Gideon Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940–1945, Paderborn 2005.
In etwa vier gleich langen Hauptkapiteln (hinzu kommt der ein Drittel des Buches umfassende Anhang) schreibt Gideon Botsch in seiner Dissertation über Entstehen, Gründung und Entwicklung sowie inhaltliche Ausrichtung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Friedrich−Wilhelms−Universität (heute: Humboldt-Universität zu Berlin) und das gleichzeitig unter dessen Gründungsdekan Franz Albert Six eingerichtete Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut (DAWI).
Die ideellen Wurzeln dieser politikwissenschaftlichen Einrichtungen reichen allerdings bis in die Kaiserzeit zurück, deren lange Tradition „im Wandel der Fachbezeichnungen nicht immer wahrgenommen wird“ (S. 33). Mit dem Erstarken des bürgerlichen Liberalismus waren die auf antiker Geistesbasis begründeten „Gesamten Staatswissenschaften“ des 19. Jahrhunderts nicht mehr zeitgemäß und so entstanden mit dem Seminar für Orientalische Sprachen an der Universität und der Deutschen Hochschule für Politik (DHP) die Vorläufereinrichtungen der Auslandswissenschaftlichen Fakultät in Berlin.
Neben vielen anderen Widrigkeiten bedeutete das Ende der Weimarer Republik auch für die Wissenschaft und Kultur tiefe intellektuelle Einschnitte. 1933 gleichgeschaltet, wurde dem Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, die Deutsche Hochschule für Politik unmittelbar unterstellt. „Zunächst erhebt die nationalsozialistische DHP keinen Anspruch mehr auf Wissenschaftlichkeit, doch seit 1935 drängen die Studierenden darauf, wieder einen akademischen Abschluss erwerben zu können“ (S. 41). Das Orientalische Seminar nahm einen anderen Entwicklungsgang: Der jüdische Direktor Eugen Mittwoch wurde entlassen und das 1934 geschaffene Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung dafür zuständig. Es sollte zur Ausland-Hochschule ausgebaut werden. In der Folgezeit entwickelten staatliche Bürokratie und Funktionäre der NSDAP jeweils ein an eigenen Vorstellungen ausgerichtetes Interesse an beiden wissenschaftlichen Einrichtungen. Nach mehrjährigen, kontrovers geführten Diskussionen über Inhalte und Ziele der späteren Auslandswissenschaftlichen Fakultät regelte der Erlass des Reichserziehungsministeriums vom 5. Januar 1940 deren Gründung und stellte die Aufgabe, „durch Lehre und Forschung die Kenntnis der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Auslandsbeziehungen des Reiches und die Kenntnis fremder Völker und Staaten zu fördern“ (S. 70).
Die Deutschen Auslandswissenschaften verstanden sich im nationalsozialistischen Sinn als politische Wissenschaft. Was bedeutet das inhaltlich? Gideon Botsch arbeitet anhand von Akten, zeitgenössischen Schriften und einer Fülle an Sekundärliteratur den Wesensinhalt des ideellen Anspruches heraus. Forschungsgegenstände des Institutes sind nach den sogenannten „Gesetzen des Lebens“ ausgerichtet. Das heißt: Jedes Individuum wäre überpersönlich in die Gesellschaft eingebunden. Die Gemeinschaft „Volk“ werde durch rassische, kulturelle und politische Verhältnisse geleitet. „Wissenschaft habe einen völkischen Standpunkt zu beziehen, ohne den sie gar nicht zu einer richtigen Erkenntnis der Wirklichkeit gelange“ (S. 231). Unter diesen Voraussetzungen kann von keiner Freiheit der Wissenschaft die Rede sein. Wie ernst die ideellen Ansprüche genommen wurden, zeigte sich nicht „nur“ in der Anwendung der Kenntnisse durch die Fachwissenschaftler bei der Zerschlagung kultureller und wissenschaftlicher Bibliotheken, Archive und Sammlungen in den besetzten Gebieten, der Anlegung von Materialsammlungen und Karteien über die Angehörigen der Eliten im „gegnerischen Ausland“, sondern selbst im eigenen Haus. Der Fall Bayume Muhamed Husen legt dafür ein beredtes Beispiel ab. Der aus Ostafrika stammende „Sprachgehilfe“ für Suaheli am Institut hatte in den 1920er-Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft erworben, war nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in berufliche Bedrängnis geraten und arbeitete jetzt in mehreren Nebenberufen, um seine Familie ernähren zu können. Auf Grund von Konflikten mit Institutsmitarbeitern verhaftete ihn die Gestapo. Weil „gegen Husen ein Strafverfahren wegen Rassenschande n i c h t eingeleitet werden konnte, wurde er dem Konzentrationslager Sachsenhausen überstellt“ (S. 122). Die Fakultätsleitung intervenierte nicht, stellte einen neuen Dolmetscher ein und Husen starb 1944 – die Todesursache ist nicht bekannt – im Lager.
