Lehrstunde in „Widerstand zwecklos“
Der tschechische Publizist Pavel Kosatík (*1962) hat in seiner Heimat zahlreiche Bücher veröffentlicht, meist tiefgehende und einfühlsame Biographien, u.a. eine von Václav Havels erster Frau Olga[1], und ist dafür 2001 mit dem renommierten „Preis der Charta 77“ dekoriert worden. In der Prager Wochenzeitung „Týden“ publiziert Kosatík laufend Studien zu historischen Ereignissen, die es allein lohnen würden, um ihretwillen Tschechisch zu lernen. Dieser Autor hat die seltene Gabe, dass ihm vieles auffällt und einfällt, worauf andere keinen Gedanken verschwenden würden. Am 29. August 2005 beschäftigte er sich detailliert mit einem Ereignis, das im September 1940 stattgefunden hatte.[2] Auf Einladung von Joseph Goebbels, „Reichsminister für Aufklärung und Propaganda“, besuchte eine Gruppe von 34 tschechischen Journalisten, Schriftstellern, Malern etc. das „Großdeutsche Reich“, wo man sie hofierte und schockte – um den Tschechen die Zwecklosigkeit jeglichen Widerstands zu demonstrieren und sie zur Kollaboration oder wenigstens zum Stillhalten zu veranlassen.
Reise aus dem „Protektorat“ ins „Reich“
Im September 1938 war die Tschechoslowakei um das Sudetenland „amputiert“ worden[3], am 14. März 1939 zwang Hitler die Slowakei, Prag die staatliche Gemeinsamkeit aufzukündigen, und einen Tag später rückten deutsche Truppen in die „Rest-Tschechei“ ein, die gleichzeitig in das deutsche „Protektorat Böhmen und Mähren“ umgewandelt wurde. Bis zum 5. Mai 1945 mußten die Tschechen in dieser erniedrigenden Rolle ausharren, die sie zu Recht als den Tiefpunkt ihrer Nationalgeschichte ansehen.[4] Es hat im „Protektorat“ massiven deutschen Terror gegeben, vor allem nach dem Attentat auf den „Reichsprotektor“ Reinhard Heydrich und dessen Tod (27. Mai und 4. Juni 1942), allerdings war es nicht mit anderen Regionen, die von Deutschen besetzt waren, zu vergleichen, am wenigsten mit dem benachbarten „Generalgouvernement“, d.h. dem östlichen Teil des ehemaligen Polens. Böhmen und Mähren lagen außerhalb der Reichweite alliierter Bomber, wurden also kaum zerstört; ihre großen Industriekapazitäten standen ganz im Dienste deutscher Kriegswirtschaft; eine relativ „milde“ Sozialpolitik förderte die Arbeitsbereitschaft der Tschechen, die zwar „Angehörige des Reichs“ waren, aber weder Wehrdienst noch Zwangsarbeit leisten mussten; das Protektorat „band“ kaum deutsche Truppen und leistete so einen indirekten Beitrag zur deutschen Kriegsführung. Und ähnliche „Vorteile“ mehr, an die Tschechen begreiflicherweise nicht gern erinnert werden, tragen sie doch das „Rüchlein“ von Kollaboration und Feigheit an sich. Tatsache ist, dass die Tschechen weder Feiglinge, noch das Protektorat eine Idylle waren – niemandem blieb schließlich der deutsche Terror gegen die tschechischen Juden verborgen, der unverkennbar ein Vorspiel dessen war, was die Nationalsozialisten mit den Tschechen vorhatten.[5]
Dennoch: Dem Protektorat war ein Rest an Autonomie belassen worden, den die Regierung zur Verzögerung und Unterlaufung von deutschen Befehlen nutzte, und im Lande funktionierten noch tschechische Medien, Theater, Kinos, Grundschulen etc. – es gab ein (ständig bedrohtes und verengtes) Refugium, in welchem sich tschechische Kulturschaffende betätigen konnten.[6] Diese Situation hat Goebbels zwar nicht gefallen, aber er hatte sie früh einkalkuliert: Er glaubte nicht an die „Rasseninstinkte“ der Sudetendeutschen, vielmehr nahm er an, dass denen eine gewisse „Normalität“ beim tschechischen Nachbarn, mit dem sie schließlich seit Jahrhunderten zusammenlebten, durchaus verständlich war. Andererseits war ihm bewusst, dass die Tschechen sich „unter dem Schutz des Reiches“ absolut nicht wohl fühlten und manche Widerstandsaktionen planten und betrieben. Diese mochten im Vergleich zu polnischen, serbischen etc. Pendants „harmlos“ gewesen sein, lästig waren sie doch. Was lag also näher als eine ausgewählte Gruppe tschechischer intellektueller „Multiplikatoren“ ins „Reich“ einzuladen und sie dort nach dem bewährten Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“ gefügig zu machen?
