Sexuelle Befreiung in den 20er Jahren. Mythos, Wahrheit, Hintergründe und Ende einer freien und freizügigen Zeit.
„Entschuldigen Sie, ist das Sperma auf ihrem Jacket?“ Es soll eine echte Begebenheit gewesen sein, dass dies auf einer Abendgesellschaft in der späten Weimarer Republik von einer Dame gefragt wurde. Autor Florian Illies beschreibt die Szene in seinem Buch „Liebe in Zeiten des Hasses“. Unabhängig davon, ob sich das so wirklich zu getragen hat, zeigt das Zitat doch wie sich die Zeiten geändert hatten. Es war eine Zeit der sexuellen Befreiung.
Die Moralvorstellungen der Kaiserzeit
In der Kaiserzeit verharrten die Moralvorstellung in einer reaktionären Phase. Es herrschte das bürgerliche Familienideal vor, das sich auch auf die Ehe und die Rolle der Frau erstreckte. Die Lebens- und Arbeitssphären von Mann und Frau waren strikt voneinander getrennt. Der Mann galt als rational, durchsetzungsstark und zielstrebig, während die Frau als gefühlsbetont und führsorglich galt. Männer prägten das Geschehen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, die Frau sollte treue Ehefrau und Mutter sein. Ihre Lebenssphäre war der bürgerliche Haushalt und die Erziehung der Kinder.
Ihrem Ehemann bot sie eine Zuflucht vor den Härten des außerhäuslichen Lebens. Dies war das Ziel, das es anzustreben galt, selbst wenn es keinesfalls für alle Bevölkerungsschichten so einfach umzusetzen war, die in prekären Verhältnissen lebten. Eine wachsende Zahl an Frauen und ihrer Töchter war mit dieser Situation jedoch alles andere als zufrieden und so entstand eine wachsende Frauenbewegung mit der Forderung nach mehr Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Das umfasste auch die Forderung nach Abitur und Frauenstudium. Letzteres wurde schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts in allen deutschen Bundesstaaten zugelassen. Zu dieser Frauenbewegung gesellte sich später eine Reformbewegung der Jugend, die ihren Anfang mit der Wandervogelbewegung im Jahr 1896 nahm. Diese organisierte Wanderungen Jugendlicher ohne Beteiligung der Eltern.
Sexualität in der Weimarer Republik
Es ist nicht sicher nachgewiesen, ob dieses Zitat genauso ausgesprochen wurde, doch erlebte die sexuelle Befreiung in der Weimarer Republik einen großen Schub nach vorne. Das Thema Sexualität spielte damals nicht nur im Theater und Kino eine große Rolle, sondern auch in der Bildenden Kunst und Literatur. Die homosexuelle Subkultur organisierte sich etwa über Cafés, Zeitschriften und Tanzbars. Plötzlich wird sie viel stärker akzeptiert als in der Kaiserzeit. Zur Emanzipation der Frau trug der Erste Weltkrieg erheblich bei, da die Abwesenheit der Männer diese geradezu zu diesem Schritt zwingt. Insgesamt fallen 1,2 Millionen deutsche Soldaten und 1,8 Millionen weitere gelangen in Kriegsgefangenschaft. Die Frauen sind dazu gezwungen, zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Damit wurde die patriarchalische Ehe mehr und mehr in Frage gestellt und die soziale wie wirtschaftliche Stellung der Frau festigte sich allmählich. Nach Einführung des Wahlrechts für Frauen im Jahr 1918 werden diese in den Folgejahren zu immer mehr Ämtern zugelassen.
Die Auseinandersetzung mit Sexualität in der Weimarer Republik hatte viel mit sozialen Fragen zu tun. Viele arme und kinderreiche Familien lebten in beengten Verhältnissen und von niedrigen Löhnen. Gerade alleinerziehende Mütter hatten es nach den Wirren des Ersten Weltkriegs besonders schwer. Viele gefährdeten durch Abtreibungsversuche ihr Leben. Themen wie Geburtenkontrolle, Verhütung, Geschlechtskrankheiten oder Abtreibung erforderten dringend eine Lösung. 1931 entstand eine soziale Bewegung, die für legale Abtreibungen eintrat und besonders von den Kommunisten unterstützt wurde. Zugleich tauschten sich diese sexualreformerischen Verbände mit der homosexuellen Emanzipationsbewegung aus. Auf der anderen Seite wuchs gegen Ende der Weimarer Republik das eugenische Gedankengut immer mehr, ehe es die Nazis grausam in die Tat umsetzten.
