Monica Hesse: Sie mussten nach links gehen, München 2020
Mit „Sie mussten nach links gehen“ erscheint im Herbst 2020 nach „Das Mädchen im blauen Mantel“ das zweite Jugendbuch der US-amerikanischen Autorin und Journalistin zum Thema Holocaust. Und wieder ist es ein Werk, das sowohl aufgrund der historischen Präzision wie seiner literarischen Qualität besticht. Stand im Mittelpunkt von „Das Mädchen im blauen Mantel“ die Situation in dem von Nazideutschland besetzten Amsterdam, thematisiert Hesse in ihrem neuen Buch die Situation der Displaced Persons nach Kriegsende in Europa.
Im Mittelpunkt der Handlung steht die 18-jährige Zofia, die als Einzige ihrer jüdischen Familie NS-Terror und Konzentrationslager überlebt hat und jetzt zur Gruppe der Displaced Persons gehört. Noch völlig befangen von dem, was sie in Auschwitz und anderen Lagern erlebt hat, versucht Zofia irgendwie weiter zu leben. Ihr primäres Lebensziel ist es, ihren jüngeren Bruder Abek zu finden, der die Selektion im südpolnischen Heimatort überlebte; Zofia hofft mit ihm in der Heimat ein Leben in relativer Normalität führen zu können, was sich in mehrfacher Hinsicht als trügerische Hoffnung erweist.
Die Suche nach dem Bruder nutzt die Autorin, um äußere Spannung zu erzeugen. Die eigentliche Qualität des Buchs liegt aber darin, dass es Hesse gelingt, die historische Situation der Displaced Persons in den Jahren 1945/46 historisch präzise darzustellen und zugleich die Traumata, unter denen diese Menschen leiden, anschaulich und berührend zu schildern. Geschickt werden unterschiedliche Zeitebenen so miteinander verbunden, dass verständlich wird, warum das Erinnerungsvermögen der NS-Opfer bisweilen zum Selbstschutz versagen muss. Und nicht nur die Trauer um die Ermordeten raubt Lebensmut, auch das Überleben wird als schuldhaft erlebt. Wenn Zofia mit ihren Erinnerungen, Ängsten und Wünschen als glaubhafte Persönlichkeit die zentrale Protagonistin des Romans ist, charakterisiert die Autorin die Nebenpersonen nicht weniger sorgfältig. Auch hier gelingen ihr differenzierte Personenzeichnungen, die die Menschen nie klischeehaft, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit glaubhaft erscheinen lassen.
Insgesamt zeigt Monica Hesse in „Sie mussten nach links gehen“ durch ihre differenzierte, vielschichtige und historisch exzellent recherchierte Darstellung überzeugend, dass der Holocaust 1945 nicht zu Ende war.
Autor: Tomas Unglaube
Monica Hesse: Sie mussten nach links gehen. Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Stoll, München cbj 2020, 448 S., ab 13. ISBN 978-3-570-16602-4