Die Reisenden
Als der Zug mit den 34 Gästen Prag am Morgen des 3. September 1940 verließ, fehlte einer der Eingeladenen: Vladislav Vančura (1891-1942), ursprünglich Arzt, der sich ab 1924 der literarischen Prosa zuwandte und eine Fülle von Themen in variierenden Formen und immer in einer meisterhaften Sprache behandelte. Im Moment der Reise war er gerade mit seinen monumentalen Obrazy z dějin národa českého (Geschichtsbilder des tschechischen Volks) beschäftigt, deren zweiter Band gerade erschienen war. Der dritte kam erst 1948 heraus, und das ganze Werk blieb unvollendet. Vančura schlug als einziger die Einladung aus, eine Krankheit vorschützend (was dem ausgebildeten Mediziner nicht schwer fiel), und widmete sich weiter der Schriftsteller-Sektion des illegalen „Intelligenz-Komitees“. Nach dem Attentat auf Heydrich, als im ganzen „Protektorat“ das „Standrecht“ galt, wurde er verhaftet und am 1. Juni 1942 erschossen.
Die Gruppe der Reisenden war von denkbarster Heterogenität, angeführt von einigen sog. „Aktivisten“, also bekannten Kollaborateuren. So reisten zwei prominente Journalisten mit, Karel Lažnovský, Chefredakteur des „České slovo“ (Tschechisches Wort), und Vladimír Krychtálek, Chefredakteur des „Vekov“ (Dorf). Lažnovský war in der tschechischen Öffentlichkeit außerordentlich verhasst und starb im Oktober 1941, nachdem ihm jemand Typhus-Bazillen unter sein Essen gemischt hatte. Dieser Anschlag diente deutschen Protektoratsbehörden als Vorwand, gegen den tschechischen Regierungschef, General Alois Eliáš, vorzugehen. Die entsprechende Kampagne, die Eliáš als Giftmischer denunzierte, führte Krychtálek (1903-1947), und dank ihrer wurde der General 1942 hingerichtet.
Aber das lag zum Zeitpunkt der Reise noch in der Zukunft, und die Deutschen hatten sich gehütet, zu viele Kollaborateure mitfahren zu lassen. Die hatte man in der Hand und musste sie nicht mehr „überzeugen“. Mehr Mühe verdienten berühmte Dichter und Musiker, Intendanten des Rundfunks und des Nationaltheaters, Chefs von Nachrichtenagenturen, prominente Schauspieler etc.
Mit von der Partie war beispielsweise Jaroslav Durych (1886-1962), einer der ganz Großen der zeitgenössischen tschechischen Literatur, der gerade an seiner voluminösen „Waldstein-Trilogie“ arbeitete. Deren erster Band erschien 1941 in Prag, das komplette Werk erst 1969 in Rom, nachdem Durych volle dreißig Jahre, von 1931 bis 1961, an ihm gearbeitet hatte. Der von christlicher Mystik stark beeinflusste Dichter hatte sich Themen der tschechischen Nationalgeschichte verschrieben, die er auf neue, nämlich „antitraditionalistische“ Weise zu Romanen und erfolgreichen Bühnenstücken verarbeitete. Seit Kriegsbeginn war Durych in ein „beredtes Schweigen“ verfallen, was den Deutschen nicht gefallen konnte – deswegen die Reiseeinladung an ihn.
Als weiterer Dichter reisten Josef Hora (1891-1945) mit, den „jeder Tscheche kannte“ – als expressionistischen Lyriker, ziemlich weit „links“ stehend, dazu Jan Čarek (1898 -1966), zivil Beamter im Verkehrsministerium, literarisch Lyriker und Poet des tschechischen Landlebens, Josef Knap (1900-1973), Museumsangestellter, Romancier und Novellist, Václav Renč (1911-1973), Verleger und Lyriker, als „tschechischer Rilke“ berühmt, und andere.
