„Nebel im August“ wurde im September des Jahres 2016 auf den Leinwänden deutscher Kinos ausgestrahlt und ist ein Kriegsdrama der anderen Art. Bereits der Titel des Films gibt einen Vorgeschmack auf die beklemmende Dramatik, mit der das Publikum, während der 126 Minuten Spielzeit, konfrontiert wird. Die Vorlage für den Film bildet das vor acht Jahren veröffentlichte Buch des Journalisten Robert Domes, das ebenfalls den Titel „Nebel im August“ trägt. Der Film, spielt im Jahr 1944 und führt dem Zuschauer den perfiden Machtmissbrauch der Nationalsozialisten vor Augen, und das ganz ohne spektakuläre Bilder oder den erhobenen pädagogischen Zeigefinger.
Das Thema – die grausamen Euthanasie-Programme der Nationalsozialisten, mit der sich der Hamburger Regisseur Kai Wessel auseinandergesetzt hat, ist eines der dunkelsten aber auch am meisten in den Hintergrund gedrängten Kapitel deutscher Geschichte. Der Aktion Gnadentod, wie Hitler sie höchstpersönlich betitelte sind vermutlich mehr als 200.000 Menschen zum Opfer gefallen – darunter körperlich behinderte, körperlich Kranke, sowie verhaltensauffällige Kinder und Erwachsene.
Ein Exempel dieser Kinder ist die historisch reale Figur Ernst Lossa, der aufgrund seines Verhaltens als „asozialer Psychopath“ abgestempelt wurde. Lossas Mutter stirbt früh, der Vater hat keinen festen Wohnsitz. Seine Familie gehört den Jenischen an, einer heterogenen Bevölkerungsgruppe von Fahrenden, die von den Nationalsozialisten als „Zigeuner“ betitelt und verfolgt wurden.
Grund genug für die Nazis den völlig gesunden Jungen zunächst in die Pflegeanstalt Kaufbeuren einzuweisen um ihn dann später im Mai 1943 in die Außenstelle Irsee zu verlegen. Dort angekommen beginnt sein nackter Kampf ums Überleben. Schließlich wird Lossa auch hier, im August 1944 durch eine Giftspritze umgebracht. Vermutlich, weil er das System der Euthanasie-Praktiken durchschaut und seine Peiniger damit konfrontiert hat – so vermuten es Historiker, die sich mit dem Fall Lossa befasst haben.
Die Geschichte von Ernst Lossa ist die eines „unwerten Lebens“. Als Halbweise hat er keinen „Wert“ und wird daher, wie unzählige andere Kinder auch, von den Nazis aus der Gesellschaft aussortiert. Seine Leidensgeschichte im Film beginnt mit seiner Ankunft in Irsee, einer Anstalt für psychisch auffällige Kinder. Hier findet der Junge (eindrucksvoll gespielt von Ivo Pietzcker) zunächst eine scheinbar heile Welt vor – auch die Farben im Film werden weicher, wärmer – suggerieren Sicherheit. Der freundliche Anstaltsleiter Dr. Veithausen (Sebastian Koch) schafft mit Aussagen wie: „Wir schlagen hier niemanden“ eine heimelig-freundliche Vertrautheit. Dass er hier das eigentliche Monster ist, erschließt sich erst nach und nach. Zunächst wird diese Rolle der Krankenschwester Edith (Henriette Confurius) zugeschoben, die jedoch „nur“ die teuflische Gehilfin des Dr. Veithausen ist. Sie verkörpert den schönen Todesengel und sorgt mit Himbeersaft dafür, dass der Giftcocktail, den sie den zum Tode auserwählten Kindern verabreicht, das Sterben „süß macht“. Bevor sie als sogenannte „Fachkraft“ an die Anstalt Irsee gerufen wird, werden zunächst „nur“ Insassen aus der Klinik in Bussen abtransportiert – in regelmäßigen Abständen. Sie werden gezielt in der Tötungsanstalt Hadamar vergast oder anderweitig ermordet. Aus dieser „Heilanstalt“ kommt auch Schwester Edith. Damit die Patienten sich nicht gegen den Abtransport wehren, erzählt man ihnen, sie würden nun in eine bessere Einrichtung verlegt.
