Anne Lipp: Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914 – 1918, Göttingen 2003
Der Erste Weltkrieg bedeutete mit seinen ungeheuren Verlusten an Menschenleben und der Verwüstung ganzer Landstriche nicht nur eine neue Dimension in der Kriegsführung. Er war auch der erste umfassende Versuch, Propaganda von staatlichen und militärischen Stellen als Teil der Strategie einzusetzen. Anders als in den Kriegen des 19. Jahrhunderts hielt man 1914-1918 die Stimmung in der Bevölkerung für kriegsentscheidend: Nur wenn die Menschen bereit waren, kriegsbedingte Belastungen, Mehrarbeit, Entbehrungen und vor allem monate- und jahrelange Trennungen der Familien zu ertragen, konnte die Kriegswirtschaft überhaupt funktionieren. Aber auch von den Frontsoldaten war Einsatz und Kampfeswille angesichts der täglichen Bedrohung des eigenen Lebens nur zu erwarten, wenn sie den Krieg mindestens als unvermeidbar akzeptierten. Militärische und staatliche Propaganda bediente sich dabei allen verfügbaren Massenmedien, der Presse, Flugblättern, Postkarten und dem Kino.
Anne Lipp konzentriert sich in ihrer Arbeit auf die Feld- und Armeezeitungen, die sich direkt an die Frontsoldaten wandten und im Krieg eine weite Verbreitung hatten. Bereits im September 1914 entstanden die ersten dieser Feldzeitungen. Zunächst waren sie ohne besondere staatliche Aufsicht auf Eigeninitiative der Soldaten als „Schützengrabenzeitungen“ vielfach in kleinen Auflagen und lokal hergestellt worden. Sie trugen Titel wie „Schützengrabenzeitung“ oder „Der Drahtverhau“. Andere Zeitungen wurden direkt von Heeresstellen herausgegeben.
Einerseits boten diese Zeitungen Ablenkung vom oft monotonen Alltag in den Schützengräben, andererseits waren sie ein Forum für die Sorgen und Nöte der einfachen Soldaten: Sehnsucht nach der Heimat, Versorgungsprobleme, ungerechte Behandlung durch Vorgesetzte. Auch wenn kaum politische Kritik geäußert wurde, so waren kritische Untertöne vielfach erkennbar.
Mit der Einführung der „Feldpressestelle“ im Frühjahr 1916 verschaffte sich die Heeresführung dann aber umfassenden Zugriff auf die Feldzeitungen. Zum einen unterlagen diese jetzt einer strengen Zensur, zum anderen produzierte die Feldpressestelle eigenständige Artikel, zum Abdruck in den Feldzeitungen. Weil es für die Soldaten kaum Quellen gab, sich über die politische Lage und über die Situation in der Heimat ein klares Bild zu machen, bildeten diese Armeezeitungen ein ideales Instrument der Manipulation.
Propagandistischer Schwerpunkt der Armeepresse war es, die Soldaten von der Fortführung des Krieges zu überzeugen, zumal die Mehrheit der Frontsoldaten vor allem an einem schnellen Frieden und Rückkehr in die Heimat interessiert war. Die Propaganda appellierte an Durchhaltebereitschaft und Ehrgefühl der Soldaten. Ein früher Friedensschluss, so wurde suggeriert, würde eine erbarmungslose Unterwerfung und ökonomische Ausbeutung Deutschlands durch die anderen Nationen bedeuten. Offen bediente man sich dabei rassistischer Vorurteile, wenn man farbige Soldaten, die vor allem in der französischen Armee dienten, zum Schreckgespenst einer künftigen Besatzung Deutschlands stilisierte.
Anne Lipp bezweifelt in ihrer detailreichen Studie, dass die Propaganda der Feldzeitungen tatsächlich die Einstellung der Soldaten wesentlich beeinflusst hat.
Allerdings zeigt sie, dass das Ideal des durchhaltenden Frontkämpfers die Basis für den Diskurs der Weimarer Zeit über den Krieg bildete. Die heimkehrenden Soldaten, für die es in der Zivilgesellschaft häufig weder Arbeitsplätze noch ausreichenden Unterhalt gab, konnten ihr Selbstbewusstsein wenigstens am Stolz, „durchgehalten“ zu haben, aufrichten. Der nationalen Rechten diente das Bild des unerschütterlichen Frontkämpfers zur Verächtlichmachung der Demokratie: Nur aufgrund der Feigheit und Schwäche der Zivilpolitiker in der Heimat, sei es zu einem Friedensschluss gekommen und der kampfwillige Frontkämpfer um den Sieg und die angemessene Anerkennung gebracht worden.
Anne Lipp beweist überzeugend, dass politische Propaganda durch Prägung von Begriffen, Argumentationslinien und Idealbildern das Denken selbst dann noch bestimmen kann, wenn ihr ursprünglicher Zweck gar nicht mehr besteht.
Autor: Dr. Bernd Kleinhans
Anne Lipp: Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914 – 1918, Göttingen 2003, Verlag Vandenhoeck u. Ruprecht, 354 Seiten, € 45.-