Claude Lanzmann geht mit diesem Interview der oft gestellten Frage nach, ob die Dimension der Vernichtung der europäischen Juden den Alliierten während des Zweiten Weltkrieges nicht ersichtlich war. Gerüchte gab es viele, aber es gab nur wenige Zeugen, denen die Flucht aus dem deutschen Herrschaftsbereich gelang und die in der Folge über das Erlebte berichten konnten. Einer dieser wenigen war Jan Karski, dem Lanzmann einen eigenen, anderen Film widmete. Mit Mut und Durchhaltevermögen gelangte er schließlich sogar bis zu Präsident Franklin D. Roosevelt, der ihm jedoch keinen Glauben schenkte.
In EIN LEBENDER GEHT VORBEI portraitiert Lanzmann eine fast ähnlich tragische Figur: den Schweizer Maurice Rossel, der im Auftrag des Roten Kreuzes Auschwitz und Theresienstadt besuchte, aber in beiden Fällen dort den Propagandamechanismen der Nazis erlag.
In einem langen, angespannten Gespräch berichtet Rossel wie er Theresienstadt als ‚Musterghetto’ erlebte, das zu Propagandazwecken angelegt worden war und von einem geradezu absurd unverfänglichen Gespräch mit dem Kommandanten des KZ Auschwitz, den er als höflichen Gentleman empfand. Er ließ sich täuschen, ahnte weder hier noch etwas von der Realität und den Ausmaßen der Vernichtungsmaschinerie. Offenbar zu geschickt verbarg man die Wahrheit vor ihm und zu unvorstellbar war auch das, was sich ohne Beweise niemand vorstellen konnte.
Das Interview, das im Rahmen von Lanzmanns SHOAH entstand, in diesem Werk aber nicht verwendet wurde, zeigt eine angespannte Atmosphäre und einen Rossel, der um Rechtfertigung ringt. Man spürt förmlich die (Selbst-) Vorwürfe, die ihn Jahrzehnte begleiteten. Er hatte eine einzigartige Chance verspielt, der Welt von den Verbrechen der Nazis zu berichten.
Frankreich 1997, 65 Min
Französisch
Regie: Claude Lanzmann