Josef Stalins Begräbnis im März 1953. Trauerfeiern und Besonderlichkeiten in der Sowjetunion des Diktators.
In der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November 1961 wurde der Leichnam Stalins aus dem Mausoleum am Moskauer Roten Platz entfernt – und zur Kreml-Mauer umgebettet. Details enthalten die unlängst publizierten Memoiren („Durch die Jahre“ /Skvoz‘ gody/, Tula 2020) des KGB-Vizechefs Generaloberst Nikolaj Zacharov (1909-2002), damals Leiter der 9. KGB-Direktion („Schutz der Führer von Partei und Staat“), der auf Weisung Chruṧčëvs die Umbettung Stalins leitete und einen interessanten Einblick in den Personenkult um den Diktator gibt.
„DER KOMMANDANT DES MAUSOLEUMS WEISS, WO DAS GRAB ZU SCHAUFELN IST“
Vom 17. bis 31. Oktober 1961 fand im Kreml der 22. Parteitag der KPdSU statt, im gerade errichteten Kongress-Palast. Es schien, als käme das Land nach dem Schock der Enthüllung von Stalins Verbrechen wieder zur Besinnung.[1] Noch stand die Kritik des Personenkults im Zentrum der Aufmerksamkeit, aber die Redner legten sich nicht so ins Zeug wie wenige Jahre zuvor. Auch trugen zahlreiche nachfolgende Dokumente, die sich mit der Aufdeckung der Verbrechen jener Jahre befassten, wieder den Vermerk „Geheim“. Im Lande musste unbedingt einer Furcht vor der Rückkehr der Vergangenheit begegnet werden. Die Frage einer Umbettung Stalins war schon mehrfach aufgetaucht. Offenkundig wurde deshalb auf dem Parteitag ein Beschluss vorbereitet, den Sarkophag Stalins aus dem Mausoleum zu entfernen und seine sterblichen Überreste an der Kreml-Mauer beizusetzen.[2]
Wir sprachen mit dem Kreml-Kommandanten General-Leutnant Andrej J. Vedenin über einen anzufertigenden Beschluss und erfuhren, dass der Parteitag schon längst einen entsprechenden Erlass gefasst hatte. Am letzten Tag des Parteiforums bat uns vor Arbeitsbeginn N.S. Chruṧčëv ( Nikita Chruschtschow) ins Präsidialbüro um uns zu verkünden: „Ich bitte Sie zu bedenken, dass heute ein Beschluss des Parteitags über die Umbettung Stalins erfolgt. Der Platz ist bereits bestimmt. Der Kommandant des Mausoleums weiß, wo die Grube zu schaufeln ist. Auf Beschluss des Politbüros des ZK der KPdSU wurde eine Kommission aus fünf Mitgliedern gebildet, Leiter ist Švernik[3], dann KP-Sekretär Georgiens Mžavanadzde, der Minister-Präsident Georgiens Džavachniṧvili, Minister Šelepin, Parteichef Moskaus Demičev und Dygaj, Präside des Moskauer Stadtrats. Es ist unerlässlich, dass die Umbettung ohne Lärm (bez ṧuma) verläuft, alles muss heute Abend beendet sein“. Danach empfing uns Švernik und verriet uns, wie man die Umbettung tarnen werde. Am 7. November stünde doch die Parade auf dem Roten Platz an, und weil diese zuvor geprobt wird, kann der Rote Platz so hermetisch abgeriegelt werden, dass niemand hindurch kommt.[4]