Unter den mitreisenden Musikern ragte vor allem der Dirigent Václav Talich (1883-1961) heraus, seit 1919 Chef der Tschechischen Philharmonie. Seit den 1920-er Jahren war er eine internationale Größe, seit 1926 war auch noch Leiter eines Orchesters in Stockholm, dazu noch zahlreiche Aufgaben im tschechischen Musikleben. Der „diktatorisch“ arbeitende, Eingriffe in tschechische Nationalopern nicht scheuende Talich war früh von den Kommunisten und deren „Chefideologen“ Nejedlý angegriffen, von wahren Musikkennern aber immer verehrt worden. Mit ihm reisten der Geigenvirtuose Váša Příhoda (1900-1960), die Sänger Pavel Ludikar und Jan Konstantin, der Komponist Celestin Rypel (1894 –1946), der Schauspiel-Chef des Nationaltheaters Jan Bor (1886-1943), der kurz vor dem Münchner Abkommen einen Film über die tschechoslowakische Armee gedreht hatte, der zum allgemeinen Widerstand gegen die deutsche Gefahr aufrief.
Neben Literaten und Künstlern standen auch prominente Namen aus Literaturkritik und Verlagswesen auf der Passagierliste, darunter der von Bedřich Fučík (1900-1984), dem wohl bedeutendsten Literaturkritiker der damaligen Tschechoslowakei, zudem 1929-1939 Chef des angesehenen Verlagshauses „Melantrich“. Sein beruflicher Konkurrent, der Verleger Julius Firt, hat in seinen Memoiren[7] ein sehr lebendiges Porträt von Fučík entworfen: Er tauchte als Unbekannter auf, landete mit der tschechischen Ausgabe von Remarques „Im Westen nichts Neues“ einen Riesenerfolg – „über 100.000 Exemplare“ – und „eilte von da ab von Erfolg zu Erfolg“. Neben Fučík saßen weitere Prominente im Zugabteil: Hubert Masařík, Verwaltungschef des Tschechischen Rundfunks, František Hofman, Direktor der Nachrichtenagentur ČTK und andere „große und kleine Namen“.
Die Reise durchs „gottverlassene“ Groß-Deutschland
Erstes Reiseziel war München, „die Wiege der Nazi-Bewegung“ (Kosatík). Die tschechischen Gäste wurden in das neuerbaute Haus der Deutschen Kunst geführt, wo sie sich eine „Ausstellung moderner deutscher Kunst“ anschauten. Danach gab es ein festliches Abendessen, wobei jeder eine „Statue eines bayerischen Knaben“ geschenkt bekam. Das war der angenehme Teil des Abends. Zuvor hatten sich die deutschen Gastgeber noch eine besondere Infamie ausgedacht: Die Tschechen mussten Hitlers Arbeitszimmer betrachten, also jenen Ort, an welchem im September 1938 das „Münchner Abkommen“ unterzeichnet worden war. Für den Ex-Diplomaten Masařík war es bereits der zweite Besuch – er hatte 1938 die ganze Nacht warten müssen, als hinter verschlossenen Türen „über uns ohne uns“ entschieden wurde.
Von München ging es weiter nach Nürnberg, wo den Tschechen ein Besuch des Geländes der Reichsparteitage nicht erspart blieb. Auch eine Baustelle für ein „Weltwunder“ mussten sie sich anschauen, „einen Versammlungssaal für 150.000 Menschen“. Erst dann folgte eine Erholung – eine Schiffahrt auf dem Rhein, vorbei an historischen Orten und weltbekannten Burgen.
Die Reise hatte ab dem ersten Schritt auf deutschem Boden ihre eigene Dramaturgie – entspannende Momente wechselten mit anderen, die an mittelalterliche Prozesse erinnerten: Den (mutmaßlichen) Delinquenten wurden die Folterinstrumente zunächst nur gezeigt, damit sie gleich in Furcht und Schrecken versetzt wurden.
Eine solche „Folterstätte“ waren die Krupp-Werke in Essen. Hier mussten die Tschechen fünf Stunden lang eine „Haupthalle“ nach der anderen besichtigen, damit sie den „richtigen“ Eindruck von Hitlers Kriegsanstrengungen mit nach Hause nahmen. Auch die ehemalige Tschechoslowakei war ein hochkarätiger Waffenproduzent gewesen, aber vor so viel geballter Zerstörungskraft konnten tschechische Intellektuelle kaum mehr als psychische Erschütterungen davon tragen.
