Der Überfall auf die Sowjetunion (Unternehmen Barbarossa)
In seinem Aufruf an die „Soldaten der Ostfront“ vom 22. Juni 1941 rechtfertigte Hitler den am gleichen Tag begonnenen Angriff auf die Sowjetunion damit, eigentlich sei der Einmarsch der Wehrmacht in Russland gar kein Angriffskrieg, sondern lediglich eine vorbeugende Militäraktion, um die Absicht der Roten Armee zu durchkreuzen, das Deutsche Reich zu überfallen. Diese ursprünglich von den Nazis aufgestellte These vom Charakter des Russlandfeldzuges als rein vorbeugende Maßnahme – als Präventivkrieg – wird seither in immer neuen Varianten verbreitet. Der Bestsellerautor Paul Carell hat mit seinem Zitat von Hitlers o.g. Aufruf, mit dem er jede der zahlreichen Auflagen seines 1963 erstmals erschienenen Buches „Unternehmen Barbarossa“ einleitete (S.13f.), maßgeblich zur Verbreitung dieser Behauptung beigetragen, wobei seine Leser meist nicht wissen, dass sich hinter dem Pseudonym „Paul Carell“ der Pressesprecher des NS-Außenministers Joachim von Ribbentrop und SS-Obersturmbannführer Paul Karl Schmidt verbirgt. Seither gelten als die wichtigsten Vertreter der Präventivkriegsthese u.a. Joachim Hoffmann, bis 1995 Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr („Stalins Vernichtungskrieg“), Ernst Topitsch, ehemaliger Sozialphilosoph an der Universität Graz („Stalins Krieg“), Viktor Suworow („Der Eisbrecher“), bei dem es sich um den 1983 in den Westen übergelaufenen ehemaligen russischen Geheimdienstoffizier Wladimir Resun handelt und Walter Post (Unternehmen Barbarossa), dessen 1995 erschienener und 2001 bereits in 4. Auflage erschienener Band von einem Geleitwort Paul Carells (S.9ff.) geschmückt wird, für dessen Unterstützung der Autor in seiner „Danksagung“ folgende Worte findet: „In erster Stelle sei Dr. Paul K. Schmidt-Carell genannt, ohne dessen Initiative und Ermutigung dieses Buch nicht geschrieben worden wäre“ (S.12). So schließt sich der Kreis der Präventivkriegsvertreter von Carell bis Post.
In ihrer „Beweisführung“ gehen die genannten Autoren übereinstimmend von einer überlegenen machtpolitischen Position der UdSSR im internationalen System 1941 aus, eine Annahme, die mit der Realität wenig gemein hat, auf deren Basis aber nichtsdestotrotz sowjetische Truppenmassierungen an der Grenze zum Deutschen Reich ab März 1941 als Angriffsabsicht der Roten Armee gedeutet werden. Verschwiegen wird die Lagebeurteilung dieser Massierung sowjetischer Truppen in Grenznähe durch die eigene Feindaufklärung der Wehrmacht. So bewerten die für den Generalstab des Heeres erstellten Lageberichte der Abteilung Fremde Heere Ost die erst seit März 1941 stattfindenden russischen Truppenkonzentrationen an der deutschen Ostgrenze unmissverständlich als logische Folge der vorhergehenden massiven Verstärkung der Wehrmacht auf der anderen Seite der Grenze und als im Kern eindeutig defensive Maßnahmen der Roten Armee (die Lageberichte sind abgedruckt in dem unten genannten Band von Ueberschär/Bezymenskij). Einen weiteren „Beweis“ für ihre These sehen die Präventivkriegsbefürworter in Stalins Rede vom 5. Mai 1941 vor Absolventen der sowjetischen Militärakademien, bei der er diese Offiziere auf mögliche künftige Auseinandersetzungen mit Deutschland orientierte. Richtig ist, dass Stalin sich der Realität stellen musste, die einen Krieg zwischen Hitler-Deutschland und der UdSSR immer wahrscheinlicher erscheinen ließ und diesen für eigene skrupellose machtpolitische Ambitionen nutzen wollte. Die Anzeichen für Kriegsabsichten der Wehrmacht Hitlers konnte auch er nicht übersehen. Dennoch sprach er sich schon allein auf Grund des desolaten Zustandes der Roten Armee und der schwachen Stellung der UdSSR im internationalen politischen System dafür aus, den von NS-Deutschland angestrebten Krieg so lange wie möglich zu vermeiden. Als „ultimativer Beweis“ wird dann der Mitte Mai von Generalstabchef Schukow vorgelegte Präventivkriegsplan, „dem Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen“ ins Feld geführt – eine militärische Option, die zum einen erst im letzten Moment in Erwägung gezogen wurde, als der deutsche Aufmarsch offensichtlich war, und von Stalin bekanntlich nicht in die Tat umgesetzt wurde. Die jüngste Analyse des russischen Experten Oleg Wischljow, Historiker an der Akademie der Wissenschaften Russlands in Moskau, zu den militärischen Absichten und Plänen der UdSSR im Sommer 1941 widerlegt Punkt für Punkt diese „Beweise“ der Präventivkriegsbefürworter für ihre These von den sowjetischen Angriffsabsichten.
