„Obrigado Portugal“. Wie oft mögen diese Worte „danke Portugal“ gefallen sein? Dankesworte an die neue Heimat. Dankesworte für die Durchfahrt in ein weiteres Stück Leben. Viel Auswahl haben sie nicht, diese überwiegend europäischen jüdischen Flüchtlinge und sonstige Verfolgte der Nazidiktatur, denn mit der fortschreitenden Besetzung der europäischen Länder durch das Hitlerregime wird der Fluchtkorridor immer enger.
Wird im Spielfilm Casablanca deutlich, dass für die Flüchtenden nach Übersee die einzige Chance der Auswanderungshafen Lissabon im neutralen Portugal ist, so ist vielen dieses neutrale Portugal als Flüchtlings- und Transitland weniger bekannt.
Die beiden Autorinnen Irene Flunder Pimentel und Christa Heinrich schaffen mit ihrem Buch Zuflucht am Rande Europas. Portugal 1933 – 1945 ein Bewusstsein für diese letzte Ausfahrt der vor den Nazis Flüchtenden.
Die portugiesische Historikern Pimentel und die deutsche Soziologin Heinrich betrachten in zehn Kapiteln, fotografisch untermauert, neben dem sozio-historischen Kontext das Alltägliche zwischen den Einheimischen und den Fluchtgästen.
Diese Flucht von einer Diktatur in die nächste Diktatur mag auf den ersten Blick verwirrend sein. Der sogenannte Estado Novo unter dem Präsidenten António de Oliveira Salazar bietet trotz der Ablehnung von Demokratie und liberalen Werten ein Stück heile Welt fernab des Krieges.
Die Autorinnen verweisen darauf, dass Salazar den Hitler-Totalitarismus ablehnt und diesen mit der christlichen Wertebasis für unvereinbar sieht. Damit verdeutlichen sie, dass es sich zwar um eine konservativ-autoritäre Diktatur handelt, die ebenfalls seine eigene Bevölkerung unterdrückt, jedoch nicht den Anspruch erhebt, tief in alle Gesellschaftsbereiche hineinzuwirken. Sichtbar wird dieses an der Verfassung, die die Glaubens- und Religionsfreiheit garantiert. Der Antisemitismus ist in Portugal kein ideologisch-gesellschaftliches Problem und taucht nur randbedingt als christlicher Judaismus auf.
Portugal als Zufluchtsort bedeutet daher Rettung und die Chance auf Leben. Dieses wird an dem im Buch genannten Zitat des KPD Funktionärs Alexander Abusch deutlich: „Wir kamen aus verdüsterten Städten der Länder des Krieges in die Lichterstadt Lissabon“. Licht bedeutet Hoffnung und zwar die Hoffnung auf ein Weiterleben. Ein Trost für die Flüchtenden, für die sich das Tor in die freie Welt immer mehr verschließt.
Die Autorinnen verdeutlichen, dass sich die anfängliche Aufnahmewilligkeit von Flüchtlingen mit der zunehmenden Flüchtlingszahl ab 1935 ändert, indem Portugal nur noch zum Transitland wird. Mit der Annexion Österreichs verstärkt sich der Flüchtlingsstrom. Die Repressionen und die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung nimmt in erschreckendem Ausmaße zu.
„Keiner will sie haben…“ zitieren die Autorinnen den Völkischen Beobachter nach der Konferenz von Évian 1938, der ein Kapitel gewidmet ist. 32 Staaten schaffen es nicht, eine Lösung für die Flüchtenden zu finden, um ihr Leben zu retten. Die Autorinnen führen an, dass Portugal nicht eingeladen wird.