So erging es Jaroslav Durych. Der war in den 1920-er Jahren auf Materialsuche weit in Deutschland herumgekommen und hatte über seine Fahrt eine sehr interessante, für Deutsche schmeichelhafte Reisebeschreibung verfasst: Ein „dunkles“ Land hatte er erwartet, ein lebendiges gefunden, das auch nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, „anders als die Tschechoslowakei“, Geist und Kultur ausstrahlte. Jetzt überkam ihn auf deutschen Straßen das Empfinden, dass die Deutschen wirklich von Gott verlassen seien. Zusammen mit Bedřich Fučík durchstreifte er Kirchen, Kathedralen und Klöster, um wenigstens noch eine kleine Spur von Gott in Deutschland zu entdecken.
Anders und schlimmer erging es dem Dichter Josef Hora. Er glaubte nicht an Gott, war schwer krank und litt unter dem Stigma früherer „linker“ und pointiert tschechisch-nationaler Schriften. Jetzt hatte ihn der „Aktivist“ (Kollaborateur) Lažnovský bei seiner Zeitung angestellt, um mit Horas Namen die kollaborationistische Linie des Blatts zu tarnen. Ab dem 19. September erschienen im „České slovo“ Horas Reisefeuilletons „Dojmy z říše“ (Eindrücke aus dem Reich) – das Zeugnis eines verzweifelten Poeten, der seine Tschechen warnen wollte, indem er ihnen die Monotonie neudeutscher „Kunst“ oder die verheerende Wirkung deutscher Bomben auf Rotterdam mit kaum verhüllten Worten vorstellte. In Köln hatten Hora, Durych und Fučík genug von der Reise und wollten zurückkehren. Der „Aktivist“ Krychtálek hinderte sie daran. Der war nämlich von dem begeistert, was Hora so erschreckt hatte, dass er es seinen Lesern mitteilte: „Von den vor langer Zeit erbauten Orten siehst du nur noch die Grundmauern. Nur zwanzig Minuten lang griffen die Flugzeuge der Reichsluftwaffe das Handelsviertel an, aber sie kamen zu Hunderten. Und ihre Bomben verfehlten nichts“.
Zum Befehlsempfang bei Goebbels
Am 10. September landete die Gruppe in Berlin, am folgenden Tag empfing Goebbels die tschechischen Kulturschaffenden. Sie schenkten ihm ein Bild von Prag und bekamen als Gegengabe – einen langen Vortrag, wie sich Hitlers Propagandachef das zukünftige Verhältnis zwischen „Reich“ und „Protektorat“ vorstellte[8]: Binnen kurzem sei England besiegt, und dann werde der „Führer“ im Großen realisieren, was vormals Bismarck im Kleinen vollbracht habe – Bismarcks Einigung Deutschlands werde Hitler zu einem „neuen Europa“ ausweiten. Dabei würden natürlich höchst unterschiedliche Regionen und Völkerschaften zusammenkommen und es hinge allein von ihnen selber ab, wie ihre Stellung im „Reich“ sich gestalte. Das gelte vor allem für die Tschechen, denen Goebbels einen Rat gab: „Ist es nicht günstiger, die letzten Vorbehalte zu begraben und stattdessen freiwillig und loyal ein Bestandteil des Deutschen Reichs zu sein? Kann es denn nicht auch einen Tschechen mit Stolz erfüllen, wenn beispielsweise Hamburg auch als seine Hafenstadt erkennt?“ Aber der Minister konnte auch anders: „Meine Herren, ob Sie dieser Einstellung zustimmen oder nicht, ist gleichgütig; ob Sie sie von Herzen begrüßen oder nicht, ist unwesentlich. Da Sie sowieso Bestandteil des Reichs geworden sind, sehe ich keinen Grund, warum sich das tschechische Volk in eine innere Opposition gegen das Reich begeben und warum es nicht lieber die Vorzüge des Reichs für sich nutzen sollte. Unser großes, national stärkstes Reich hat praktisch die Führung Europas übernommen. Daran ist überhaupt nichts mehr zu ändern und zu bezweifeln“.
