Ligocka, Roma: Das Mädchen im roten Mantel, München 2005.
Wer Mitte der 1990er Jahr den Spielberg-Kultfilm „Schindlers Liste“ gesehen hat oder die inzwischen gut verkaufte VHS/DVD-Version, dem ist das kleine Mädchen im roten Mantel ein Begriff. Es wurde zum Leitmotiv des Hollywood-Bestsellers. Im Film läuft dieses kleine Mädchen mitten im Massaker des in Liquidation befindlichen Krakauer Ghettos herum, schleicht sich inmitten der Todesmaschinerie in eine Wohnung unters Bett. Anlässlich der Exhumierung der 1943 vergrabenen Leichen erkennt es der Held und Retter der Juden, Oskar Schindler, im Jahr 1944 auf einer Leichenkarre wieder: Das Mädchen mit dem roten Mantel.
Jahrzehnte später hat sich dieses Mädchen anlässlich der Spielberg-Premiere wieder erkannt. Roma ist in Wirklichkeit nicht gestorben, sondern hat überlebt. Und über dieses ihr Überleben hat sie ein Buch geschrieben, das zur Basislektüre eines jeden angehenden oder praktizierenden Psychotherapeuten oder Psychiaters zählen sollte.
1938, während in Deutschland bereits die Synagogen brennen, wird in Krakau ein kleines Mädchen geboren. Tochter der jüdischen Eltern Liebling. Sie ist noch kein Jahr alt, als sie mit ihren Eltern ins Krakauer Ghetto eingewiesen wird. Dort erfährt sie ihre frühste Kindheit – die wichtigsten Jahre im Leben, die einen Menschen prägen. Die Autorin beschreibt diese Jahre des Grauens aus der Perspektive des kleinen Kindes, das nichts anderes kennt als die Lederstiefel der uniformierten Deutschen, die bellenden Hunde, die Enge, das Elend und die tägliche Lebensbedrohung. Man darf kein Kind sein, denn Kinder werden erschossen. Man muss sich auch unsichtbar machen, weil man sonst getreten und weggeschleppt wird. Ihre geliebte Großmutter wird „geholt“, während das dreijährige Mädchen sich unterm Tisch versteckt, dann auch der Vater. Was ein Baum ist, was Gras, was ein Kaninchen und was eine Puppe – das kennt das Ghettokind nicht. Aber es weiß, dass man das organisierte Stück Brot verstecken muss. In der Wohnung leben pro Fensterkreuz vier Familien, das ist Vorschrift. Warum das so ist, versteht sie nicht, es ist eben so. Für eine Dreijährige ist es normal, dass täglich die „Deutschen“ mit den blanken und nach Leder stinkenden Stiefeln durchs Haus traben und Leute „holen“ oder erschießen…
Nachdem sie auch den Papa „geholt“ haben, flieht die Mutter mit dem kleinen Mädchen und falschen Papieren aus dem Ghetto. Es gelingt ihnen, bei einer polnischen Familie unterzutauchen und den Holocaust zu überleben. Dieses „Überleben“ prägt die Kindheit der Autorin, und sie beschreibt plastisch aus der Perspektive des Kindes, was das bedeutet im von den Nazis besetzten Krakau.
Das Trauma entwickelt sich erst nach dem Kriegsende – stückweise. Es beginnt damit, dass die wenigen Überlebenden aus dem Bekannten- und Familienkreis sich allmählich wiederfinden und gemeinsam weinen, was das kleine Mädchen gar nicht verstehen kann. Und was hat das alles mit „jüdisch“ zu tun? Die Menschen, die wiederkommen aus so genannten „Lagern“ erscheinen ihr, als seien sie verrückt geworden. Mit zwei ihrer Cousins teilt sie eine Matratze, einer ist Bettnässer – obwohl älter als sie. Er war in einem Lager, das „Auschwitz“ hieß. Darüber reden auch die Erwachsenen immer wieder und weinen.