Hier stellt sich die Frage, warum gerade das für die jüdischen Flüchtlinge so wichtige Portugal nicht in die Verhandlung mit einbezogen wird. Die Vermutung liegt nahe, dass die teilnehmenden Länder von vornherein gar nicht die Absicht gehabt haben, für die annähernd 500 000 Flüchtlinge eine humanitäre Lösung zu finden. Wenn 32 Staaten die Flüchtlingskontingente unter sich aufgeteilt hätten, wäre für jedes Land der Anteil der Flüchtenden relativ gering gewesen. Es liegt der Verdacht nahe, dass es eher um antisemitische Grundhaltungen innerhalb der Länder gegangen ist, als um sozialpolitische und ökonomische Fragen. Nicht nur für den Völkischen Beobachter ist klar, dass die europäischen Juden nirgends erwünscht sind. Hier reicht ein Blick über das Buch hinaus in die damalige Zeitungslandschaft. In der Schweiz schreibt die Zeitung der Bund, dass die Konferenz von Évian zu einem guten Ergebnis geführt hätte. Hier ist sie eindeutig sichtbar, die antisemitische Haltung.
Das Jüdische Gemeindeblatt für Rheinland und Westfalen schreibt zur Konferenz „Wie immer sind wir Juden lediglich Objekte…Die Hoffnungen und sofortige und großzügige Hilfe waren leider von vornherein gering, da bereits bei der Einberufung der Konferenz erklärt wurde, daß an eine Änderung der bestehenden Einwanderungsbestimmungen nicht gedacht sei…“
Während die einen also vornehm im mondänen Badeort Évian-les-Bains im noblen Hotel mit ihrer Appeasementpolitik tagen und die anderen um ihr Leben bangen, bleibt der nicht berücksichtigte Gast Portugal mit dem Flüchtlingsproblem weiterhin allein.
Eine fatale Situation, denn mit dem Kriegsbeginn setzt ein nicht abebbender Flüchtlingsstrom ein, der zu einer weiteren Verschärfung der Transitbedingungen in Portugal führt, die von vielen Flüchtenden kaum bis gar nicht erfüllt werden können wie die Autorinnen sichtbar machen. Finanzielle Mittel für teure Schiffspassagen fehlen. Visa für ein Drittland können nicht beschafft werden oder sind nicht gültig und damit ist die Ausstellung des notwendigen Transitvisas bedroht. Die Hafenstadt Lissabon wird zur großen Herberge, nur dass es hier kein Hotel ist, sondern Lissabon zu einer dramatischen Station des Wartens und des Hoffens wird.
Gerecht sind sie nicht, die Vertreter der Konferenz von Évian. „Gerechter unter den Völkern“ ist aber der portugiesische Konsul Aristides de Sousa Mendes, dem im Buch im Kapitel 4. Portugal – die europäische Fluchtschleuse ein Unterpunkt gewidmet ist. Der in Bordeau ansässige Konsul widersetzt sich der restriktiven Anordnung für die Ausstellung von Transitvisa und rettet durch sein uneigennütziges humanitäres Handeln zigtausenden Menschen das Leben.
Seine Menschlichkeit und sein Mut zum Widerstand haben für ihn weitreichende Folgen. Er wird aus dem Dienst verwiesen und verarmt. Die Autorinnen merken an, dass erst im Jahr 2021 eine Gedenktafel für ihn in Lissabon im nationalen Pantheon eingeweiht wird. Hier stellt sich die Frage, warum sich die portugiesische Regierung und die Gesellschaft bis in die Gegenwart hinein, mit seiner Rehabilitierung schwergetan haben.
90 % der Flüchtlinge, die im Sommer 1940 gekommen sind, sind laut dem im Buch genannten Yehuda Bauer Juden, die in Portugal mit einer anderen sozialen Realität konfrontiert werden. Die vielfach weltgewandten und emanzipierten Flüchtlinge treffen auf eine breite Verelendung der Gesellschaft. Die von den Autorinnen genannte Eva Lewinski sagt, sie könne das Viertel Alfama nie vergessen.
