Achim Bühl: Rassismus. Anatomie eines Machtverhältnisses, Marixverlag, Wiesbaden 2016.
Bühls Soziologie des Rassismus ist als Plädoyer gegen einen engen und für einen weiten Rassismusbegriff zu lesen. Klassischerweise wurde Rassismus als politische Ideologie begriffen und damit auf die Moderne beschränkt sowie auf Rassentheorien zugespitzt.[1] An Rassentheorien hält heute kaum jemand fest und doch ist der Rassismus als gesellschaftliches Phänomen nicht verschwunden. Deshalb versteht Bühl Rassismus mit Michel Foucault als Ensemble aus Diskursen und Praktiken. Das erlaubt es ihm, den Blick auf rassifizierende Diskurstechniken sowie auf institutionellen Rassismus und Alltagsrassismus zu lenken. Außerdem kann der Autor auf Verbindungen zu Phänomenen hinweisen, die im öffentlichen Diskurs gar nicht unter Rassismus verhandelt werden, so unter anderem Antifeminismus, Islamfeindlichkeit oder Klassismus. Voraussetzung für Rassismus ist demnach lediglich die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Wir-Gruppe und Fremdgruppe, der als ewig und wesenhaft aufgefasst wird und einem Machtgewinn gegenüber der Fremdgruppe dient. (S. 9, 55) Eine „Rasse“ ist eine sozial konstruierte Gruppe und damit nicht nur das geistige Produkt von Biologen, Ethnologen und Anthropologen der prä-molekulargenetischen Zeit, d.h. vom späten 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Soweit kann man Bühl folgen.
Die Entkoppelung von Rassismus und Rassenideologie hat allerdings auch bedenkliche Nebenwirkungen. So ist die Abgrenzung zum Vorurteil, das ja ebenso auf einer Selbstaufwertung durch die Abwertung anderer beruht, nicht mehr trennscharf. Fundamentale Unterschiede zwischen vormodernem und modernem Rassismus werden künstlich eingeebnet. Moderne Sklaverei war immer auch mit rassischer Differenz zwischen Sklave und Sklavenhalter verbunden. Bei der antiken Sklaverei war das nicht der Fall. Vormoderne Gegensatzpaare wie Grieche und Barbar oder Christ und Ungläubiger generierten essentialistische soziale Ungleichheit, beruhten aber nur in Ausnahmefällen auf Vorstellungen über biologische Fortpflanzungskollektive. Protorassismus lässt sich daher mit Zygmunt Bauman als soziale Konstruktion des „Anderen“ bzw. „Fremden“ verstehen, nicht aber mit Foucaults Konzept der Bio-Macht, das explizit für den neuzeitlichen Rassismus entworfen wurde.[2] Unter Zusammenführung von Foucault und Bauman hätte man Rassismus, enger aber angemessener, als Soziobiologisierung von gruppenbezogenen Vorurteilen definieren können. Die Wasserscheide in der Geschichte des Rassismus wäre dann, so wie es auch Bühl annimmt (S. 97), die Aufklärung. Ihr naturwissenschaftliches Denken schuf die folgenschwere Option, rassistisches „Wissen“ pseudowissenschaftlich zu legitimieren und es in der Natur anstatt in der Metaphysik zu verankern. Anders als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno betreibt Bühl allerdings eine Aufklärungskritik ohne Dialektik.[3] So entgeht ihm, dass Rationalismus, Wissenschaftsdenken und individualistische Rechtsphilosophie Ungleichheiten jeglicher Art überhaupt erst hinterfragbar machten. Mit der Aufklärung beginnt auch die Geschichte des Anti-Rassismus.
