Die Protokolle der Weisen von Zion sind ein fiktives „Dokument“, das vorgab, jüdische „Machenschaften“ zur Beherrschung der ganzen Welt aufzudecken.
Es war aus einer 1864 in Brüssel erschienenen Satire von Maurice Joly gegen Napoleon III., dem DiaIogue aux Enfers entre Montesquieu et Machiavel (Dialog zwischen Montesquieu und Machiavelli in der Hölle) übernommen worden und war zunächst in Russland weit verbreitet. Den „Protokollen“ und ihren verschiedenen Einführungen und Kommentaren zufolge unterminierten die Juden die europäische Gesellschaft, indem sie die Französische Revolution, den Liberalismus, den Sozialismus, den Kommunismus und die Anarchie heraufbeschworen hätten. Gleichzeitig würden sie den Goldpreis manipulieren und eine Finanzkrise schüren, die Kontrolle über die Medien erwerben und religiöse und ethnische Vorurteile nähren. Nach der Übernahme der Weltherrschaft planten sie ein monarchistisches Regime. Bei diesen Plänen würden die Juden von den Freimaurern unterstützt.
Die „Protokolle“ waren ursprünglich reaktionäre Propaganda, die die Französische Revolution als freimaurerische Konspiration darzustellen versuchte. In der Mitte des 19. Jahrhunderts tauchten derartige Behauptungen auch in der deutschen Presse auf. Eine erste Fassung der „Protokolle“ erschien in dem Roman Biarritz (1868), geschrieben von Hermann Goedsche und später in Berlin unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe (später verändert in Readclif). In dem Kapitel „Auf dem jüdischen Friedhof in Prag“ werden die Vertreter der zwölf Stämme Israels bei ihrer einmal jährlich stattfindenden Zusammenkunft beschrieben, wo sie über den Fortschritt des Plans, die Weltherrschaft zu übernehmen, berichten. Am Ende der Sitzung drückt der Vorsitzende Levit die Hoffnung aus, dass bei der nächsten Zusammenkunft, 100 Jahre später, die Juden die „Könige der Welt“ sein werden. Diese Rede, bekannt geworden als die „Rede des Rabbiners“, bildete ein Grundelement der „Protokolle“ und wurde in breiten Kreisen rezipiert. Ähnliche Vorstellungen wurden auch Ende des 19. Jahrhunderts in Russland propagiert, besonders in den Büchern von Osman Bey. Die „Protokolle“ selbst sind wahrscheinlich zur Zeit der Dreyfus-Affäre (1894) von Pjotr Iwanowitsch Ratschkowski verfasst worden. Ratschkowski war Leiter der Auslandsabteilung der russischen Geheimpolizei (Ochrana), die ihren Sitz in Paris hatte. Die französische Rechte wollte ein Dokument, das Alfred Dreyfus die Beteiligung an einer Konspiration nachwies, während die Russen mit den „Protokollen“ ihre antisemitische Politik rechtfertigen wollten. 1903 veröffentlichte ein zaristischer Agent, Pawlokai Kruschew, eine gekürzte Fassung des „Dokuments“ in dem Pamphlet Programm für die Weltregierung der Juden. 1905 publizierte G. W. Butmi zusammen mit Kruschew eine ungekürzte Fassung der „Protokolle“ unter dem Titel Die Wurzel unserer Probleme. Doch den größten Einfluss hatte die von Sergei Nilus (ebenfalls 1905) publizierte Fassung in der dritten Ausgabe seines Buches Großes im Kleinen. Aufzeichnungen eines Orthodoxen. Nilus war vermutlich durch Ratschkowski, einen seiner Mitarbeiter, in den Besitz des „Dokuments“ gelangt. Bei ihrer Flucht in den Westen brachten die Gegner der russischen Revolution die „Protokolle“ mit. In Deutschland veröffentlichten Pjotr Nikolajewitsch Schabelsk-Bork und Fjodor Viktorowitsch Winberg den gesamten Text der „Protokolle“ in der 3. Ausgabe ihres Jahrbuches, Lutsch Sweta (Ein Lichtstrahl, Berlin 1920). Ein Jahr zuvor war von Ludwig Müller (alias Müller von Hausen) unter dem Pseudonym Gottfried zur Beck eine deutschsprachige Ausgabe der „Protokolle“, mit dem Titel Die Geheimnisse der Weisen von Zion, herausgegeben worden. Zwischen 1919 und 1923 schrieb der NSDAP-Ideologe Alfred Rosenberg, Deutsch-Balte aus dem heutigen Estland, fünf Pamphlete über die vermeintliche Konspiration. Bis zum Zusammenbruch des NS-Systems wurden die „Protokolle“ häufig in dem von Julius Streicher herausgegebenen Hetzblatt Der Stürmer und in der Zeitung der NSDAP, dem Völkischen Beobachter, zitiert; 1933 erschien eine Ausgabe für die NSDAP.