Zwei Welten: Berlin und die Provinz
Berlin präsentierte sich liberaler als der Rest der Weimarer Republik. 1919 entdeckte die damals drittgrößte Stadt der Welt den Sex und die käufliche Liebe. Schule und Lesben zeigen Mut und Entschlossenheit, ihre Rechte durchzusetzen. Es kam zu einer Revolution der Sexualmoral, um die verklemmte Moral aus der Kaiserzeit wegzufegen. Berlin entwickelte sich immer mehr zum „Sündenbabel“ mit käuflicher Liebe, Erotik-Models und der Premiere des ersten Schwulen-Films. Berlin war die angesagte Kulturmetropole mit einem pulsierenden Kultur- und Nachtleben. Die Prostitution blühte und kaum ein sexueller Wunsch blieb in der Hauptstadt unerfüllt. Es gab keine Tabus mehr und die Publikationen über Sexualität und Erotik stiegen sprunghaft an.
In Metropolen wie Köln und Hamburg existierte ebenfalls eine lebhafte Homosexuellenbewegung und ein reiches kulturelles Leben. Auch in Frankfurt und weiteren Städten feierten viele Menschen die Nächte durch und putschten sich gar mit Drogen auf. In Mitteldeutschland erfährt Leipzig einen raschen Aufschwung. Durch ganz Deutschland wehte ein auch von Freiheit nach der Prüderie der Kaiserzeit. Das galt natürlich in besonderem Maße für die Jugend. Die kulturelle Blühte in den Goldenen Zwanzigern“ genießt bis heute einen legendären Ruf. Mit der Weltwirtschaftskrise findet diese Zeit ein jähes Ende und spätestens mit der Machtergreifung der Nazis auch die sexuelle Freiheit.
Auf dem Land änderte sich hingegen wenig und das bäuerliche Leben blieb hart und oft in althergebrachten und traditionellen Strukturen verhaftet. Manche wohnen sogar noch mit ihren Tieren unter ein und demselben Dach. Die Menschen dort bekommen nur wenig von dem rasanten Wandel mit, der sich in den Städten vollzieht. Dies gilt wohl auch für das Bild der Geschlechterrollen und Sexualität. Das Attribut „Goldene Zwanziger“ trifft ohnehin nur auf die Zeit zwischen 1924 und 1929 in den Städten zu, als die verheerenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs weitgehend überstanden waren.
Das Ende: NS-Machtergreifung
Mit der Machtergreifung durch das nationalsozialistische Schreckensregime fand die liberale Phase der Weimarer Republik und damit die „sexuelle Befreiung“ ein jähes Ende. Die Rollenverteilung war denkbar simpel. Der Mann fungierte als Beschützer und Versorger der Familie, während die Frau „arische“ Kinder gebären und großziehen sollte. Selbstlos, treu, pflichtbewusst, so lautete nun die offizielle Propaganda. In dieser Zeit, nämlich 1938, erfolgte außerdem die Einführung des Muttertags. Die Situation änderte sich erst wieder ein Stück weit, als Millionen von deutschen Männern und Soldaten nicht mehr aus dem Zweiten Weltkrieg heimkehrten. Schwule und Lesben wurden fortan verfolgt und mussten immer mit dem Schlimmsten rechnen – wie viele andere soziale und ethnische Gruppen. Das Nazi-Regime sah Homosexualität als inkompatibel mit ihrer eigenen Ideologie und als eine Bedrohung des Staates. Das galt spätestens seit der Ermordung von Ernst Röhm, einem NSDAP-Politiker und vormals Hitler-Duzfreund, der selbst homosexuell war. Die sexuelle Befreiung wurde damit viele Jahre lang unterbrochen und nahm erst wieder in den 1960er-Jahren an Fahrt auf.
Quellen
BZ Berlin: Artikel: Vor 100 Jahren erlebte Berlin die sexuelle Befreiung