Mit Gewissenhaftigkeit und komplexer intellektueller Durchdringung weist Botsch nach, dass an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät, wie im gesamten Großdeutschen Reich, das „Führerprinzip“ durchgesetzt war. Der Präsident hatte durchgreifende Weisungsrechte und Befugnisse, die unmittelbare Eingriffe in Planungen, Lehre und Forschung zuließen, denen sich Studierende wie Mitarbeiter kaum entziehen konnten. Charakteristisch beschrieb Harro Schulze-Boysen, Mitglied der linksintellektuellen Spionageorganisation Roten Kapelle, die Atmosphäre im Institut in einem Brief vom 11. Februar 1940 an seine Eltern: „Es will mir nicht in den Kopf, daß jedes andere Land der offenen und freien Forschung weitgehend zugänglich ist, daß aber in Punkto Russland immer noch kein Wandel geschaffen ist. Natürlich sind die Professoren weitgehend gezwungen, Konzessionen an die Weltlage zu machen und die Vorlesungen sehen heute ganz anders aus als im letzten Sommer. … Nun, ich setze so hart dagegen, wie ich kann … Der Dekan Six, ein SS-Standartenführer (ist) sehr stark ideologisch gefärbt. Reichsidee als Stichwort. … Der Gesamtbetrieb ist kameradschaftlich−militärischer als vor 33, aber geistig wesentlich enger. Der Bildungszustand der Jüngeren ist teilweise katastrophal.“[1]
Da es Adolf Hitler strikt ablehnte, dass programmatische Erklärungen über die europäische Nachkriegsordnung von deutschen Funktionären und Dienststellen abgegeben werden, befand sich das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut in einer prekären Lage. Kollaborierende Eliten der besetzten Staaten warfen immer wieder die Frage auf, „wie der Kontinent nach einem Sieg des Deutschen Reiches gestaltet werden wird und welche Rolle ihr Land oder Volk dann spielen werde“ (S. 215). Das Institut reagierte auf den Mangel im Januar 1944 mit der Gründung des Arbeitskreises „Europa-Seminar“. Grundsätzlich sei es erforderlich, schätzten die Teilnehmer des Arbeitskreises ein, eine „einheitliche Sprachreglung auch der politischen Stellen durch die wissenschaftliche Erarbeitung herbeizuführen“ (S. 221). Die Tagungen erschöpfen sich bis Kriegsende in der Erörterung der Frage nach Art und Gestaltung des Föderalismus. Aber die Ziele sind in ihren Phasen klar umrissen: „Herausfindung der Eliten“ – „Ausrichtung durch das gemeinsame Gespräch mit ihnen“ – „Vorbereitung zum Einsatz“. Auf dem Weg, Strukturanalysen über die europäischen Eliten anzufertigen, diese zu lenken und anzuleiten endete das geplante Vorhaben mit der bedingungslosen Kapitulation des „Dritten Reiches“.
