Doris Gorr: Nationalsozialistische Sprachwirklichkeit als Gesellschaftsreligion. Eine sprachsoziologische Untersuchung zum Verhältnis von Propaganda und Wirklichkeit im Nationalsozialismus, Aachen 2000.
Sprache ist mehr als ein Medium der Verständigung, sie prägt auch die Wahrnehmung der gesamten Wirklichkeit. Wer Begriffe politisch für sich besetzt und neue prägt, kann auch das Denken der Menschen beeinflussen. Das wusste gerade die NS-Propaganda sehr gut. Durch eine über die gleichgeschalteten Medien teilweise bis ins Detail regulierte Wortverwendung versuchte man, eine neue nationalsozialistische Wirklichkeit zu schaffen. Die Sprache der NS-Propaganda ist ebenso voll von überhöhenden wie verharmlosenden Sprachschöpfungen. Die normale Ernte eines Jahres wurde zur „Erzeugungsschlacht“, gewöhnliche Spielfilme zu „Großfilmen“ stilisiert. Die Ermordung behinderter Menschen wurde als „Euthanasie“ (guter Tod), die industrielle Vernichtung von Millionen Juden als „Endlösung“ verharmlost. Beispiele solcher Sprachmanipulationen gibt es zahllose. Der Philologe Viktor Klemperer hat in seinen persönlichen Aufzeichnungen über die „Lingua Tertii Imperii“ (Sprache des Dritten Reiches) als Zeitgenosse sorgfältig und detailreich die nationalsozialistischen Sprachschöpfungen und Sprachverdrehungen registriert.
Doch ist es den Nationalsozialisten wirklich gelungen, eine neue Alltagssprache zu etablieren und dadurch gar eine neue von ihrer Ideologie geprägte Wirklichkeit zu schaffen? Dieser Frage geht Doris Gorr in ihrer ursprünglich 1998 an der Universität Duisburg vorgelegten und jetzt im Shaker-Verlag erschienenen Dissertation nach. Dabei distanziert sie sich von rein linguistischen Ansätzen, die die NS-Sprache als abgeschlossenes System ohne Wechselwirkungen zur gelebten Wirklichkeit betrachten. Vor allem in der Nachkriegszeit war die Auffassung verbreitet, dass mit den nationalsozialistischen Sprachregelungen ein perfektes Manipulationsinstrument entwickelt wurde, dem die Bevölkerung hilflos ausgesetzt war. Insofern ging es der früheren Forschung vor allem darum – oft an einzelnen Begriffen -, manipulativen Wortgebrauch zu entlarven.
Demgegenüber betont Gorr gerade die Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaft und NS-Sprache: Die Nationalsozialisten konnten nicht einfach dem Volk einen komplett neuen Sprachgebrauch aufzwingen. Ihre Sprachmanipulationen trafen vielmehr auf einen bestehenden, historisch gewachsenen und überdies schichtspezifischen Diskurs. Gorr zeigt, dass die NS-Sprache immer dann besonders erfolgreich war, wenn sie an bestehende Traditionen und Erwartungen anknüpfte. So war die weitgehend akzeptierte Titulatur Hitlers als „Führer“ nur vor dem Hintergrund möglich, dass das Wort „Führer“ im politischen Sprachgebrauch bereits der Weimarer Zeit fest etabliert war und mit diesem Begriff ganz bestimmte Erwartungshaltungen verbunden waren.
An Beispielen aus verschiedenen Lebensbereichen zeigt Gorr, wie die Verschränkung von Lebenswirklichkeit und Sprachmanipulation in der NS-Zeit „funktionierte“. So werden unter anderem der sprachliche Aufbau von Freund-Feind-Strukturen, des Militarismus, der Volk- und Rasseideologie behandelt. Ein ausführlicher Anhang schließlich befasst sich mit der Sprache im Nationalsozialismus als Unterrichtsthema in der Sekundarstufe. Die Arbeit von Doris Gorr bietet überdies eine Einführung in die Fragen der Theorie der Linguistik und der gegenwärtig miteinander konkurrierenden Ansätze. Damit bietet das Buch zugleich einen gründlichen Einstieg in das Thema Sprache und Gesellschaft insgesamt.
Autor: Dr. Bernd Kleinhans
Doris Gorr: Nationalsozialistische Sprachwirklichkeit als Gesellschaftsreligion. Eine sprachsoziologische Untersuchung zum Verhältnis von Propaganda und Wirklichkeit im Nationalsozialismus, Aachen 2000, 211 Seiten, € 49,00 (Shaker Verlag)