Von Januar 1942 bis März 1943 war die nordrussische Stadt Rschew Schauplatz besonders erbitterter und grausamer Kämpfe im deutsch-sowjetischen Krieg. Ein Soldat der sowjetischen 17. Gardeschützendivision erinnerte sich im Sommer 1942: „Im ganzen Krieg habe ich nichts Schrecklicheres gesehen: Riesige Bombenkrater, bis zum Rand mit Wasser gefüllt, am Wegesrand zerstörte Fuhrwerke und Autos, tote Pferde und ringsherum nur Leichen. Und aus dem Wald das Stöhnen der Verwundeten.“ (siehe Christian Neef: Ostfront – Attacke um jeden Preis in Spiegel Online 6. Juli 2010). Dennoch wurde die Schlacht um Rschew von der sowjetischen Erinnerungskultur über ein halbes Jahrhundert verschwiegen und auf die hinteren Plätze verdrängt. In die Loge schafften es immer nur Moskau, Stalingrad, Kursk, Berlin u.a. Der „Fleischwolf von Rschew“, den man vor allem angesichts der immensen Verluste der Roten Armee so nennt, schien dagegen auf Dauer sich mit einer Nebenrolle in der sonst als so glanzvoll dargestellten Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges (1941-1945) zufrieden geben zu müssen.
Erst nach dem Ende der Sowjetunion haben sich Historiker und Publizisten in nennenswerter Weise dem blutgetränkten Kampffeld Rschew angenähert und versucht, es aufzuarbeiten.
Auch die Gattung Film hat „Rschew“ nun als wichtigen Stoff erkannt und mit „Ostfront 1942“ (Produktionsland Russland 2019, Erscheinungsdatum auf DVD und Blu-ray Januar 2021) auf Zelluloid gebannt. Darum soll es jetzt gehen. Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser Film „verdient“ seine Altersfreigabe ab 18. Schon die Anfangsszene hat es es in sich: Zu sehen ist eine Einheit Rotarmisten, die schießend, schreiend, fallend zerrissen und zerlöchert in einem Sturmangriff (dem wievielten eigentlich?) gegen die deutschen Stellungen anrennt. Dann mitten in diesem mörderischen Sturmlauf lässt es einen traumatisierten Soldaten weinend und schluchzend auf den Boden sinken und das Geschehen fassungslos beobachten – bis ihn am Ende doch irgendein Querschläger oder war es doch ein gezielter Schuss (?) aus dem Leben reißt. Die Filmhandlung an sich ist schnell erzählt: In der Schlacht um Rschew hält nach verlustreichen Kämpfen das verbliebene Drittel einer sowjetischen Einheit die Stellung vor dem Dorf Ovsyannikovo und wartet auf das Eintreffen der angekündigten Verstärkung. Bis dahin halten sie die Wehrmachtstruppen opferreich in Schach. Doch statt Verstärkungen schickt man erstmal einen jungen NKWD Offizier. Seine Aufgabe war die Aufspürung von vermeintlichen Verrätern. Der Anlass für diese Maßnahme war der Abwurf von „Papierbomben“, die die Sowjets zur Kapitulation aufforderten. Einen soll der NKWD-Mann angesichts des absehbar eigenen Todes auch ermitteln, als jener sich bei der Gefangennahme durch die Deutschen selbst entlarvt. Genutzt hat es ihm nicht. Aber der Umgang mit diesen Flugblättern, vom Kommandeur, dem Politkommissar, dem Geheimdienstoffizier sowie den Soldaten selbst, dürfte bezeichnend für das Klima in der damaligen UdSSR gewesen sein. Der dazugehörige Handlungsstrang hält manche beklemmende Situation bereit, jedenfalls empfand ich es so. Doch ebenso erlebt der Zuschauer die Wandlung des NKWD–Unterleutnants. Anfänglich sollte er gegenüber den Soldaten, die kurz zuvor noch durch eine grausige Blutmühle gedreht wurden arrogant und selbstherrlich, ja beinahe fanatisiert auftreten. Später geriet er zu einem sympathischen Sohn seiner Zeit (der Sowjetunion nach 1917 in der er als Waise aufwuchs) und der schlussendlich durch eine deutsche MPI Salve den Tod in der Erde von Mütterchen Russland fand.
Dazwischen und danach: Krieg in allen Facetten. Man findet beim gefallenen deutschen Eindringling Fleischkonserven, erbeutet Pistolen und Uhren, redet von Zuhause, findet von der faschistischen Soldateska ermordete Zivilbevölkerung. Dann ein Artillerieüberfall, Einschläge, Beine werden abgerissen, erbitterte Nahkämpfe, barbarische Flammenwerfer, wieder Schreie, eine vollbesetzte Baracke mit Verwundeten fliegt in die Luft, Sie schreien nicht mehr. Aber viele andere schwiegen auch für immer. Aber Rückzug ist von höchster Stelle ausgeschlossen. Wohin auch? So lautet der letzte Film Befehl: Das Dorf müsse wieder eingenommen werden. Was man dann sieht sind müde abgekämpfte Soldaten die durch einen nächtlichen Winterwald stapfen – am Horizont das hell erleuchtete Dorf, das erneut der deutschen Erobererhand entrissen werden soll. Diesmal endgültig? Hier bricht der Film ab, seine Laufzeit ist beendet. Das Publikum wird somit etwas im Ungewissen darüber gelassen, wie der Kampfweg jener Truppeneinheit weiter ging und wie das unmittelbar bevorstehende Gefecht schließlich endete. Aber im Abspann war zu lesen: „Die Kämpfe um Rschew hatten eine wichtige strategische Bedeutung für den vernichtenden Sieg über die Faschisten bei Stalingrad und änderten den Verlauf des Zweiten Weltkrieges entscheidend. Im März 1943 wurden die Deutschen vom Rschewer Brückenkopf vertrieben. Die Frontlinie konnte so um mehr als 150 Kilometer nach Deutschland verschoben werden. Die lang erwartete Verstärkung der Deutschen bei Stalingrad wurde verhindert“.
Dennoch urteilte der Militärhistoriker, Generaloberst Dmitri Wolkogonow (1928 – 1995) angesichts der extremen Verluste, die wesentlich wohl auch auf militärische Fehlentscheidungen der Stawka (Oberkommando) und anderer in diesem Operationsgebiet an verantwortlicher Stelle postierten Befehlshaber (Shukow, Jeremenko, Konew) zurückzuführen waren: Die Schlachten um Rschew vom Oktober 1941 bis März 1943 gehören zu den größten Katastrophen des Zweiten Weltkrieges.
Autor: René Lindenau
Literaturhinweise
Oleg A. Kondratjew: Die Schlacht von Rshew. Ein halbes Jahrhundert Schweigen. Arethousa-Verlag, München 2001,
Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, Bd. 3, Moskau 1960