In diesem Viertel ist die Armut greifbar. Menschen am Existenzrand, ein marodes Gesundheits- und Bildungssystem sowie patriarchale Strukturen, die die Frauen wie die im Buch zitierte deutsche Jüdin Ilse Losa in ihrem Roman „Unter fremden Himmeln“ beschreibt, unter der Unterdrückung durch ihre Männer leiden ließen. Die Frauen nehmen ohne ihre Männer nicht am gesellschaftlichen Leben teil. Sie dürfen nicht allein in Cafés, müssen sich bedeckt bekleiden und gehorsam sein. Auf diese von Männern dominierte Gesellschaft, in der die Frauen kontrolliert und bevormundet werden, treffen mit einer gesellschaftlichen Sprengkraft die Frauen aus Europa, die es gewohnt sind, zu rauchen, zu trinken, sich am Strand zu rekeln, allein auszugehen und Hosen zu tragen. Der im Buch zu Wort kommende Flüchtling Eugen Tillinger äußert sich, dass die katholische Kirche über das Bestehen des Wertesystems in Sorge sei. Die Bevölkerung verhält sich jedoch überwiegend den Flüchtenden gegenüber positiv eingestellt. „Wir sind gut behandelt worden. Die portugiesische Bevölkerung war sehr, sehr nett…“, sagt die von den Autorinnen zitierte Grete Firmen.
Der Alltag dieser sehr heterogenen Flüchtlingsgruppe besteht überwiegend aus dem Warten auf die ersehnten Papiere nach Übersee und den Ängsten vor den Hitler- Truppen. Was tun, wenn man nicht arbeiten darf? Ins Café gehen. Dort sitzen sie, die bekannten Künstler wie Heinrich Mann, Alfred Döblin, Hannah Arendt, die Feuchtwangers, das Ehepaar Salvador und Gala Dalí, Jean Gabin und Robert Montgomery neben den einfachen, den unbekannten, einfach nur den Leuten. Wovon soll man leben, wenn das Eigentum und das Vermögen von den Nazis gestohlen wird, wenn man ohne finanzielle Mittel ist und man in Portugal nicht arbeiten darf? Die Flüchtlinge werden umsorgt von den internationalen Hilfsorganisationen, insbesondere von dem jüdischen Hilfskomitee COMASSIS.
Portugal, nicht nur ein Sammelbecken für die überwiegend flüchtenden Juden, sondern auch für Spione wie Ion Lancaster Fleming und Josephine Baker. An diesem neutralen Knotenpunkt verschiebt man Menschen, betreibt man von jeder kriegführenden Seite Propaganda, entführt und ermordet man Menschen wie den im Buch genannten Journalisten Berthold Jacob Salomon.
An diesem neutralen Knotenpunkt bleibt die Neutralität eine schwankende Gratwanderung zwischen Politik und Ökonomie, die ihren Ausgleich finden muss. So werden die britischen Beziehungen und die deutschen Beziehungen gleichermaßen aufrechterhalten.
Diese Seiltanz-Neutralität wie ich sie nennen möchte, wird im Buch von dem Flüchtling Eugen Tillinger dahingehend beschrieben, dass am Kiosk eine gleiche Anzahl von deutschen und britischen Zeitungen zu kaufen ist.
Dieses Schwanken auf dem sogenannten Neutralitätsseil zeigt wie im Buch verdeutlicht, dass Salazar bemüht ist, die portugiesische Identität, die auf dem alten Kolonialreich fußt, auch während des Krieges aufrecht zu erhalten. Die Autorinnen zeigen diesen Widerspruch auch an anderen Stellen auf.
Obwohl mit Nazideutschland eine Handelsbeziehung besteht und der wichtige Produktionsstoff Wolfram an Nazideutschland geliefert wird, obwohl Elemente der Strukturen des Dritten Reiches wie die Hitlerjugend übernommen werden und obwohl die Geheimpolizei Elemente der Gestapo übernimmt, bleibt in Bezug zum Rassegedanken und auf das Individuum als Staatsbürger sowie zum Gedanken des Totalitarismus sowie dem Ziel der Vernichtung der europäischen Juden ein fundamentaler Unterschied der beiden Diktaturen bestehen. Portugal konzentriert sich nicht auf das niedergehende Europa, sondern auf sein altes Kolonialreich, dessen Erbe erhalten bleiben soll. Geprägt vom Pragmatismus schlägt sich Portugal daher offiziell auf keine Seite, da Salazar auf jeden Fall einen Krieg mit Großbritannien vermeiden möchte.
