Eine erschütternde Tanzgeschichte aus Kambodschas dunklen Jahren
Der neue Dokumentarfilm von Enrique Sánchez Lansch verbindet auf beeindruckende Weise die Geschichte des klassischen kambodschanischen Tanzes mit einem der dunkelsten Kapitel der Menschheit. „Pol Pot Dancing“ erzählt die kaum zu glaubende, aber wahre Geschichte der Startänzerin Chea Samy und ihres Ziehsohns, der später als Diktator Pol Pot bekannt werden sollte.
Im Zentrum des 101-minütigen Films steht eine fast schon shakespearesche Tragödie: Die gefeierte Tänzerin Chea Samy zieht den jungen Saloth Sar, den Bruder ihres Mannes, wie einen eigenen Sohn auf. Sie ermöglicht ihm eine privilegierte Ausbildung im kulturellen Umfeld des kambodschanischen Königspalasts und später ein Studium in Paris. Doch aus dem hoffnungsvollen jungen Mann wird der Diktator Pol Pot, unter dessen Schreckensherrschaft zwischen 1975 und 1979 etwa ein Viertel der kambodschanischen Bevölkerung umkommt.
Lansch, bekannt für seinen preisgekrönten Dokumentarfilm „Rhythm Is It!“, verwebt geschickt verschiedene zeitliche Ebenen und Erzählstränge. Besonders wertvoll sind die bisher unveröffentlichten Archivaufnahmen aus dem Nachlass einer amerikanischen Anthropologin, die Chea Samy zwischen 1990 und 1994 beim Unterricht und in Interviews filmte. Diese intimen Einblicke in das Leben der Tänzerin, die das Regime ihres Ziehsohnes als Zwangsarbeiterin überlebte, bilden das emotionale Herzstück des Films.
Der Regisseur verbindet geschickt historisches Material aus verschiedenen Epochen: frühe Aufnahmen des klassischen kambodschanischen Tanzes aus den 1920er Jahren, Propagandafilme der Roten Khmer und das einzige je gegebene TV-Interview Pol Pots mit dem jugoslawischen Fernsehen. Diese Archivschätze werden ergänzt durch zeitgenössische Tanzchoreografien, die die Geschichte künstlerisch aufarbeiten.
Besonders eindringlich wird der Film durch die Perspektive von Sophiline Cheam Shapiro, einer Schülerin Chea Samys, die als Kind die Schreckensherrschaft der Roten Khmer überlebte. Heute ist sie selbst eine international anerkannte Choreografin, die den traditionellen kambodschanischen Tanz mit modernen Elementen verbindet. Ihre persönliche Geschichte und künstlerische Interpretation der Vergangenheit geben dem Film eine zusätzliche Tiefendimension.
Ein weiterer spannender Blickwinkel kommt durch Prumsodun Ok ins Spiel, der als Sohn kambodschanischer Flüchtlinge in Kalifornien geboren wurde und später in das Land seiner Eltern zurückkehrte. Als Gründer der ersten schwulen Tanzkompanie Kambodschas repräsentiert er eine neue Generation, die die Traditionen bewahrt und gleichzeitig modernisiert.
Der Film wirft fundamentale Fragen auf: Wie konnte ein junger Mann, der in einem Umfeld von Kunst und Kultur aufwuchs, zu einem Diktator werden, der eben diese Kultur auszulöschen versuchte? Lansch bietet keine einfachen Antworten, sondern lässt seine Protagonisten ihre eigenen Perspektiven entwickeln. Dabei gelingt es ihm, westliche Sichtweisen zu vermeiden und stattdessen den kambodschanischen Stimmen Raum zu geben.
Besonders bemerkenswert ist die Rolle des klassischen kambodschanischen Tanzes als roter Faden durch die Geschichte. Diese jahrhundertealte Kunstform, die heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, stand während der Herrschaft der Roten Khmer kurz vor dem Aussterben. Dass sie überlebte, ist Menschen wie Chea Samy zu verdanken, die nach 1979 hunderte traumatisierte junge Mädchen zu Tänzerinnen ausbildete und so nicht nur eine kulturelle Tradition rettete, sondern auch vielen Überlebenden eine neue Perspektive bot.
Die technische Umsetzung des Films ist makellos. Marcus Winterbauers Kameraarbeit fängt sowohl die Grazie der Tanzbewegungen als auch die emotionalen Momente der Interviews einfühlsam ein. Die Montage von Julia Oehring verwebt die verschiedenen zeitlichen Ebenen und Materialien zu einem überzeugenden Ganzen, während die Musik von Christoph M. Kaiser und Julian Maas die verschiedenen Stimmungen des Films unterstützt, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.
„Pol Pot Dancing“ ist mehr als ein Geschichtsdokument oder ein Tanzfilm. Er ist eine eindringliche Meditation über die Kraft der Kunst angesichts von Gewalt und Zerstörung. Der Film zeigt, wie der klassische kambodschanische Tanz nicht nur die Schreckensherrschaft der Roten Khmer überlebte, sondern auch zum Medium der Verarbeitung und Heilung wurde. Dabei vermeidet Lansch jede Sentimentalität und lässt die Fakten und seine Protagonisten für sich sprechen.
Der Film, der am 5. Dezember 2024 in die deutschen Kinos kommt, ist besonders in der heutigen Zeit relevant, in der kulturelles Erbe immer wieder durch politische Gewalt bedroht wird. Er erinnert uns daran, dass Kultur nicht nur ein schmückendes Beiwerk ist, sondern ein wesentlicher Teil unserer Identität und unseres Überlebens als Gesellschaft. Gleichzeitig mahnt er uns, dass Bildung und kulturelle Verfeinerung allein keinen Schutz vor ideologischer Verblendung bieten.
„Pol Pot Dancing“ ist ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der kambodschanischen Geschichte und gleichzeitig ein eindringliches Plädoyer für die überlebenswichtige Bedeutung kultureller Traditionen. Der Film verdient es, von einem breiten Publikum gesehen zu werden. Wir wünschen ihm viel Erfolg.