Der Dokumentarfilm „Der dritte Bruder“ beginnt mit einem irritierenden Moment: Regisseurin Kathrin Jahrreiss reist mit ihrem 84-jährigen Vater Walther auf den Dresdner Johannisfriedhof, um das Grab seiner Eltern zu besuchen – und findet nichts als frisch umgegrabene Erde. Der Grabstein wurde schon vor Jahren entfernt, ohne dass die Familie Notiz nahm. Dieses unerwartete Vakuum ist das perfekte Sinnbild für die große Leerstelle, die sich durch die Familienbiografie zieht: Jahrzehnte des Schweigens, der Verdrängung und der gepflegten Ahnungslosigkeit. Jahrreiss reagiert journalistisch: Nicht mit Klage, sondern mit Recherche. Aus einem privaten Schock wird ein investigativer Impuls – und der Auftakt zu einem der eindringlichsten Familienporträts, die der deutsche Dokumentarfilm in jüngster Zeit hervorgebracht hat.
Die Geschichte der drei Brüder
Im Zentrum steht die Frage, warum der Vater nie Halt in seiner Herkunft fand. Die Antwort führt zu drei Brüdern, deren Lebenswege das Panorama des 20. Jahrhunderts spiegeln. Hermann, der Älteste, macht schon in den Dreißigern Blitzkarriere als Juraprofessor, arrangiert sich mit den Nationalsozialisten und wird nach 1945 an der Universität Köln erneut zum Rektor gewählt. Walther, der mittlere Bruder, verliert 1936 als »jüdisch Versippter« seine Arztstelle; mit Frau und Töchtern gelingt ihm die Flucht in die USA, wo er sich als Nervenarzt neu erfindet. Otto, der Jüngste – der titelgebende »dritte Bruder« und Großvater der Regisseurin –, glaubt an den preußischen Rechtsstaat, heiratet die jüdische Zeichenlehrerin Ruth Mannheim und bleibt in Dresden. Als Ruth 1942 wegen eines verbotenen Kinobesuchs denunziert wird, scheitern alle Rettungsversuche; Otto selbst landet wenig später in »Schutzhaft«. Nach Kriegsende reüssiert er als Jurist in der jungen DDR, wird jedoch bald vom MfS angeworben, um Republikflüchtige und seinen im Westen hochrangigen Bruder auszuspionieren.
Der Film erzählt diese verschlungenen Biografien ohne künstliche Zuspitzung. Jahrreiss verknüpft Briefe, Fotos, Behördenschreiben und private Tonaufnahmen zu einem Beziehungsgeflecht, das alle großen Themen der deutschen Zeitgeschichte berührt – von der Pogromnacht über die Nürnberger Prozesse bis zum Mauerbau. Dabei rückt sie immer wieder die kleinen Verwerfungen in einer scheinbar intakten bürgerlichen Familie ins Bild: Ehen zerbrechen an politischen Loyalitäten, Enkel wachsen ohne Wissen um die Großmutter auf, und in jedem Karton lauert ein Dokument, das eine weitere Schicht des Verdrängten freilegt.
Dokumentarische Form und filmische Handschrift
Formal schlägt „Der dritte Bruder“ einen kühlen, präzisen Ton an. Kameramann Marcus Winterbauer lässt Orte lange stehen: leere Flure in Archiven, beschlagene Fensterscheiben in einstigen Wohnhäusern, den Werkzeugkeller, in dem Otto nach dem Krieg seine Tagebücher einschloss. Diese ruhigen Bilder schaffen Raum, damit die Interviews atmen können. Wenn Walther stockend von seiner Kindheit spricht oder die Enkelinnen in Boston alte Familienfotos ausbreiten, hält die Regisseurin ihre Kamera bewusst zurück – zuhören, nicht drängeln, lautet die Devise.
Musikalisch setzt Julia Klomfaß auf zarte Streicherflächen, die eher Atmosphäre liefern als Emotionen diktieren. Cutterin Nicole Schmeier verzahnt Gegenwart und Vergangenheit mittels transparenter Überblendungen; eine zerknitterte Verlustanzeige gleitet über die Totale eines heutigen Bahnsteigs, auf dem die Regisseurin wartet. So verwandelt sich Historisches in Erfahrbares, ohne je ins Reenactment abzurutschen. Diese Stilmittel erinnern an klassisches Autorenfernsehen, sind zugleich aber fest auf der Kinoleinwand verankert – nicht zuletzt, weil Jahrreiss den Mut hat, Stille auszuhalten.
Historischer Resonanzraum
Jahrreiss’ Spurensuche reicht weit über die familiäre Mikroperspektive hinaus. Indem sie die Brüder Jahrreiss unterschiedlichen Nachkriegsrealitäten zuordnet – Westdeutschland, USA, DDR –, zeigt sie, wie Ideologien Biografien formen. Hermann wird nach kurzer Entnazifizierung wieder Teil der Bonner Elite; Walther lebt als liberaler Intellektueller in Baltimore; Otto dient sich dem ostdeutschen Staat an, um nicht erneut alles zu verlieren. Die Frage, wer Täter, Opfer, Mitläufer oder Nutznießer war, stellt sich hier in ständig wechselnden Konstellationen. Besonders aufrüttelnd wirkt eine Bildmontage, in der Hermann 1940 einen Vortrag über den »Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften« hält, während Ruth in Dresden verhaftet wird. An diesem Punkt verdichtet sich der Film zum Lehrstück über moralische Komplexität: Zwischen brüderlicher Loyalität und politischer Überzeugung klafft ein Abgrund, der nicht mehr zu überbrücken ist.
Persönlicher Zugang und universelle Fragen
Trotz der historischen Spannweite bleibt *Der dritte Bruder* immer ein Dialog zwischen Tochter und Vater. Jahrreiss führt Walther an originale Schauplätze, lässt ihn Dokumente unterschreiben, die sein eigener Vater nie zeigte, und beobachtet dabei, wie sich jahrzehntealte Blockaden lösen. Der Sohn, dem als Kleinkind die Mutter geraubt wurde, entdeckt allmählich Empathie für den Vater, der ihm später ebenfalls ferne blieb. Im Kinosaal wird daraus ein universelles Angebot: Wer von uns hat nicht fragwürdige Leerstellen in der Familiengeschichte? Woher kommt das Unbehagen, Fragen zu stellen? Der Film erinnert daran, dass Schweigen keine Wunden heilt – und dass Erinnerung Arbeit bedeutet, oft schmerzhaft, aber notwendig.
Fazit
„Der dritte Bruder“ ist weder Abrechnung noch Hagiografie, sondern ein sorgfältig balanciertes Zeit- und Familienpanorama. Die Regisseurin leistet journalistische Feinarbeit, ohne die dramaturgische Spannung aus den Augen zu verlieren. Jeder neue Fund – eine Deportationsliste, eine von Hermann initiierte Rehabilitierung, ein Stasi-Vermerk – treibt die Handlung voran wie in einem Krimi, dessen Täter das Vergessen selbst ist.
Dass Jahrreiss’ Langfilmdebüt auf Festivals in Köln, München und Berlin bereits Publikum und Jurys begeisterte, überrascht nicht: Selten gelingt es, individuelle Tragik, politische Analyse und emotionale Katharsis so nahtlos zu verbinden. Nach 111 Minuten verlässt man den Kinosaal nachdenklich, vielleicht aufgewühlt – vor allem aber dankbar dafür, dass hier jemand den Mut hatte, unter dem gewachsenen Gras nach den Wurzeln zu suchen.
Kinostart: 1. Mai 2025
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