] So noch Werner Bergmann/ Mona Körte (Hg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004; Samuel Salzborn, Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt a.M. 2010, S. 22f.
[2] Hans-Joachim Hahn/ Olaf Kistenmacher (Hg.), Beschreibungsversuchen der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944, Berlin 2015; Dies. (Hg.), Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft II. Antisemitismus in Text und Bild – zwischen Kritik, Reflexion und Ambivalenz, Berlin 2019; Birgit Erdle/ Werner Konitzer (Hg.), Theorien über Judenhass – Eine Denkgeschichte. Kommentierte Quellenedition (1781-1931), Frankfurt am Main 2015.
[3] Gegen diese Schule hat Shulamit Volkov zu Recht eingewandt, dass sie Ursprung und Ursache verwechsle. Vgl. Shulamit Volkov, Germans, Jews and Antisemites. Trials in Emancipation, Cambridge 2006, S. 67-90.
[4] Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek 1994. (zuerst 1945)
[5] Konstantin Baehrens, Antisemitismus als „Fetischisierung“. Monographien von Otto Heller, Eernst Ottwald und Hand Günther um 1933, in: Markus Börner/ Anja Jungfer/ Jakob Stürmann (Hg.), Judentum und Arbeiterbewegung. Das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018, S. 319-326.
[6] Ähnlich Veronika Lipphardt, Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900-1935, Göttingen 2008.
[7] Salzborn, Antisemitismus als negative Leitidee, S. 11; Thomas Gräfe, „Was halten Sie von den Juden?“ Umfragen über Judentum und Antisemitismus 1885-1932, Norderstedt (2.Aufl.) 2020.