Ronald Leopold, Historiker und Direktor des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam, befasst sich in Anne Frank mit einer Person, über die bereits zahlreiche Bücher vorliegen. Wie andere Autorinnen und Autoren vor ihm beschränkt Leopold sich nicht auf die Schilderung des Lebens von Anne Frank, sondern thematisiert auch ihr soziales Umfeld und ihre Wirkungsgeschichte. Das Besondere an diesem Buch sind nicht neue Fakten, die mitgeteilt würden. Lesenswert ist Leopolds Anne Frank, weil hier der aktuelle Forschungsstand zur Person wie dem Nachwirken Anne Franks umfassend und zugleich höchst konzentriert dargeboten wird.
Im ersten Teil seiner Arbeit schildert Leopold die Kindheit Annes in einer liberalen jüdischen Familie vor dem Hintergrund der sozialen und ökonomischen Entwicklung in Deutschland und Amsterdam, wo Anne nach der Flucht aus Deutschland seit ihrem 4. Lebensjahr lebt. Anschaulich beschreibt der Autor das Leben im Exil, die Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinden Amsterdams und die restriktivere Ausländerpolitik der Niederlande angesichts der wachsenden Zahl von Immigranten. Deutlich zeigt Leopold, wie einschneidend sich das Leben Anne Franks und ihrer Familie mit der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht 1940 verändert. Wünschenswert wäre gewesen, wenn der Verfasser hier genauer auf die Spaltung der niederländischen Bevölkerung in Kollaborateure, Bystander und (jüdische) Widerständler eingegangen wäre. Das Leben im Hinterhausversteck schildert Leopold präzise anhand des Tagebuchs und späterer Zeitzeugenberichte; auf letztere greift er auch zurück, um die letzten Lebensphasen der Mitglieder der Familie Frank zu skizzieren. In einem eigenen Kapitel stellt Leopold die verschiedenen Theorien vor, die zum Teil seit Jahren zu erklären suchen, wie es zur Entdeckung des Verstecks im Hinterhaus kam, ohne für eine der Theorien zu plädieren.
Auf den letzten knapp 40 Seiten seines Werks befasst Leopold sich mit der Wirkungsgeschichte von Anne Frank und ihrem Tagebuch. Dabei stellt er detailliert die verschiedenen Tagebuchfassungen sowie ihre anderen literarischen Texte vor, versäumt es aber leider, seine These, Anne Franks Texte hätten auch eine besondere literarische Qualität, genauer zu belegen. Überzeugend zeichnet der Verfasser die Wirkungsgeschichte des Tagebuchs nach und verweist in diesem Zusammenhang mit Recht auf die Bedeutung der Theater- und Filmfassungen. Schließlich schildert der Autor die wechselvolle Historie des Hauses an der Prinsengracht 263 und die unterschiedlichen museumspädagogischen Konzepte, die dort im Laufe der Jahre realisiert wurden.
Ronald Leopolds Anne Frank zeichnet sich durch einen sehr nüchternen, knappen Stil aus – dem Thema sehr angemessen, auch wenn dies die Lektüre nicht immer erleichtert.
Autor: Tomas Unglaube
Ronald Leopold: Anne Frank. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert, München: C. H. Beck 2023, 144 S., ISBN 978-3-406-79029-4