Chamberlain, Sigrid: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher, Gießen 2003.
Mulack, Christa: Klara Hitler. Muttersein im Patriarchat, Rüsselsheim 2005.
Als ich meinem Sohn (10) erstmals von den NS-Verbrechen erzählte, fragte er: „Hatte Hitler keine Mutter?“ Er meinte: Eine, die ihn erzog. Die Frage irritierte mich. Bislang hatte ich den Nationalsozialismus als politisches Thema betrachtet und weniger unter psychologischem Blickwinkel gesehen.
Und dann fielen mir gleich zwei Bücher in die Hand. Sigrid Chamberlains 2003 neu aufgelegte Abhandlung über „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ und Christa Mulacks 2005 erschienener Essay „Klara Hitler – Muttersein im Patriarchat“. Beide Bücher funktionieren wie Brillen, von denen eines die Blicke verschleiert, das andere sie schärft.
Vom neuesten Stand der Entwicklungspsychologie wirft Sigrid Chamberlain einen erhellenden Blick in das Dunkel, das in NS-Kinderzimmern herrschte, zwischen Mutter und Kind. Was sie zutage fördert, räumt auf mit der Legende, es habe in Deutschland ein familiäres Abseits von Auschwitz gegeben. „Wahrscheinlicher und mittlerweile durch zahlreiche Berichte belegt ist, daß, wer einer brutalen und grausamen Weltanschauung anhing, sich im Berufsleben brutal und grausam verhielt, das gleiche auch zu Hause im Umgang mit den eigenen Kindern tat.“ Die „Verletzung der politischen Fürsorgepflicht“, die Ralf Giordano als kennzeichnend für das Fehlverhalten der Elterngeneration nach 1945 beschrieb, findet in Sigrid Chamberlains Studie ihren psychologischen Unterboden. Die emotionale Grundlage, um einer wie auch immer gearteten Fürsorgepflicht nachkommen zu können, ist Bindungsfähigkeit. Die aber, so Chamberlains These, wurde von den Nationalsozialisten systematisch zerstört. In einem groß angelegten Angriff auf die Intimität zwischen Müttern und Kindern zollten Ärzte und Ärztinnen einer Propaganda Tribut, die Ergebnisse der Säuglingsforschung aus der Weimarer Republik zielsicher missbrauchte.
Kenntnisreich und genau analysiert Chamberlain Ratgeber wie „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ der Ärztin und siebenfachen Mutter Johanna Haarer, die in Hitler-Deutschland eine millionenfache Auflage erzielten – und übrigens bis in die 80er Jahre neu aufgelegt wurden. Ihre zentrale These ist, dass die NS-Pädagogik es darauf anlegte, menschliche Beziehungsfähigkeit von Geburt an zu zerstören, und es sich dabei um keine Spielart autoritärer Erziehung, sondern um einen Kulturbruch handelt. Mütter sollten sich ihre Babies möglichst „vom Leib halten“, um ihnen Nähe und Geborgenheit zu verwehren und vom ersten Lebenstag an für die nötige psychische Disposition zu sorgen, die willfährige Hitlerjungen und BDM-Mädels auszeichnete. Deren ungestillte symbiotische Sehnsüchte sollte kein anderer als ihr „Führer“ je stillen. Ziel der NS-Pädagogik war nicht, folgsame Untertanen zu erziehen, sondern lauter „kleine Adolf Hitlers“. Dessen Traumata wurden zum Programm der gesamten Gesellschaft. Sein tiefliegendstes: fehlende Mutterbindung.
In einem großartigen Schlusskapitel arbeitet Sigrid Chamberlain überzeugend heraus, wie Hitlers innere Leere im frustrierenden Kontakt mit einer schwer traumatisierten Mutter entstand, die vor seiner Geburt bereits drei Kinder verloren hatte. In der nationalsozialistischen Gesellschaft potenzierte sich seine perverse Beziehungsstörung explosionsartig. Wer ihm folgte, musste zutiefst bindungsunfähig sein. Jeder psychisch gesunde Mensch, so die provozierende These von Sigrid Chamberlain, konnte sich allenfalls kurzfristig für die Nationalsozialisten interessieren. Die Kinder nationalsozialistischer Eltern litten infolge emotionaler Vernachlässigung an „familiärem Hospitalismus“ (S. 132). Der ideologisch verordnete Liebesentzug gipfelte zwar nur in Einzelfällen wie bei der Familie Goebbels in direktem Mord an den eigenen Kindern. Für die seelischen Qualen zu sensibilisieren, die ihre Vernachlässigung in überlebenden Kindern bis heute bewirkt, ist das Verdienst von Sigrid Chamberlains Studie. Ihre eigene Motivation speist sich aus erklärter „Parteilichkeit für diejenigen, die damals“, d.h. zwischen 1933 und 45, „Kinder waren“.