Große Probleme bereitet zudem ein vager Macht-Begriff, den Bühl von Foucault übernimmt und dieser wiederum von Nietzsche kopiert hat. Foucault versteht Macht nicht als etwas, das von einem Zentrum auf eine Peripherie ausgeübt wird. Vielmehr ist er der Überzeugung, dass Machtverhältnisse durch Diskurse überhaupt erst erzeugt werden. Dieser radikalkonstruktivistische Ansatz nimmt leider Intentionen und Motive handelnder Akteure völlig aus dem Spiel, denn der rassistische Diskurs selbst wird zum historischen Akteur erklärt. So begnügt sich Bühl damit, seine zahlreichen Beispiele für rassifizierende Diskurstechniken allein kulturanthropologisch und nicht ideologiekritisch zu analysieren. Affenrufe gegen einen schwarzen Fußballspieler sind bei ihm genauso rassistisch wie ein ironisches Buchcover eines schwarzen Komikers. Alice Schwarzers Aussagen über Antifeminismus im Islam sind ebenso antimuslimischer Rassismus wie das Manifest des Massenmörders Breivik. Dass es Martin Luther um die Religion und Adolf Hitler um Nation und Rasse ging, ist völlig gleichgültig. Da Bühl nur auf Diskurstechniken und nicht auf Inhalt und Kontext des Gesagten schaut, sind beide Rassenantisemiten. Wenn man die Maßstäbe des Autors anlegt, kann man an britischen und französischen Text- und Bildquellen nachweisen, dass es in beiden Ländern während des Ersten Weltkriegs einen antigermanischen Rassismus gegeben hat. Den Entstehungskontext der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien ignorierend, ist dieser Umstand zu einem rechtsradikalen bzw. rechtspopulistischen Propagandaklassiker geworden. Natürlich vermeidet Bühl dieses Beispiel, weil es zeigt, dass mit einem entgrenzten Rassismusbegriff nicht nur „Linke“ hausieren gehen können. Wer nicht bereit ist, nach Intentionen, Motiven und Ursachen zu fragen, stellt faktisch die Regel auf: Der selbsterklärte Anti-Rassist bestimmt mittels einer willkürlichen kulturalistischen Hermeneutik, wer Rassist sein soll. Zwar verweist Bühl auch ausführlich auf nicht-diskursive Formen des Rassismus, doch der radikalkonstruktivistische Werkzeugkasten hält für deren Analyse nicht die richtigen Instrumente bereit. Der Kolonialrassismus fußte im Wesentlichen auf faktischer militärischer, wirtschaftlicher und technologischer Ungleichheit, die Abhängigkeitsverhältnisse hervorbrachte und Ausbeutung ermöglichte.[4]
Wenn nicht nur die „Rasse“, sondern auch der Rassismus ein diskursives Konstrukt sein soll, hat das natürlich Folgen für den Anti-Rassismus. Bühl ist ein Befürworter des „political-correctness-Ansatzes“, der meint, Rassismus bannen zu können, indem man rassistische Sprache und Symboliken aus der Öffentlichkeit verbannt. Man kann strukturellen Rassismus aber nicht mit linguistischen Tricks bekämpfen. Wenn nicht mehr vom „Negerkuss“ gesprochen werden darf, bleiben Schwarze trotzdem bei der Wohnungs- und Arbeitssuche benachteiligt. Wenn es keine „Zigeunersoße“ mehr gibt, werden Sinti und Roma immer noch bevorzugt abgeschoben. Und der Mann wird sich mit dem Gendern schon abfinden, solange die Frau weiter das Klo putzt. Die Umbenennung von Straßennahmen aus der Kolonialzeit ist ein günstiger Ersatz für Entschädigungszahlungen an Namibia. Kostenloses Moralisieren ist leider typisch für die „neue Linke“, die an materiellen Herrschaftsstrukturen nichts ändern will (– weil sie als bildungsbürgerliche Elite selbst von ihnen profitiert –), sich aber mit Sprach- und Symbolpolitik ein gutes Gewissen verschaffen möchte. Genau zu diesem Zweck wird heute der Anti-Rassismus leider oft missbraucht.[5] Mit hysterischer Skandalisierung und sprachpolitischen Feldzügen kann man weder gesellschaftliche Lernprozesse anstoßen noch Opfergruppen schützen. Vielmehr verschafft ein (leider auch von Bühl) falsch verstandener Anti-Rassismus Rassisten eine Opferrolle, die sie dankend annehmen. Die AfD hat daraus ein sehr erfolgreiches Geschäftsmodell gemacht.
Autor: Thomas Gräfe
Achim Bühl: Rassismus. Anatomie eine Machtverhältnisses, Marixverlag, Wiesbaden 2016. ISBN 9783737410342, Broschiert, 320 Seiten, 15,00 EUR
Anmerkungen
[1] So noch Patrik von zur Mühlen, Rassenideologien. Geschichte und Hintergründe, Berlin 1977.
[2] Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, München 2007.
[3] Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. (15. Aufl.) 2004.
[4] Jürgen Osterhammel/ Jan C. Jansen, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München (9. Aufl.) 2021.
[5] Themenheft (Anti-)Rassismus, Aus Politik und Zeitgeschichte 70, 42-44 (2020).