Seit einiger Zeit war unverkennbar, dass die Partei- und Staatsführung Stalin umgehend aus dem Mausoleum entfernen wollte. Als Exekutor wählte man den Leningrader Parteichef Ivan V. Spiridonov (1905-1991), der als Unterstützer die notwendigen „Delegationen Werktätiger“ aus Leningrader Fabriken mobilisierte, dazu Parteidelegationen aus Moskau, Georgien, der Ukraine, Kasachstan etc., worauf der Parteitag am Schlusstag verkündete: „Stalins schwere Verletzungen Lenin’scher Normen, sein Machtmissbrauch, sein Massenterror gegen ehrliche Sowjetbürger und weitere Untaten zu Zeiten des Personenkults machen ein Verbleiben des Sargs mit seinem Leichnam im Lenin-Mausoleum unmöglich“. Das klang nach einsichtsvoller Wahrheit, aber am Rednerpult verdarb alles eine „echte Hexe“ (ved’ma kakaja-to), wie sich Außenminister V. Molotov (1890-1986) im Gespräch mit dem Militär Ivan Čuev (1890-1978) erinnerte. Am 30. Oktober sprach Dora Lazurkina (1884-1974), eine „verdiente Altkommunistin“, von der alle Anwesenden wussten, dass sie von 1939 bis 1955 in Stalins Lagern geschmachtet hatte. Das sicherte ihr nun Narrenfreiheit, wie in Zeitungsarchiven nachzulesen ist: „Genossen, ich trage Ilič (= Lenin) immer im Herzen und selbst schwerste Momente habe ich überlebt, weil er bei mir war und ich mich mit ihm beraten konnte. Gestern habe ich ihn wieder konsultiert, wobei er wie lebendig vor mir stand und sagte: Es ist mir zuwider, neben Stalin zu liegen, der der Partei so viel Elend zugefügt hat“. Die Parteitagsdelegierten applaudierten „stürmisch und langanhaltend“, während Molotov nur den Kopf schütteln konnte: „In Traum erscheint ihr Lenin, wie er Stalin beschimpft“.
„ES SIND ZUVERLÄSSIGE, ÜBERPRÜFTE LEUTE AUSZUWÄHLEN“
Das Grab wurde am selben Tag zubereitet. Den Katafalk hatte man mit roten und schwarzen Tüchern verhängt, was recht gut aussah. Von der Kreml-Kommandantur wurden um 18 Uhr sechs Soldaten zum Grabausheben geschickt. Dazu kamen acht Offiziere, die den Sarkophag zunächst ins Laboratorium des Mausoleums trugen, von dort kam der Leichnam ins Grab. Mit Blick auf die besondere Delikatesse der Angelegenheit bat ich General A. Vedenin, nur zuverlässige, überprüfte und bereits früher positiv vermerkte Leute zu schicken. Alle Ausgewählten wurden sorgfältig instruiert und gewarnt, über die Art ihrer Arbeit kein Wort zu verlieren. Sogar für den Leiter der Hauswirtschaft der 9. Direktion, Oberst Tarasov, fand sich eine Aufgabe. Er sollte rechts und links im Mausoleum alle Ritzen abdichten, damit kein Blick von außen auf die Arbeit im Inneren möglich war.
Gleichzeitig fertigte im nahen „Arsenal“ der Künstler Gleb Savinov ein großes weißes Schild ЛЕНИН, das am Mausoleum die Aufschrift ЛЕНИН – СТАЛИН ersetzen sollte, bis eine endgültige Inschrift aus Marmor fertig wäre. Dem Chef des Moskauer Stadtrats befahl man, eilig zehn Marmorplatten zu beschaffen, eine lakonisch beschriftet STALIN IOSIF VISARIONOVIČ 1879-1953. Sie sollte das Grab abdecken.
Um 18 Uhr wurden die Zugänge zum Roten Platz geschlossen, danach begannen die Soldaten, das Grab auszuheben. Ich war im Kongresssaal, wo am Ende der Arbeitssitzung der Leningrader Parteichef Spiridonov die Tribüne betrat. Nach einer kurzen Ansprache verlas er seinen Vorschlag, den Körper Stalins aus dem Mausoleum zu entfernen. Im Vorsitz sagte Chruṧčëv: „Die Frage ist ernst, wir müssen abstimmen. Gibt es Einwände?“ „Nein“, tönten einige Stimmen. „Dann rufe ich zur Abstimmung. Wer dem Vorschlag zustimmt, den der Genosse Spiridonov vorgetragen hat, den bitte ich um das Handzeichen. Gut so. Ist jemand dagegen? Nein. Gibt es Enthaltungen? Dann ist er einstimmig angenommen“.