Zwar kann Botsch keine direkten personellen Kontinuitäten zwischen den Mitarbeitern des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts – ob Studenten an der 1949 neu gegründeten Deutschen Hochschule für Politik ihre Ausbildung fortsetzten, ist noch nicht bekannt – und der Gründergeneration der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland finden, aber mit detektivischem Spürsinn und Sinn für Details verfolgt er den weiteren Weg einiger Protagonisten. In der 1951 gegründeten „Auslandswissenschaftlichen Gesellschaft“ waren viele aktiv, nach dem sie wieder in den Diplomatischen Dienst des Auswärtigen Amts (Werner Otto von Hentig) aufgenommen waren, an Universitäten (Diedrich Westermann) lehrten oder als Kommunalpolitiker (Ferdinand Friedensburg) Geschicke der Gemeinschaft lenkten. Aus dem Rahmen fiel die Biographie Herbert Scurlas, der als Kulturbundfunktionär, Schriftsteller und Journalist eine zweite Karriere in der DDR startete und von ihr hoch geehrt (unter anderem Vaterländischer Verdienstorden in Gold, 1974) wurde. Der Oberregierungsrat im Reichserziehungsministerium, Amt Wissenschaft, referierte über die Neuordnung Europas: „An dieser durch Adolf Hitler geschaffenen und gesicherten neuen Wirklichkeit vermag keine Gewalt der Erde etwas ändern“[2] und entdeckte später seine humanistischen Ideale in Biographien über Gotthold Ephraim Lessing, Rahel Levin, Alexander und Wilhelm von Humboldt. Bereits 1948 war seine Gesinnung gewandelt: Die „Flucht in den Westen, wie sie von Millionen nicht nur tatsächlich, sondern von noch mehr Millionen psychisch vollzogen wird, ist eine Flucht in die Illusion“, denn „die Welt, in die der westliche Kurs ohne Zweifel treibt, haben wir hinter uns.“[3]
Gideon Botschs Dissertation überzeugt durch kompetente Darstellung von wissenschaftlichen Entwicklungen, deren Wirken und Wirkungen im Weltkriegsverlauf im Verbund mit Ämtern, Dienststellen der NSDAP, Propagandaministerium, der Wirtschaft und Wehrmachtsverbänden in den besetzten europäischen Staaten. Er durchdringt das Gefüge in all ihren verschiedenen Interessengebieten, ihre Ziele und Möglichkeiten. Als beachtlich erweist sich das umfassende Aktenstudium des Autors und seine intellektuelle Durchdringung. Allerdings vergisst Botsch oft einen Blick nach außerhalb zu werfen, registriert wenig über Stimmungen in den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, über Kriegsverläufe und hätte Biogramme über prominente Personen in seine Darstellung einflechten können. Diese Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der nationalsozialistischen Politikwissenschaft.
Autor: Uwe Ullrich
Erstveröffentlichung in: Totalitarismus und Demokratie 2009, Jahrgang 6, Heft 1, Seite 128–131
Anmerkungen
[1]↑ Hans Coppi / Geertje Andresen (Hrsg.): Dieser Tod paßt zu mir. Harro Schulze-Boysen − Grenzgänger im Widerstand; Briefe 1915 bis 1942. Berlin 1999, S. 295/296.
[2]↑ Frank Kallensee: Halb Lüge und halb Wahrheit. Die Doppelkarriere des Schriftstellers Herbert Scurla. In: Peter Walther (Hrsg.): Die Dritte Front. Literatur in Brandenburg 1930–1950. Berlin 2004, S. 25.
[3]↑ Ebenda, S. 26.
Gideon Botsch: „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940–1945 (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart). Mit einem Geleitwort von Peter Steinbach. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2005, 362 Seiten, ISBN 978-3-506-71358-2 oder ISBN 3-506-71358-2, EUR 25,90.