Eine tschechische Übersetzung der Goebbels-Rede wurde am 13. September 1940 im „České slovo“ veröffentlicht. Der Pressechef des deutschen Reichsprotektors, Wolfgang Wolfram von Wolmar, sorgte in den folgenden Tagen dafür, dass die Rede auch anderweitig verbreitet wurde. Er verwies im kleinen Kreis darauf, dass Goebbels gewissermaßen dem Frieden im Protektorat nicht traute: Daß die Arbeiter und Bauern arbeiteten, die Beamten ihren Dienst versahen, keine Fälle von Sabotage vorfielen etc., erschien dem Minister kein „Beweis für Treue zum Reich und Reichsdenken“ bei den Tschechen. Die hätten sich nur geduckt, denn „wer nicht arbeitet, wird eingesperrt und verliert seine Existenz“. Goebbels glaubte, dass seine Rede „genügend Stoff“ enthielte, um die Tschechen zu bewusster Loyalität zu bringen, und war darum selber an der Verbreitung des Textes interessiert.[9] Insgesamt schien der Minister die tschechische Denkart realistischer einzuschätzen als v. Wolmar. Der wollte „den heutigen Reichangehörigen tschechischer Zunge Geschichtsirrtümer überwinden helfen, die in der Vergangenheit nur zu dem Zweck künstlich gezüchtet worden sind, das tschechische Volk aus dem Reich auszugliedern, um es in ein anderes System, das der schicksalhaften Mitte des europäischen Raums feindlich war, hineinzuzwängen“.[10]
Goebbels’ Rede machte auf drei Tschechen einen gewissen Eindruck. Der Komponist Rypl versprach, er werde bei der Umgestaltung Europas dabei sein. Der Schriftsteller Renč drückte die Hoffnung aus, das „Reich“ werde auch das „Protektorat“ von gewissen „Sumpfblüten“ reinigen, vor allem von dem „liberalen Erbe der westlichen Demokratien“. Den Vogel aber schoß ČTK-Chef Hofmann ab, als er bei der Schilderung eines britischen Bomberangriffs auf Hamburg die Arbeit „unserer Luftabwehr“ lobte und dabei die deutsche meinte. Als ständiger Teilnehmer der Pressekonferenzen bei v. Wolmar sorgte er nach der Rückkehr von der Reise dafür, dass die Rede als „klare Grundlage für die Stellung des Protektorats im Deutschen Reich und für die Stellung des tschechischen Volks“ breite Publizität erfuhr.
Andere blieben unbeeindruckt, auch wenn sie über ihre „Eindrücke“ in tschechischen Blättern berichten mussten. Der Dirigent Talich schrieb einen Berliner Theaterzettel ab und gab das als Feuilleton zu deutscher Musik aus. Der Schriftsteller Josef Träger referierte über Uraufführungen an deutschen Theatern und fügte hinzu, dass ihn keine interessiert hätte. Und der Schriftsteller Josef Knap teilte nur mit, dass er den Lesern gar nichts zu sagen habe – er sei krank gewesen und habe von der ganzen Reise so gut wie nichts mitbekommen.
Um so voller griffen die „Aktivisten“ in die Saiten. Im „České slovo“ war am 26. September 1940 als Fazit der Reise zu lesen: „Dieses große Reich wird auch unser Reich sein. (…) Seien wir gute Tschechen und wir werden ein herrliches Leben haben in diesem neuen, großen Europa, wo sich unsere Grenzen bis zum Meer erstrecken. Künftig werden wir in unser Hamburg fahren, unseren Rhein besuchen“.
Nachspiele
Freude hat die Reise wohl nur wenigen gemacht, aber manchen brachte sie früher oder später gefährliche Folgen. Der „Aktivist“ Krychtálek wurde 1947 vom Nationalgericht zum Tode verurteilt und am 8. April hingerichtet. Dem Dirigenten Talich verweigerte man bereits Anfang Mai 1945, also nur Stunden nach der Befreiung Prags, den Zutritt zum Nationaltheater: Er sei ein Kollaborateur, denn er habe mit der Tschechischen Philharmonie in Berlin gespielt, wobei Goebbels und andere NS-Größen anwesend waren. Ein paar Tage später traf er bei einer Feierstunde an Smetanas Grab auf seinen Erzfeind, den Kommunisten Nejedlý, der ihn beschuldigte, der tschechischen Musik „Unehre“ angetan zu haben, indem er Smetana vor den Nationalsozialisten aufführte. Am 16. Mai 1945 wurde er verhaftet und in das Gefängnis Pankrác eingeliefert – ein Protestbrief der Philharmonie an die Regierung blieb unbeantwortet. Nach acht Wochen Haft kam Talich auf Weisung von Präsident Beneš wieder frei, ein Gerichtsverfahren gegen ihn wurde „wegen Mangels an Beweisen“ niedergeschlagen, ein Ehrengericht des Musikerverbands urteilte im November 1945, Talich „könne nicht im Geringsten eines untschechischen Verhaltens beschuldigen“. Ab Dezember 1946 arbeitete Talich wieder in der Philharmonie, ab Juli 1947 war er erneut musikalischer Leiter des Nationaltheaters. Nach dem kommunistischen Putsch vom Februar 1948 wurde Nejedlý Kulturminister, der Talich augenblicklich aus allen seinen Funktionen hinauswerfen ließ, ihm aber gestattete, in der Slowakei eine neue Karriere zu beginnen. Erst 1954 durfte er wieder mit der Tschechischen Philharmonie konzertieren.