…UND FÜR DIE PARTEITAGS-DLEGIERTEN GAB’S EINE OPER
Die Einmütigkeit der Delegierten war nur vorgespielt. Sofort nach der Abstimmung setzte sich Mžavanadze[5], Mitglied der Umbettungs-Kommission, in sein Flugzeug und flog eiligst nach Georgien. Darum nahm er an der ganzen Umbettung nicht teil.
Auf dem Roten Platz gingen die Arbeiten aktiv weiter. Betonplatten wurden geholt, mit denen die Grube abgedeckt werden sollte. Deren Inneres verhängte man mit Tüchern. Švernik macht mich darauf aufmerksam, dass die Kommission gegen 21 Uhr eintreffen würde. Šelepin[6] und Demičev[7] kamen früher, weil sie sich für den Fortgang der Sache interessierten. Spürbar waren die Ungeduld und der Wunsch, die unangenehme Prozedur rasch zu beenden.
Niemand hatte angeordnet, Stalin umzukleiden. Weder seine Generalissimus-Uniform, noch irgendein anderes Kleidungsstück von ihm wurden auch nur angerührt. Švernik hatte lediglich befohlen, von seiner Uniform den “Goldenen Stern eines Helden der sozialistischen Arbeit“ abzunehmen (seinen zweiten Orden „Stern eines Helden der Sowjetunion“, trug Stalin nie, weshalb der im Sarkophag fehlte) [8].
Weiterhin befahl der Vorsitzende der Kommission, an Stalins Uniform die Goldknöpfe gegen Messingknöpfe auszuwechseln (zamenit‘ zolotye pugovicy mundira na latunnye). Alles das erledigte der Kommandant des Mausoleums Maṧkov: Orden und Knöpfe übergab er der Asservatenkammer, wo die Orden derer aufbewahrt wurden, die an der Kremlmauer begraben sind.
Aber nun näherte sich die dramatische Situation ihrem Höhepunkt. Als der Sarg mit dem Körper Stalins zugedeckt wurde, schluchzten Švernik und Džavachiṧvili[9] laut auf. Den ganz aufgelösten Švernik stützte sein Leibwächter, hinter ihm ging Džavachiṧvili. Außer diesen beiden weinte niemand.
Die Offiziere senkten den Sarg vorsichtig ins Grab. Mancher warf eine Handvoll Erde hinein, wie es wohl christliche Sitte ist. Das Grab wurde geschlossen, zuoberst legte man eine Platte aus weißem Marmor. Dann jene andere, die das Grab so lange bedeckte, wie es noch keine Büste gab. Eine Büste aus dem Atelier des begnadeten Bildhauers Nikolaj Tomskij (1908-1984) wurde 1970 an Stalins Grab aufgestellt.
Nachdem wir Stalin bestattet hatten, kehrten wir mit der Kommission in den Kreml zurück, wo uns Švernik das Protokoll der Umbettung unterschreiben ließ. Danach ging ich zusammen mit den Offizieren und den Wissenschaftlern des Laboratoriums zum Mausoleum. Noch musste ja Lenins Sarkophag in die Mitte gerückt werden, wo er bis zu den Trauerfeiern vom März 1953 stand, als man nebenan den Sarkophag Stalins postierte. Für Delegierte des Parteitags gab es am selben Tag eine Oper. In der Parteiführung fürchtete man Unruhen unter der Bevölkerung, aber nichts geschah. Da gewiss jede Familie in der UdSSR Opfer des Stalinismus zu beklagen hatte, sah wohl niemand Anlass, die Beseitigung Stalins sonderlich zur Kenntnis zu nehmen.