Lossa, der als Gehilfe des Hausmeisters arbeitet, gewöhnt sich nach anfänglichem Widerstand („ich bin doch kein Idiot!“) an das Leben in Irsee, wird aber zunehmend misstrauischer. Auch durch seinen Argwohn, gegen die immer häufiger werdenden Verlegungen, werden die Unruhen unter den Bewohnern lauter und die Taktik der NS-Akteure ändert sich schließlich. So werden die Insassen jetzt nicht mehr abtransportiert, sondern direkt vor Ort „erlöst“.
Die anfangs heimelige Klinik verwandelt sich damit vollends in einen Ort des Schreckens und wird nun selbst zu einer Todeskammer für die Kinder. Nachdem Schwester Edith den tödlichen Himbeersaft verabreicht hat, füllt Dr. Veithausen den gefälschten Todesschein aus. („Bronchopneumonie“ – Lungenentzündung) steht in diesen Dokumenten. Und die scheinbar plötzlichen Todesfälle häufen sich. Einzige Lichtgestalt in diesem makabren Machtspiel um Leben und Tod ist die Oberschwester Sophia, gespielt von Fritzi Haberlandt. Sie steht als Nonne mit ihren alten kirchlichen Normen und Ansichten in direktem Konflikt mit Edith Kiefer, die im Gegensatz zu ihr jung und modern wirkt. Schwester Sophia versucht den kranken, bereits erkrankten Kindern zu helfen, ahnt, dass hier ein falsches Spiel gespielt wird. Gegen die kalkulierte und selbst von der katholischen Kirche aus Feigheit hingenommene Tötungsmaschinerie Hitlers ist sie jedoch machtlos und wird von ihrem Bischof höflich abgewiesen, als sie diesen aufsucht. So geht das zufällige Kindersterben „munter“ weiter seinen Gang.
Gerade die Zufälligkeit des Sterbens trägt massiv zur Veränderung der Atmosphäre im Film bei. Auf die Spitze getrieben wird die ganze Perversität und Doppelzüngigkeit der Aktion Gnadentod schließlich durch die Szene, in der Anstaltsleiter Dr. Veithausen auf einer Sitzung mit hochrangigen NS-Funktionären und Kollegen euphorisch seine neuste Entdeckung vorstellt: Die Gemüsesuppe ohne Nährstoffe, die den Insassen den bitteren Hungertod bescheren soll, ohne dass sie sich dessen bewusst werden. Systematisches Verhungern innerhalb nur weniger Wochen. Seine Entwicklung wird eifrig beklatscht – „Jawoll“ – es muss wieder mehr gestorben werden“.
Der anfangs väterlich wirkende Doktor, zeigt nun endlich seine wahre Fratze. Er ist in seinem kranken Bewusstsein fest davon überzeugt, im Dienste der Wissenschaft zu handeln und glaubt tatsächlich, er erlöse die behinderten oder psychisch auffälligen Kinder, indem er sie systematisch ermordet. Denn sie sind in seinen Augen asoziale Schädlinge für das Deutsche Reich – ganz im Sinne der Naziideologie. Bei all seinen Taten wirkt er stets ruhig, freundlich und sachlich, was den eigentlichen Wahnsinn der Euthanasie-Praktiken umso deutlicher macht. Mord im Dienste der Wissenschaft. Dieser Arzt poltert nicht mit der gewohnten cholerischen NS-Rhetorik durch die Klinikgänge, sondern setzt ganz auf Professionalität. Das macht ihn umso bedrohlicher für die Kinder.
Ihm gegenüber steht nun der junge Held, Ernst Lossa, dessen Figur Ivo Pietzckers überzeugendes Mienenspiel in diesem eher leise und dezent daherkommenden Film die nötige Tiefe verleiht. Er porträtiert Lossa ernst und zu gleich verletzlich, ohne zu viel Helden-Epos und ohne, dass seine kindliche Leichtigkeit auf der Strecke bleibt.
