Im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee wurden während der NS-Zeit Regimegegner hingerichtet. An ihren Leichnamen forschte Prof. Hermann Stieve, der damalige Leiter der Anatomie der Charité. Nun wurden über 300 Gewebeproben aus seinem Nachlass bestattet.
Am 13. Mai fand auf dem Berliner Dorotheenstädtischen Friedhof eine ungewöhnliche Beisetzung statt: In einem Gemeinschaftsgrab fanden hunderte von mikroskopischen Gewebeproben die letzte Ruhe. Sie stammen aus dem Nachlass von Prof. Hermann Stieve: Der Gynäkologe leitete während der NS-Zeit die Anatomie der Charité – und schrieb dort ein dunkles Kapitel der Geschichte der Medizin.
Der Terror des Naziregimes als Forschungsgrundlage
Prof. Stieves Interesse galt den menschlichen Keimdrüsen – also Hoden und Eierstöcken – und besonders dem Einfluss von Furcht und Schrecken auf diese Organe. Um entsprechende Forschungen durchführen zu können, traf Hermann Stieve Absprachen mit dem Strafgefängnis Berlin-Plötzensee. Dort waren vor allem Personen aus dem Widerstand inhaftiert, unter anderem die Beteiligten am Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944. Von 1933 bis 1945 wurden knapp 2900 der Insassen vor Ort hingerichtet – diesen Umstand nutzte Stieve, um Verkündung und Vollzug der Todesurteile mit der Gefängnisverwaltung abzustimmen. Insgesamt bekam Stieve ca. 270 Frauenleichname aus Plötzensee und dem Konzentrationslager Ravensbrück überstellt, an denen er untersuchte, ob beispielsweise Angst durch eine angekündigte Hinrichtung einen frühzeitigen Eisprung und das Ausbleiben oder Einsetzen von Monatsblutungen auslösen konnte. Das Ärzteblatt veröffentlichte 2007 einen Artikel über Stieve: „Man lasse die Versuchsobjekte ihren Monatskalender führen und dem Gefängnisarzt mitteilen. Dann verkünde man den Objekten entsprechende Tage vor ihrem Eisprung den Hinrichtungstermin.“
Keine Konsequenzen
Prof. Hermann Stieve stand für seine Kooperation mit dem NS-Regime auch nach dessen Ende nicht öffentlich in der Kritik – 1946 veröffentlichte er sogar in einer Fachzeitschrift einen seiner Fallberichte und gab dabei auch an, dass die betreffende Frau hingerichtet wurde. Er blieb bis zu seinem Tod 1952 Leiter des Anatomischen Instituts der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, war Mitglied des Nobel-Komitees und erhielt den Nationalpreis der DDR für seine medizinischen Verdienste.
Libertas Schulze-Boysen wurde als Mitglied der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ am 22.12.1942 in Plötzensee enthauptet, danach landete sie auf Stieves Seziertisch. Ihr letzter Wunsch war, dass ihr Leichnam ihrer Mutter überlassen werden möge, damit sie ihn „an einem schönen Ort mitten in der sonnigen Natur“ begraben könne. Mit dem Grab und neuen Gedenkort wurde nun endlich auch ihr und den weiteren Opfern eine späte Würdigung zuteil.
Autorin: Eva Hasel
Literatur
www.aerzteblatt.de/archiv/132996/Anatomie-im-Nationalsozialismus-Ohne-jeglichen-Skrupel
www.sueddeutsche.de/politik/charite-stieve-nazi-opfer-gedenken-1.4443439