In den 20er Jahren tauchten die „Protokolle“ zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten auf, wo eine Reihe von Zeitungen die „Grundthesen“ veröffentlichte und die „jüdische Konspiration“ mit dem Bolschewismus in Zusammenhang brachte. Zu ihnen gehörte die Zeitung Henry Fords, The Dearborn Independent. Sie veröffentlichte im Sommer 1920 eine Artikelserie, die sich auf die „Protokolle“ stützte und danach als Buch mit dem Titel The International Jews. The World’s Foremost Problem in einer Auflage von 100.000 Exemplaren erschien. Im Juni 1927 lehnte Ford die Verantwortung für die Artikel ab und versuchte, das Buch zurückzuziehen, doch in der Zwischenzeit war es bereits in sechs Sprachen übersetzt worden. In Großbritannien wurden die „Protokolle“ 1920 von den meisten großen Zeitungen veröffentlicht; selbst die Londoner Times behandelte sie als ein ernstzunehmendes Dokument und veröffentlichte sie in ihrer Ausgabe vom 8. Mai 1920.
Als jedoch ihr eigener Korrespondent das Dokument als Fälschung entlarvte, klärte die Times am 18. August 1921 den Sachverhalt auf. Von da an waren die „Protokolle“ in Großbritannien diskreditiert. Zwischen den Weltkriegen wurden weltweit zahlreiche Ausgaben der „Protokolle“ auf Polnisch, Rumänisch, Ungarisch, Tschechisch, Serbokroatisch, Griechisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Flämisch, Schwedisch, Lettisch und Arabisch veröffentlicht. Während des Zweiten Weltkriegs erschienen auch Ausgaben in Norwegisch und Holländisch. Vor dem Zweiten Weltkrieg fanden zwei Prozesse statt, die die Protokolle der Weisen von Zion als Fälschungen bestätigten: in Port Elizabeth in Südafrika und 1934/35 in Bern (Schweiz). Die in den „Protokollen“ enthaltenen Vorstellungen waren zu dieser Zeit weit verbreitet. Viele führende Nationalsozialisten, einschließlich Adolf Hitler, Heinrich Himmler und Rosenberg, glaubten an ihre Echtheit. Hitler galt gerade die Behauptung, die „Protokolle“ seien eine Fälschung, als Beweis für ihre Authentizität. Im Gespräch mit Hermann Rauschning (Gespräche mit Hitler, 1940) brüstete sich Hitler angeblich, viel aus den „Protokollen“ gelernt zu haben: politische Intrigen, politische Praktiken, Verschwörungen, revolutionäre Spaltung, Tarnung, Ablenkung und Methoden der Organisation. Alfred Rosenbergs weltanschauliche Thesen in seinem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts basieren ebenfalls auf dem Glauben an die Echtheit der „Protokolle“. Ohne Zweifel leisteten die Protokolle der Weisen von Zion der nationalsozialistischen Ideologie Vorschub und stellten, wie Norman Cohn schrieb, eine Art Freibrief für den Holocaust aus. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die „Protokolle“ weiterhin veröffentlicht, vor allem im Nahen und Mittleren Osten und in den Ländern des kommunistischen Blocks. Auch in vielen südamerikanischen Ländern, in Spanien, Italien und Japan erschienen neue Ausgaben, und die in den „Protokollen“ verbreiteten Vorstellungen bilden den wichtigsten Anknüpfungspunkt, nicht nur für die Leugnung der Ermordung der europäischen Juden, sondern auch um das Recht Israels auf einen eigenen Staat zu diskreditieren.
Literatur
Bärsch, C.-E.: Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998.
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.
Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München 1998.
Kammer, Hilde / Elisabet Bartsch / Manon Eppenstein-Baukhage / Manon Eppenstein-Baukhage: Lexikon Nationalsozialismus, Berlin 1999.
Sammons, Jeffrey L.: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Göttingen 1998.