Ganz anders Christa Mulack. Sie ergreift nicht für Kinder, sondern für Mütter Partei. Mütter sind für sie gleichsam himmlische Wesen, immer gut, meistens verkannt. Weil sie das so sieht, muss sie auch Klara Hitler als liebevolle, zugewandte Mutter beschreiben. Dass diese ihren Sohn finanziell unterstützte und auch gesehen worden sein soll, wie sie ihm, wenn er zur Schule ging, einen Abschiedskuss gab, ist allerdings kaum ein Beleg für eine geglückte Mutter-Kind-Beziehung. Auch die „tiefe Liebe“ Hitlers zu seiner Mutter bleibt Spekulation. Es stellt sich die Frage: „Wie konnte es bei einer so umfassenden liebevollen Pflege zur Entstehung eines solch kaltherzigen ‚Ungeheuers‘ kommen?“ (74)
Die Antwort liegt – bei einer Matriarchatsforscherin wie Christa Mulack – auf der Hand. Schuld ist die väterliche Gewalt. Am stärksten ist das Buch überall dort, wo es die Gewalt des Alois Hitler und ihre Tabuisierung in vielen Biografien beschreibt. Dass dieser sowohl gegen seinen Sohn als auch gegen seine Frau, die gleichzeitig seine Nichte war, mörderische Gewalt ausgeübt haben muss, ist ein interessanter und wichtiger Aspekt, der Sigrid Chamberlains Analyse ergänzt. Dennoch macht die Gewalt ihres Mannes aus Klara Hitler keinen Engel. Wer ihre Biograife erwartet, wird enttäuscht. Stattdessen wird die Legende eines Mutterseins erzählt, das wie eine Insel im Sumpf des Patriarchat schaukelt. Klara Hitler wird zur „Repräsentantin der patriarchalen Mutter“ (90) stilisiert, deren Probleme „bis heute aktuell“ (116) sind und moderne Leserinnen zur unhistorischen Identifizierung gedrängt. Ohne Rücksicht auf rechtliche und ökonomische Veränderungen wird die andauernde „Verdrängung der Mütter“ (147) aus der Gesellschaft und etwa dem Rentensystem beklagt, und auch wenn da manch Wahres daran ist, macht das die Legendenbildung nicht wett.
Gut gelungen ist die Interpretation der Metaphorik, mit der Hitler die „Masse“ des deutschen Volkes als im Kern weiblich (wie seine Mutter) beschreibt, die es vom Joch des (für jüdisch gehaltenen) stärkeren Vaters zu befreien gelte. Diese Interpretation öffnet eine Luke zum Verständnis, warum gerade auch Frauen Hitler in sexueller Ekstase verfielen. In seiner Sprache spiegelt sich eine Gewalt, in der sich viele Frauen unbewusst wiedererkannt und von der sie sich Erlösung erhofft haben mögen, ohne ihrer eigenen weiblichen Kraft zu vertrauen. Sie waren psychisch gebrochen – wie Klara Hitler.
Während Christa Mulack diese aus dem Scherben ihrer Biografie zu „retten“ versucht, auf Kosten einer psychologisch überzeugenden Argumentation, geht Sigrid Chamberlain von in der NS-Zeit zersplitterten Lebensläufen aus. Sie gibt ihren Leserinnen und Lesern einen Kompass in die Hand, um sowohl sich selbst als auch Beziehungsstörungen älterer Generationen besser zu verstehen. Auch lassen sich mit ihrer Hilfe moderne Erziehungsratschläge auf ihren ideologischen Gehalt überprüfen. Für Eltern, aber auch Söhne und Töchter mit Geschichtsbewusstsein ist die Arbeit von Sigrid Chamberlain ein unverzichtbarer Gewinn. Sie lernen sich und ihre Herkunft besser verstehen und werden ermutigt, sich ihren eigenen Kindern gegenüber deutlich von dem psychischen Erbe des Nationalsozialismus zu distanzieren. Man wünscht ihre Studie allen, die mit Kindern und Jugendlichen leben oder arbeiten, in die Hand.
Autorin: Katharina Schäfer lebt und arbeitet als Publizistin in Berlin. In Kürze erscheint ihr Foto-Text-Band „auschwitz : heute“, der aus Vier-Augen-Gesprächen an bundesdeutschen Wohnorten entstand.
Chamberlain, Sigrid: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher, 231 S., broschiert, 4. korr. Aufl. 2003, Psychosozial Verlag, edition psychosozial, ISBN 3-930096-58-7, 19,90 EUR
Mulack, Christa: Klara Hitler. Muttersein im Patriarchat, 181 S., broschiert, Christel-Göttert-Verlag 2005, 17 EUR