Von der Familie ist kaum noch jemand am Leben. Da taucht dieser komplett zerfetzte Mensch auf, barfuß, mager und grau. Die Mutter wirft sich ihm an den Hals und schluchzt. Das kleine Mädchen kann lange nicht akzeptieren, dass dies sein Vater ist, der im letzten Moment aus Auschwitz geflohen war und sich Hunderte von Kilometern durchgeschlagen hatte. Roma braucht lange, um ihn zu akzeptieren. Es gelingt ihr erst, als er mit 39 Jahren an einem Schlaganfall stirbt.
Jetzt bleibt ihr nur noch die Mutter, mit der sie die Flucht vor den Nazis verbindet. Diese Bindung ist eng und prägt den Rest ihres Lebens. Sie lebt und erblüht in der Krakauer Künstler- und Intellektuellen-Atmosphäre – immer am Rande einer als kriminell erachteten Regimekritik. Polen ist inzwischen kommunistisch und unter der Fuchtel der Sowjetunion. Roma findet ihre Freiheit in den Kellertheatern und Kabaretts, bis sie sich schließlich in den 1950er Jahren mit einem Ehemann halb illegal nach Wien zu einer Inszenierung durchschlägt. 30 Jahre lang soll sie ihre polnische Heimatstadt Krakau danach nicht wiedersehen. Denn dort sind Studentenunruhen ausgebrochen.
In dieser Zeit erlebt sie den Kulturschock West, lernt ihn lieben und leben, entfernt sich aber immer weiter von sich selbst. Immer klarer wird in ihren Schilderungen, wie sehr sie noch das verängstigte Ghettokind geblieben ist und wie tief diese Emotionen in ihr sitzen. Als ihr nach der Geburt ihres Sohnes ein deutscher Arzt das Kind aus dem Arm nehmen möchte, sieht sie in ihm den „Stiefeldeutschen“, der einer Mutter im Ghetto ihr Baby entrissen und auf den Boden geschleudert hatte. Sie bekommt eine Panikattacke.
Immer weiter durchziehen schwere Depressionen und Angstanfälle ihr Leben.
Sie ist Mitte vierzig, hat einen lukrativen Job als Bühnenbildnerin, ihren Sohn, einen Mann, der sie liebt, ein Haus – die Depression hat sie fest im Griff. Sie greift zu Tabletten, wird abhängig. Noch kritischer wird das, nachdem ihr Mann sich von ihr trennt, sie schluckt Tabletten, um ihren Sohn durchzubringen. Sie wird suchtkrank.
Der Zusammenbruch ist nicht wirklich total, so wie nichts wirklich „total“ ist in ihrem Leben. Den Entzug kämpft sie alleine durch – da ist diese ungeheure Kraft des Ghetto-Kleinkinds plötzlich wieder da. Sie schafft das Unmögliche, und sie schafft es aus sich selbst heraus.
Dann ist sie wieder voll da. Solidarność hat es möglich gemacht, dass sie – zusammen mit ihrem Sohn Jakob – ihre Heimatstadt Krakau wieder besuchen kann. Seitdem lebt sie auf, findet ihre Kraft, ihr Engagement und ihre Kreativität wieder. Die einzige Blockade war dann noch 1994 eine Einladung zur Erstaufführung von dem Spielberg-Film „Schindlers Liste“. Nur widerwillig konnte sie sich entscheiden, weil sie mit der Vergangenheit nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun haben wollte. Dann hat sie in dem Mädchen im roten Mantel sich selber wieder erkannt und beschlossen, dieses Buch zu schreiben…
Ich möchte dieses Buch wirklich empfehlen, aber wie mache ich das am besten?
Roma: Ich habe Deine sehr persönlichen Schilderungen über mehr als 400 Seiten an einem Tag nonstop gelesen und alles um mich herum vergessen. Ich möchte das kleine dreijährige Mädchen aus dem Krakauer Ghetto heute einfach in den Arm nehmen, den Kopf streicheln und beschützen. Pass auf sie auf, auf diese Kleine. Sie ist noch heute bei Dir und braucht Deine Liebe und Aufmerksamkeit.
Autorin: Marianne Kestler
Ligocka, Roma: „Das Mädchen im roten Mantel“ (mit Iris von Finckenstein); Diana-Verlag, München, 2005 und Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München, 2000; ISBN-10: 3-453-35120-7, ISBN-13: 978-3-453-35120-2.