Constantin Brunner widmete sich als Privatgelehrter in den 1920er Jahren der Erforschung des zeitgenössischen Antisemitismus, den er als ein fehlgeleitetes Hassbedürfnis begriff. Brunners Kritik beschränkte sich aber nicht auf den Antisemitismus selbst. Er nahm auch die Zionisten ins Visier, die seiner Meinung nach „jüdische Antisemiten“ seien.[1]War der Zionismus tatsächlich eine jüdische Adaption des völkischen Nationalismus, wie heute vor allem seine linken und muslimischen Kritiker behaupten und weshalb ihn Rechtspopulisten mit vergiftetem Lob überschütten? Dieser Frage widmet sich die Studie von Stefan Vogt, indem sie erstmals das widersprüchliche Verhältnis zwischen Zionismus und deutschem Nationalismus zwischen 1890 und 1933 untersucht. Dabei wendet der Autor neue Erkenntnisse der Nationalismusforschung und der postcolonial studies produktiv auf zionistische Quellen an.
Vor allem der Kulturzionismus um Martin Buber und Robert Weltsch bediente sich ausgiebig im Repertoire von idealistischer Philosophie, Romantik, Fin-de-Siècle-Zivilisationskritik und sogar bei Ideologieelementen der völkischen Bewegung. Essentialistische Vorstellungen von Rasse und Volk wurden aus diesen Quellen übernommen, um den Anspruch der Juden zu untermauern, eine eigene Nation zu sein. Doch Vogt zeigt, dass sich der Zionismus damit nicht einfach in den zeitgenössischen Ethnonationalismus Ostmitteleuropas einreihte. Vielmehr agierten die Zionisten aus einer subalternen Außenseiterrolle heraus. Sie versuchten, die diskriminierende Wirkung des Nationalismus der Mehrheitsgesellschaften auszuhebeln, indem sie sich seiner eigenen Logik bedienten. Anthropologische Aussagen über das Wesen der „jüdischen Rasse“ wurden nicht abgelehnt, sondern für die Erfindung der jüdischen Nation produktiv gemacht. Daneben erkennt Vogt aber auch einen gravierenden Unterschied zwischen Kulturzionismus und völkischem Nationalismus. In der kulturzionistischen Publizistik, insbesondere in „Ost und West“, „Der Jude“ und „Jüdische Rundschau“, verband sich das volks- bzw. rassenbasierte Nationsverständnis nicht mit einem Hegemonieanspruch, sondern behielt humanistische und universalistische Grundsätze bei. Mit einer ähnlichen Strategie schrieben sich die Zionisten in den Orientalismusdiskurs ein. Man pflichtete der Klassifizierung der Juden als „deutsch sprechende Orientalen“ (Heinrich von Treitschke) bei, wertete diese Herkunft aber als vitalistisches Rassenerbe positiv um.
Während die Kulturzionisten mit ihrer Abwehr der „inneren Kolonialisierung“ (d.h. der Assimilation) in Europa den radikalen Flügel der Bewegung bildeten, waren die Verhältnisse in Palästina anders. Im Gegensatz zu den politischen Zionisten setzte man nicht darauf, das Osmanische Reich bzw. die britische Kolonialmacht zu beerben, sondern bemühte sich unter den Vorzeichen des Orientalismus um einen Ausgleich mit den Arabern (z.B. in der Bewegung Brit Schalom). Die zunehmenden Konflikte mit dem arabischen Nationalismus ließen diesen Ansatz scheitern. Zudem traten die Zionisten in Palästina selbst als „Kolonisierer“ auf und orientierten sich dabei explizit an Erfahrungen aus dem deutschen Kolonialismus und der preußischen Ansiedlungspolitik in Posen und Westpreußen. Mit dem Ersten Weltkrieg und dem Aufstieg des Nationalsozialismus änderten sich auch die Verhältnisse in Europa. Die Teilnahme der Zionisten an völkischen Diskursen um Rasse, Volk und Nation hatte die zunehmende Ausbreitung und Radikalisierung des Antisemitismus nicht verhindern können. Wenn die Zionisten von der radikalen Rechten überhaupt wahrgenommen wurden, dann als „Kronzeugen“ (S. 338) ihrer eigenen Exklusionsforderungen. Einerseits brachten die zunehmenden Anfeindungen einen Bedeutungsgewinn des Zionismus unter den deutschen Juden mit sich. Andererseits entstand das Bedürfnis, sich aus der selbstreferentiellen Logik völkischer Diskurse zu befreien, indem man beispielsweise Gedankengut des ethischen Sozialismus aufgriff und damit anschlussfähig an den rechten Flügel der SPD wurde. Dennoch vollzogen die Zionisten keinen Bruch mit den Grundannahmen des völkischen Nationalismus, wie ihre vergeblichen Versuche zeigen, mit den Vertretern der „Konservativen Revolution“ ins Gespräch zu kommen.
Stefan Vogts konsequente Einordnung des Zionismus in das diskursive Feld des deutschen Nationalismus ist für Historiker aus der Antisemitismusforschung und der deutsch-jüdischen Geschichte gewöhnungsbedürftig. Sie ist dennoch sinnvoll, weil sie den ideengeschichtlichen Entstehungszusammenhang insbesondere des Kulturzionismus ausleuchtet und hilft, das unhistorische oder geschichtspolitisch tendenziöse Zionismusbild der nichtakademischen Öffentlichkeit zu korrigieren. Untersucht wird allerdings nur die Positionierung nach außen gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Unterbelichtet bleibt die Positionierung nach innen gegenüber den assimilationswilligen Juden. Bis in die Weimarer Republik hinein war Deutschland allenfalls ein intellektuelles Zentrum des Zionismus, der seine mobilisierende Wirkung mehr in Osteuropa entfaltete. Es gab unter den deutschen Juden mehr deutsche als jüdische Nationalisten. Diese innerjüdische Kommunikationssituation wird von Vogt zwar benannt, aber bei der Auswertung der Quellen nicht immer mitgedacht. Die Gegenposition des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens wird von Vogt nur durch die zionistische Brille wiedergegeben und daher entgegen des Forschungsstandes als bedingungslose Assimilationsbereitschaft gedeutet. Hier hat die Studie eine offene Flanke. Die These von der subalternen Positionierung gegenüber dem deutschen Nationalismus müsste zu einer doppelten subalternen Position erweitert werden, die der Zionismus gegenüber der Mehrheitsgesellschaft einerseits und gegenüber der deutsch-jüdischen Community andererseits einnahm.
Autor: Thomas Gräfe
Literatur
Stefan Vogt, Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890-1933, Göttingen: Wallstein Verlag 2016.
Anmerkungen
[1]Jacques Aron, Brunners Antizionismus im historischen Kontext, in: Irene Aue-Ben-David/ Gerhard Lauer/ Jürgen Stenzel (Hg.), Constantin Brunner im Kontext. Ein Intellektueller zwischen Kaiserreich und Exil, Berlin 2014, S. 254-268.