Gerhard Pauli (Hrsg.): Nationalsozialismus und Justiz. Vortragsreihe im Amtsgericht Dortmund, Baden-Baden 2002.
„Du sollst das Recht nicht beugen“ (5. Buch Mose 16,19)
Dieser Wortlaut befindet sich seit dem 19. Oktober 2000 auf einer Gedenktafel am Landgericht in Dortmund. Damit soll einerseits der Frauen und Männer gedacht werden, denen in der Zeit des Nationalsozialismus schweres Leid zugefügt wurde. Andererseits dienen diese Zeilen auch der Erinnerung an die durch den nationalsozialistischen Terror aus dem Dienst entfernten und ermordeten jüdischen Rechtsanwälte und Richter.
Die Enthüllung ging einher mit einer Vortragsreihe, die im Oktober/November 2000 im Amtsgericht Dortmund stattfand und von der Dokumentations- und Forschungsstelle „Justiz- und Nationalsozialismus“ an der Justizakademie des Landes Nordrhein-Westfalen in Recklinghausen konzipiert wurde. Nunmehr sind diese Referate dankenswerter Weise in dem vorliegenden Band publiziert worden.
Neben einem Vorwort von Gerhard Pauli, und der Rede des Landesjustizministers – Jochen Dieckmann – finden sich in dem Buch drei bemerkenswerte Beiträge. In chronologischer Reihenfolge sind das Ingo Richters Abhandlung über „Die Justiz und die nationalsozialistische Verfolgung“, Holger Schlüters Beitrag über „Die Urteilspraxis des Volksgerichtshofs“ und nicht zuletzt Werner Himmelmanns Referat über die „Schicksale von Richtern und Rechtsanwälten in der Nazi-Zeit“.
Während Ingo Richter in seinem kurzen und pointierten Beitrag die Ereignisse des Jahres 1933 Revue passieren lässt und zu der zwar nicht neuen aber nichtsdestoweniger häufig ignorierten Erkenntnis gelangt, dass nicht zuletzt Juristen die „Vernichtungsmaschinerie“ beherrschten, widmet sich Werner Himmelmann konkreten Einzelschicksalen jüdischer Richter und Rechtsanwälte.
Im Jahre 1933 wurden aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ 574 Richter jüdischer Herkunft entlassen und von den 19.500 zugelassenen Rechtsanwälten konnten 4.394 nicht mehr praktizieren. Diese nüchternen Zahlen sagen wenig. Vergegenwärtigt man sich jedoch, dass in den städtischen Ballungsräumen bis zu 50 % der niedergelassenen Anwälte jüdischer Abstammung waren, so werden die Auswirkung der nationalsozialistischen Politik überdeutlich.
Nun haftet Juristen gemeinhin der Verdacht an, nicht sonderlich praktisch veranlagt zu sein. Um so mehr drängt sich einem die Frage auf, wovon fortab die Rechtsanwälte ihren Lebensunterhalt bestritten haben? Was taten die – zumindest noch alimentierten – jedoch in den einstweiligen Ruhestand versetzten Richter und Staatsbeamten? Und mehr noch: Kehrten sie nach der Zeit des Nationalsozialismus an ihre alte Wirkungsstätte zurück?
Diesen Aspekt untersucht Werner Himmelmann in seinem Beitrag über das Schicksal verfolgter Richter, Staats- und Rechtsanwälte. Dabei zeichnet er anhand von sechs Einzelschicksalen ein eindringliches – und aufgrund des nüchternen Sprachgebrauchs – ein um so ergreifenderes Bild. Insbesondere das Leben und der berufliche Werdegang des späteren Landgerichtsdirektors Max Rosenbaum erweist sich „wahrhaftig als schicksalhaft“, denn Max Rosenbaum überlebte zwei Konzentrationslager. Rosenbaum, Jahrgang 1886, Frontkämpfer und Träger des Eisernen Kreuzes wurde – was seinerzeit nicht unüblich war – erst mit vierzig Jahren in das Beamtenverhältnis berufen. Auch er unterfiel am 7. April 1933 dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das nebst den hierzu ergangenen ergänzenden Verordnungen vorsah, dass Richter, Rechtsanwälte, Referendare, Staatsanwälte Notare usw. aus dem Amt entlassen werden konnten, wenn sie u. a. nicht arischer Abstammung waren. Lediglich aufgrund der „Frontkämpferklausel“ konnten die Behörden Ausnahmen zulassen. Danach wurden Entlassungen nicht vorgenommen bei Beamten, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte waren bzw. solche, die im 1. Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft hatten oder deren Väter oder Söhne im Krieg gefallen waren. Gleichwohl hatte Max Rosenbaum Probleme, seine Frontkämpfereigenschaft nachzuweisen. Obwohl die Militärdienstbescheinigung belegte, dass er an Kampfhandlungen, und zwar 1916 in der Schlacht von Verdun und 1918 bei der sogenannten Großen Schlacht in Frankreich teilgenommen hatte, vermerkte der Landgerichtspräsident in einem Vermerk für den Oberlandesgerichtspräsidenten folgendes:
„Durch die vorgelegte Militärdienstbescheinigung kann meines Erachtens der Nachweis nicht erbracht werden, daß dem Amtsgerichtsrat Rosenbaum in Dortmund die Eigenschaft als Frontkämpfer beizulegen ist … Ich halte es deshalb auch für unwahrscheinlich, daß Rosenbaum am 22. und 23. Mai 1916 bei der fechtenden Truppe an der Schlacht von Verdun teilgenommen hat, zumal er es vorzüglich verstanden hat, sich seit dem 9. Oktober 1915 von der Front fern zu halten.“
Trotzt Nachweises und einer Erklärung zu den Kampfhandlungen um Chemin des Dames und Verdun, wurde Rosenbaum im September 1933 in einstweiligen Ruhestand versetzt und musste seinen Abschied nehmen. In den folgenden Jahren lebte er von Anstreicharbeiten für eine Dortmunder Firma. In der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde er überfallen und in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Als Vorstandsmitglied der Jüdischen Kultusgemeinde und Verbindungsmann der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“, wurde Max Rosenbaum mit dem letzten Transport 1944 in verschiedene Arbeitslager verschleppt und fristete bis zuletzt sein Leben im KZ Theresienstadt.
