
Claude Lanzmann. Sektion: Berlinale Special 2025. Datei: 202517624_8. © Les Films Aleph
Das industrialisierte Vernichten, die Konzentrationslager und die Ghettos sowie die gesamte Maschinerie der Unterdrückung, des Tötens und Auslöschens, die das NS-Regime zwischen 1933 und 1945 errichtet hat, gelten heute als gut erforscht und dokumentiert. Doch häufig ist uns der Holocaust nur aus den Hochglanzproduktionen Hollywoods bekannt. Einen etwas anderen Weg hat Claude Lanzmann mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk Shoah aus dem Jahr 1985 beschritten. Aber was macht den Film eigentlich so einzigartig? Nicht zuletzt in den jetzigen Jahren, in denen in manchen Ländern die politische Rechte wieder erstarkt, ist es gerade der ungetrübte Blick des französischen Regisseurs, der das schreckliche Ausmaß von Fremdenhass und Antisemitismus erbarmungslos zeigt.
Im Gegensatz zu anderen filmischen Standardwerken, die in den späteren Jahren entstanden sind und zu denen etwa “Schindlers Liste” oder “Holocaust – die Geschichte der Familie Weiss” gehören, handelt es sich bei Shoah um eine reine Dokumentation. Claude Lanzmann reiste dafür in den elf Jahren zwischen 1974 und 1985 durch diverse deutsche, tschechische und polnische Konzentrationslager. Nicht jedes davon war zu jener Zeit so gut erhalten wie Auschwitz. Bei einigen von ihnen konnte Lanzmann nur eine geräumte Wiese aufnehmen, auf der sich keine Spuren der früheren Verbrechen gegen die Insassen mehr finden ließen. Ebenso dokumentiert er die Infrastruktur des Holocaust, zu der neben den Büros der Täter auch Bahnstrecken, Arbeitshallen und die Gefängnisse mancher Kleinstadt gehören.
Eine Besonderheit von Shoah liegt auch darin, dass keine Originalaufnahmen aus den Jahren bis 1945 für den Film verwendet werden. Lanzmann verzichtete bewusst darauf – vor allem, weil er sein Werk eher als einen Rückblick auf jene unheilvolle Zeit verstand. Einige Szenen, zu denen etwa die Fahrt der Züge, das Ankommen der Gefangenen im Lager oder ihre Registrierung vor Ort gehören, ließ der Regisseur an den originalen Schauplätzen nachstellen. Ein Vorgehen, das ihm in späteren Jahren einige Kritik einbringen sollte, da hierin in Teilen eine Fiktionalisierung des Holocaust gesehen wurde. Übrigens soll Lanzmann während seiner Arbeiten ganze 350 Stunden an Filmmaterial zusammengetragen haben – nur 540 Minuten davon nutzte er letztlich für seine zweiteilige Dokumentation.
Neben einigen gedrehten Szenen sind es vor allem die ausführlichen Interviews, die die Länge des Films erklären. Lanzmann ließ dafür Personen aus unterschiedlichen Ländern befragen, die wenigstens eines der Lager durchlaufen hatten. Für den Zuschauer entsteht dabei schnell ein Gefühl der Nähe und Beklemmung, da Lanzmanns Kamera keinerlei Distanz zu den Menschen und ihren Gefühlen zu kennen scheint. Häufig kommt es zu Ausbrüchen von Trauer und Wut sowie zu Momenten, in denen die Interviewten offenkundig mit sich und ihren Emotionen alleine bleiben möchten – die Kamera läuft indes ununterbrochen weiter und lässt den Befragten keine Möglichkeit des Rückzugs. Gerade solche Situationen wirken auf Unbeteiligte eher wie ein Verhör und lassen fast schon eine Hierarchie erkennen, in der sich Regisseur Lanzmann über seine Gesprächspartner stellt.
Demgegenüber steht eine sechsköpfige Gruppe an Personen, die während der Kriegsjahre entweder in den Lagern, in deren Verwaltung oder für den Machtapparat des NS-Regimes tätig waren. Ihre damaligen Funktionen unterschieden sich, entsprechend weicht auch ihr Wissen rund um den Holocaust erheblich voneinander ab. Ihnen gleich ist dabei jedoch der kalte, technokratische und beinahe zynische Umgang mit dem Thema. Häufig handelte es sich um sogenannte Schreibtischtäter, die jedweden Bezug zu den menschlichen Opfern leugneten, die sie mit ihrer Arbeit auslösten. Wiederholt verstricken sich die Befragten in Widersprüche und offensichtliche Lügen, die von Lanzmann während des Interviews kaum entlarvt werden – die dem Zuschauen aber nicht verborgen bleiben.
Zwar richtet Lanzmann den Fokus der filmischen Szenen sowie der Interviews auf die Kriegsjahre, den Holocaust und das Schicksal der polnischen sowie der tschechischen Ghettos. Dennoch wird durch sein Vorgehen auch die Zeit der 1970er und 1980er Jahre überschaubar: Welche Rolle nahm das industrialisierte Töten in den Köpfen der Menschen jener Jahre noch ein, wie gestaltete sich ihr Gedenken an die Opfer, wie wurde das Thema in den Unterricht an den Schulen integriert? Der schonungslose Blick Lanzmanns legt dabei gerade in den Gesprächen mit polnischen Befragten offen, dass ihnen noch immer ein hohes Maß an Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit anzumerken war. Auch daran regte sich im Anschluss an die Premiere des Films einige Kritik – die Regierung Polens wollte die Ausstrahlung des Werkes sogar verbieten lassen.
Die Dokumentation Shoah liegt in zwei Versionen vor. Einerseits handelt es sich dabei um den Originalfilm von 1985, der neun Stunden umfasst und der im Jahre 2017 restauriert wurde. Er kann übrigens um weitere Aufnahmen ergänzt werden, die Lanzmann im Laufe der Zeit veröffentlicht hat. Andererseits haben einige Nationen davon eine Zusammenfassung erstellt, die meist nur 90 Minuten lang ist. Dennoch lohnt es sich, den gesamten Film wenigstens einmal zu schauen. Gerade weil hier keine Inszenierung mit gutem Ende erwartet werden darf, ist Shoah in seinem schonungslosen Umgang mit dem Thema und den Befragten so sehenswert – und einzigartig. Dass das gesamte Material immer wieder zum Nachdenken anregt und Anlass für Kritik bietet, muss dabei kein Nachteil sein.
Shoah – von Claude Lanzmann (Regie) / 566’Frankreich 1985 / Farbe & Schwarz-Weiß / Englisch, Deutsch, Polnisch, Hebräisch / Untertitel: Englisch
Berlinale 2025 – Sektion Berlinale Special