Übersetzer aus dem Russischen: Wolf Oschlies (sowie Ergänzung einiger Fakten)
P.S Das russische Original dieses Textes (Vtorye pochorony Stalina, in: AiF Nr. 46/ 2020, S. 30) verfasste, unter Verwendung der Wahrnehmungen eines Augenzeugen (wie oben erwähnt), Konstantin Kudrjaṧov, geboren 1976 in einem Dorf bei Moskau. Inzwischen hat er sich als Multitalent einen Namen gemacht. Erstens ist Kudrjaṧov in Moskau diplomierter Archäologe und als solcher bei der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) beschäftigt. Zweitens ist er ein großer Liebhaber und Förderer von Rock Music. Und drittens ist er Musikredakteur der informativen Wochenzeitung „Argumenty i Fakty“. Die Übersetzung von Kudrjaṧovs Text besorgte für ZbE Wolf Oschlies, der einige russische und bulgarische Sachaussagen hinzufügte.
Anmerkungen
[1] Gemeint ist der 20. Parteitag (14. Bis 25. Februar 1956), als Chruṧčëv in einer fünfstündigen Rede die Verbrechen Stalins enthüllte. Die Rede sollte geheim bleiben, wurde aber durch den israelischen Geheimdienst augenblicklich weltweit bekannt gemacht.
[2] Das Mausoleum war ursprünglich Lenin vorbehalten, der am Abend des 21. Januar 1924 verstarb. Bereits am 27. Januar 1924 wurde auf dem Roten Platz ein hölzernes Mausoleum in Form einer Stufenpyramide eröffnet, das nach zwei Monaten einem größeren Holz-Mausoleum Platz machte. Von Juli 1929 bis Oktober 1930 dauerte der Bau eines steinernen Mausoleums – 24 Meter lang, 12 Meter hoch -, das formal eine Kopie seiner hölzernen Vorgänger war. Hinter dem Mausoleum verläuft die backsteinerne „Kreml-Mauer“ – 2 km lang, 5 Tore, 18 Türme -, die seit Mitte November 1917 als „Revolutionäre Nekropole“ dient. Hier wurden „verdiente Kämpfer für die Sowjetmacht“ beigesetzt, als letzter im März 1985 der Spitzenfunktionär in Partei und Staat Konstantin Černenko (1911-1985). Weniger ehrenvoll waren in die Kreml-Mauer eingemauerte Urnen, etwa 100 von 1925 bis Mitte 1980. Für Stalin, der am 5. März 1953 starb, wurde umgehend per Beschluss des Politbüros ein Platz neben Lenin als letzte Ruhestätte bestimmt.
[3] Nikolaj Švernik (1888-1970), 1957.1966 Mitglied im Politbüro, Günstling Stalins
[4] Offiziell handelte es sich um die traditionelle Parade zum Gedenken der bolschewistischen „Oktober- Revolution“ vom 7. November 1917, die 1941 zusätzliche Bedeutung bekam. Damals tobt die Schlacht um Moskau und die Soldaten gingen von der Parade direkt an die Front, wo viele den Tod fanden.
[5] Vasilij P. Mžavadnaze (1902-1985), Georgier und sowjetischer Militär, von 1953 bis 1972 kommunistischer Parteichef in Georgien. Er hätte eine große Karriere machen können, woran ihn seine eigene Korruption und die seiner Frau Tamara hinderte. Eingangs der 1970-er war er nicht mehr zu halten und musste im September 1972 alle Parteiämter verlassen, wofür nicht zuletzt der ambitionierte Edvard Ševardnadze (1928-2014) sorgte, der später Gorbačëvs Reformpolitik als Außenminister unterstützte.
[6] Aleksandr Šelepin (1918-1994), damals KGB-Chef
[7] Pëtr Demičev (1918-2010), damals ZK-Sekretär
[8] Diese Passage ist unverständlich, denn nach biographischen Mitteilungen fühlte sich Stalin des Arbeitsordens „nicht würdig“ und hat ihn nie getragen.
[9] Givi Džavachišviili (1912.1985), Georgier, 1953 – 1975 Ministerpräsident Georgiens
Stalins Begräbnis und die Schlacht um Berlin
Sehenswert dazu auch der Film : the death of stalin, der Stalins Tod als Dramedy inszeniert. Er reicht vom Sterbensweg auf Stalins Datscha, thematisiert den Schlaganfall, die Ratlosigkeit der Mediziner, Stalins Tochter Swetlana, die kommunistische Partei, den Streit im Zentralkomitee und die späterer Wertung der Historiker.