Bereits im August 1945 wurde Max Rosenbaum von der Militärregierung als Amtsgerichtsrat vereidigt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt drängt sich nicht nur einem Juristen die Frage auf, welcher Willens- und Kraftanstrengung es bedurft haben muss, wieder als Richter den Gerichtssaal zu betreten und „ohne Ansehen der Person“ zu urteilen, wenn einem selber eine derartige Ungerechtigkeit widerfahren ist. In diesem Zusammenhang berichtete seine Frau – Emmi Rosenbaum – dass ihr Mann sich tagelang allein in einen Raum eingeschlossen habe. Ihren Schilderungen zufolge, habe er geglaubt nach den grauenhaften Ereignissen im Konzentrationslager niemals mehr Kontakt zu Menschen aufnehmen zu können. Um so bemerkenswerter ist, dass Max Rosenbaum in den Folgejahren als ein überaus gnädiger Strafrichter charakterisiert wurde. Diese Entwicklung muss sich bereits kurz nach seiner Rückkehr angebahnt haben, denn schon 1947 bemerkte der Landgerichtspräsident, dass ihm Rosenbaums Strafmaß vereinzelt als etwas zu milde erschienen sei.
Mit einem Strafgericht besonderer Art beschäftigt sich Holger Schlüter in seinem Artikel über „Die Urteilspraxis des Volksgerichtshofs“. Wie der Verfasser bereits am Anfang seiner Abhandlung bemerkt, kennt fast jeder den Volksgerichtshof, seinen Präsidenten Roland Freisler und nicht zuletzt den Urteilsstil dieses Gerichts. Danach sind die Urteile extrem kurz, zur Begründung der Todesstrafe werden oft nicht mehr als ein, zwei Seiten benötigt. In seinem Beitrag verdeutlicht Holger Schlüter allerdings, dass dieser Eindruck, wonach der Volksgerichtshof primär Hitlers (Schnell-)Gericht für die Schauprozesse gegen den Widerstand gewesen sei, wenn nicht täusche so doch zumindest sehr unvollständig sei. Ohne der Gefahr der Verharmlosung zu erliegen, skizziert und analysiert Holger Schlüter die Arbeit des Volksgerichtshofes anhand der politischen Herkunft der Richter, ihrer Verurteilungen, ihrer sprachlichen Präzision und nicht zuletzt nach den Straftaten. In diesem Kontext ist zunächst hervorzuheben, dass der Volksgerichtshof – anders als vielleicht vermutet – auch Freisprüche gefällt hat. Genauer: In knapp elf Jahren urteilten die Richter über mehr als 15.700 Menschen. Sie verhängten dabei fast 5.300 Todesurteile und knapp 1.300 Freisprüche. Das unterschied dieses Gericht zwar von den Schauprozessen stalinistischer Prägung, gleichwohl sucht der fanatische Verfolgungseifer seines gleichen. Insbesondere wenn man bedenkt, daß noch am 17. April 1945 – die Amerikaner sind bereits in Hannover, die Russen in Wien – in Linz zur Hauptverhandlung gegen einen Angeklagten geladen wurde, der es gewagt hatte, Zweifel am Endsieg zu äußern.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass im Gegensatz zu seinem Format und Volumen dieser kleine Band bei weitem kein „Leichtgewicht“ darstellt und nicht zuletzt dank Werner Himmelmanns Artikel eine empfindliche Forschungslücke für den Amtsgerichtsbezirk Dortmund schließt. Es wäre daher überaus begrüßenswert, wenn andere deutsche Amts- und Landgerichtsbezirke ein ähnliches Engagement zeigen würden.
Autorin (Rezensentin): Dr. Susanne Benöhr
Gerhard Pauli (Hrsg.): Nationalsozialismus und Justiz. Vortragsreihe im Amtsgericht Dortmund (= Juristische Zeitgeschichte, Kleine Reihe 5). Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2002, 79 S., ISBN 3-7890-7840-9.