Den Vertretern der Präventivkriegsthese fehlen jedoch nicht nur überzeugende Argumente für ihre Behauptung. Sie vernachlässigen zudem einschlägige Fakten zur Klärung des Sachverhaltes: Neben den bereits erwähnten Lageberichten der Wehrmacht u.a. auch den historischen Tatbestand, dass Hitler laut Tagebucheintrag seines Generalstabchefs Halder vom 31. Juli 1940(!) schon zu diesem Zeitpunkt zum Angriff auf Russland entschlossen war und dessen Planungen nun konsequent vorangetrieben wurden – längst vor seiner offiziellen Weisung Nr.21 Fall Barbarossa vom 18.12.1940. Schließlich wird unterschlagen, dass die NS-Führung nicht die geringste Angst vor einem angeblich drohenden sowjetischen Angriff hatte. Über die Stärke der Roten Armee machte sich nicht nur Goebbels nach einer Unterredung mit Hitler in seinem Tagebucheintrag vom 16. Juni 1941, fünf Tage vor dem Überfall, lustig: „Sie (die sowjetischen Truppen) werden glatt aufgerollt. Der Führer schätzt die Aktion auf etwa 4 Monate, ich schätze auf weniger. Der Bolschewismus wird wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Wir stehen vor einem Siegeszug ohnegleichen.“ Auch der deutsche Generalstab und der britische sowie amerikanische Geheimdienst rechneten mit einem Sieg der Wehrmacht. Unter dieser historischen Beweislast fällt die Präventivkriegsthese in sich zusammen. Es war nicht „Stalins Krieg“ (Topitsch) oder „Stalins Vernichtungskrieg“ (Hoffmann), sondern der unprovozierte Vernichtungskrieg Hitlers und der deutschen Wehrmacht auf sowjetischem Territorium.
Autor: Wigbert Benz
Literatur
Benz, Wigbert: Die Lüge vom deutschen Präventivkrieg 1941. In: Geschichte lernen: Legenden – Mythen – Lügen. H.52 (1996). Friedrich-Verlag in Zusammenarbeit mit Klett, S.54-59
Benz, Wigbert: Der Russlandfeldzug des Dritten Reiches: Ursachen, Ziele, Wirkungen. Zur Bewältigung eines Völkermords unter Berücksichtigung des Geschichtsunterrichts. Frankfurt a.M. 1986; 2.Auflage 1988
Gorodetsky, Gabriel: Die große Täuschung. Hitler, Stalin und das Unternehmen „Barbarossa“. Berlin: Siedler 2001
Ueberschär, Gerd R. / Lev A. Bezymenskij (Hg.): Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941. Die Kontroverse um die Präventivkriegsthese: WBG / Primus 1998 (der Band enthält alle wichtigen Dokumente)
Pietrow-Ennker, Bianka (Hg.): Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Frankfurt: Fischer (TB) 2000
Wischljow, Oleg: Zu militärischen Absichten und Plänen der UdSSR im Sommer 1941. In: Quinkert, Babette (Hg.): „Wir sind die Herren dieses Landes“. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Hamburg: VSA-Verlag 2002, S.44-54
Weiterführende Links
Darstellung der fachwissenschaftlichen und didaktischen Aspekte des Themas. Mit Unterrichtsentwurf und Quellen. Online-Version des gleichnamigen Beitrags aus den „Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer“, H.60/2000, S.5-33;
Wissenschaftliches Forum „Unternehmen Barbarossa“ beim Historischen Centrum Hagen sowie Nachrichtendienst für Historiker: http://www.historisches-centrum.de/barbarossa/index.html