Auch andere Reiseteilnehmer hatten Schlimmes auszustehen, am schlimmsten traf es Fučík. Er wurde 1951 verhaftet und im Juni 1952 in einem Schauprozeß zu 15 Jahren Haft verurteilt. Von Kollaboration war dabei nur am Rande die Rede, da Fučík zusammen mit anderen katholischen Autoren als „Verschwörer“ vor Gericht stand. 1960 kam er nach einer Amnestie frei, 1967 wurde er vollauf rehabilitiert. Ein Kollaboration hätte man ihm auch nicht „anhängen“ können, da es in Prag zu viele ehrliche Zeugen gab, die Fučíks geschickten Umgang mit deutschen „Treuhändern“ zugunsten tschechischer Autoren und Verlage beschworen hätten.
Der Dichter Durych brach auch nach dem Krieg sein zuvor selbst auferlegtes Schweigen nicht. Er lebte in völliger Abgeschiedenheit, sein Tod 1962 wurde von der Kulturöffentlichkeit fast gar nicht zur Kenntnis genommen.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Kosatík. Pavel: „Člověk má dělat to, nač má sílu“ – Život Olgy Havlové (Der Mensch soll das tun, wozu er die Kraft hat“ – Das Leben der Olga Havel), Prag 1997.
Kosatík, Pavel: 3. září 1940 – Čeští umělci jedou za Goebbelsem do říše (3. September 1940: Tschechische Künstler reisen zu Goebbels ins Reich), in: Týden (Prag) 29.8.2005
Perzi, Niklas: Die Beneš-Dekrete – Eine europäische Tragödie, St. Pölten/ Wien/ Linz 2003.
Anmerkungen
[1] Pavel Kosatík: „Člověk má dělat to, nač má sílu“ – Život Olgy Havlové (Der Mensch soll das tun, wozu er die Kraft hat“ – Das Leben der Olga Havel), Prag 1997
[2] Pavel Kosatík: 3. září 1940 – Čeští umělci jedou za Goebbelsem do říše (3. September 1940: Tschechische Künstler reisen zu Goebbels ins Reich), in: Týden (Prag) 29.8.2005
[3] Als „Sudetenland“ wurde ab 1900 sporadisch, ab 1918 systematisch der mehrheitlich von Deutschen besiedelte Grenzstreifen um Böhmen und Mähren bezeichnet. Obige Karte (aus: Neue Zürcher Zeitung 21.8.1938) zeigt die räumliche Verteilung der deutschen Besiedlung und deren Dichte.
[4] Detailliert Niklas Perzi: Die Beneš-Dekrete – Eine europäische Tragödie, St. Pölten/ Wien/ Linz 2003, S. 142 ff.
[5] Brücke-Most-Stiftung (Hrsg.): Kde domov můj… – Wo ist meine Heimat… Spuren tschechisch-deutscher Gemeinsamkeiten im 19. und 20. Jahrhundert. Stopy německo-českého vzájemnosti v 19. a 20. století, Dresden/ Prag 1999, S. 315 ff.
[6] Jan Drábek: Po uší v protektorátu (Ohrenzeuge im Protektorat), Prag 2001
[7] Julius Firt: Knihy a osudy (Bücher und Schicksale), Köln 1972, S. 109 ff.
[8] Eine tschechische Übersetzung der Rede unter www.fronta.cz
[9] Detailliert dazu Jakub Končelík et al.: Český tisk pod vládou Wolfganga Wolframa von Wolmara (Die tschechische Presse unter der Herrschaft von W.W.v.W.), Prag 2003. W. v. Wolmar amtierte 1939-1941, und in diesem Buch sind die stenographischen Aufzeichnungen verarbeitet, die der tschechische Journalist Antonín Finger bei den Pressekonferenzen angefertigt hatte.
[10] Wolfgang Wolfram von Wolmar: Prag und das Reich – 600 Jahre Kampf deutscher Studenten, Dresden 1943, S. 4