Bereits zu einem, frühen Zeitpunkt bemerkt der junge Ernst, dass die plötzlichen Todesfälle mit einer strikten Planung in Verbindung stehen. Mehr als nur einmal setzt er sich daraufhin für seine Mitinsassen ein, z.B. als er verhindert, dass die stumme Amelie, mit der er sich inzwischen angefreundet hat, die todbringende Suppe verzehren muss. Weil sie als nächste auf der Todesliste steht. Gemeinsam mit Schwester Sophia versteckt er das Kind im Keller. Mit der epileptischen Nandl (Jule Hermann) schmiedet er Fluchtpläne.
Als sich die Ereignisse schließlich überschlagen, und Schwester Sophia mit Amelie bei einem Bombenangriff auf die Anstalt umkommt, konfrontiert der mutige Junge den Chefarzt Dr. Veithausen mit seinen Taten und beschimpft ihn als Lügner und gemeinen Mörder. Damit unterschreibt er sein Todesurteil und stirbt den Heldentod durch die Giftspritze.
Das eher zurückhaltende Drama setzt auch bei dieser grausamen Schlussszene auf eine seichtere Form der Darstellung. So zeigt es nicht etwa die tatsächliche Tötung Lossas, sondern deutet diese lediglich durch das Schließen der Tür zum Behandlungszimmer an. Am Ende sieht der Zuschauer eine Liege mit einem Leichentuch, unter dem Lossa liegt.
Kai Wessel hat mit „Nebel im August“ einen Film geschaffen, der sich weder auf cholerische Nazirhetorik noch auf wuchtige Bilder von deutschem Führerkult verlässt, sondern gerade durch seine eher zurückhaltend bildliche Darstellung und seine einfachen und deshalb umso klareren Dialoge mit teils beängstigender Rationalität, der Perversität des Naziregimes und dem Leiden der unzähligen Euthanasie-Opfer Ausdruck verleiht. Die präzise und eindringlich dargestellten Figuren und die hohe schauspielerische Leistung geben dem mehrfach ausgezeichneten Film die Glaubwürdigkeit und Authentizität, die ein Kriegsdrama dieser Art so dringend benötigt.
Der tatsächliche Leiter von Irsee, Dr. Valentin Faltlhauser, der anders als der Chefarzt im Film als deutschlandweit tätiger Operateur sein Unwesen trieb, wurde nach dem Krieg zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, die jedoch später wieder aufgeschoben wurde. Im Jahr 1954 wurde er vom Bayrischen Justizminister wegen vermeintlicher Haftunfähigkeit begnadigt. Der Krankenschwester Pauline Kneissler wurden alleine in Irsee 200 Tötungen nachgewiesen. Sie diente als Vorlage für die Rolle der Edith Kiefer. Sie wurde zu einer vierjährigen Haftstrafe 1948 verurteilt, saß jedoch lediglich ein Jahr ab und arbeitete später erneut als Kinderkrankenschwester.
Der Regisseur Kai Wessel gibt den Opfern mit seinem Film ein Gesicht – gegen das Vergessen. Er macht damit auf ein Thema aufmerksam, das lange auch von den Medien totgeschwiegen wurde, und schafft dabei den Übergang zu unserer eigenen, schnelllebigen Zeit, in der wir uns selbst die Frage nach dem sozialen Miteinander immer wieder neu stellen müssen, und uns mit dem Gedanken auseinandersetzen sollten, ob die vermeintlich Asozialsten am Ende nicht oft die Sozialsten sind.
In diesem Kontext setzt „Nebel im August“ den Opfern der Euthanasie Programme ein würdevolles Denkmal. Frei von jeglichem Kitsch wird der Titelheld Ernst Lossa zu einer Symbolfigur für viele, die zu Unrecht sterben mussten.