Der Estado Novo möchte nicht bedroht werden. Der anfänglich menschliche Aspekt der Hilfe für die Flüchtlinge weicht staatlicherseits mit der Zunahme des Bedrohungsgefühls durch den Flüchtlingsanstieg auf. Ein fataler Prozess, der den Tod für Tausende bedeutet. Auf der anderen Seite werden ca. 50 000 bis 80 0000 Flüchtlinge, wie im Buch genannt, gerettet. Flüchtlinge, die sich bereits im Land aufhalten, werden auch ohne gültige Papiere nicht aus dem Land geschmissen.
Ferner gibt es diese „Gerechten unter den Völkern“ wie den portugiesischen Konsul Aristides de Sousa Mendes, die zeigen, dass man, um ein Menschenleben zu retten, keine Waffen benötigt, sondern nur einen Stempel. 32 Staaten hätten in Évian ebenfalls diesen Stempel für die jüdischen Flüchtlinge in die Hand nehmen können. Es zeigt sich, dass das Flüchtlingsproblem bei dem portugiesischem Staat bleibt und die anderen Staaten sich der internationalen und menschlichen Verantwortung entziehen.
Für die auf die unterschiedlichen Kurorte verteilten Flüchtlinge bleibt Portugal dennoch ein Traum. Hier ist Licht statt Dunkelheit, Frieden statt Krieg und Terror. Auch wenn es ab und an auch Schikanen seitens der Behörden und der Polizei gibt, sprechen die Flüchtlinge von einer „Diktatur in Filzpantoffeln“. Diese „Diktatur in Filzpantoffeln“ zeigt sich als „Ein kleines Land mit einem großen Herzen“, wie der Reiseschriftsteller Richard Katz im Buch zitiert wird.
Auch wenn die Autorinnen sich zeitweilig wiederholen, was dem Umstand geschuldet ist, dass sich die Kapitel nicht absolut abgrenzen lassen, da die Geschehnisse ineinander übergehen, ist Zuflucht am Rande Europas. Portugal 1933 – 1945 ein gelungenes Buch über einen nicht sehr bekannten Fluchtweg. Es erinnert nicht nur an „Ein kleines Land mit einem großen Herzen“, sondern diese Erinnerung verdeutlicht, dass sich ein neutraler Staat nicht heraushalten kann und darf, wenn es um menschliche Verbrechen geht. Sichtbar wird die humanitäre Haltung der portugiesischen Gesellschaft sowie die mutige und menschliche Handlung einzelner politischer Eliten wie dem Konsul Aristides de Sousa Mendes. Sichtbar wird auch die Haltung der internationalen Staatengemeinschaft. Die Konferenz von Évian hätte für die überwiegend jüdischen Flüchtlinge ein Wendepunkt sein können. Anstelle des Transportes in die Vernichtungslager hätte die Freiheit und das Leben gestanden. Statt hier mutig wie Aristides des Sousa Mendes den Stempel für die notwendigen Einreise- und Aufenthaltsgenehmigungen zu nutzen, bleiben die Verantwortlichen nicht nur tatenlos, sondern stempeln lieber wie schweizerische Beamte das J in die Pässe der Verfolgten und weigern sich das kleine Portugal zu unterstützen. Ignoranterweise beachten sie es noch nicht einmal.
Diese Appeasementpolitik, die versucht, sich die sogenannten Probleme vom Hals zu halten steht der Seiltanz-Neutralität diametral gegenüber. Denn „Appeasement“ bedeutet in diesem Fall sich zum Steigbügelhalter für das verbrecherische Hitlerregime zu machen, indem sich mit der Tatenlosigkeit eindeutig gegen die jüdische Bevölkerung gestellt wird.
Autorin: Soraya Levin
Irene Flunser Pimentel, Christa Heinrich, Zuflucht am Rande Europas, Portugal 1933-1945, Übersetzung: Aus dem Portugiesischen von Sarita Brandt und Renate Heß, 262 Seiten, Broschur, 88 Abbildungen, 1. Auflage 2022 Hentrich & Hentrich Verlag Berlin Leipzig, 29,90 EURO, ISBN 978-3-95565-436-8