Vergewaltigung ist ein Thema, über das – von einigen wenigen vielleicht leider mal abgesehen – niemand gerne spricht. Sie ist das wohl Schlimmste, was ein Mensch einem anderen antun kann, eine Form der Folter. Der Täter nimmt dem Opfer die freie Selbstbestimmung über den eigenen Körper, fügt ihm physische Schmerzen zu, demütigt es und lässt es mit einem lebenslangen psychischen Trauma zurück. Entgegen eines weitverbreiteten Irrglaubens, es ginge den Tätern primär um das Ausleben sexueller Begierden, ist genau diese Demütigung das eigentliche Motiv bei einem überwiegenden Teil der Vergewaltigungen. Der Täter möchte sich überlegen fühlen, seine Gelüste von Macht und blankem Sadismus ausleben, der Sex steht allenfalls an zweiter Stelle. Deshalb sucht der Täter sich gezielt Opfer, die schwächer sind. Das ist mit ein Grund, warum gerade im familiären Umfeld auch Kinder häufig Opfer derartiger Verbrechen werden. Tatsächliche Pädophile machen nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Täter aus.
Im Krieg kommt zu dieser Demütigung eine weitere Komponente hinzu: Schon in der Antike galten Vergewaltigungen des Gegners als ein probates Mittel, dem besiegten und vor allem auch verhassten Feind besonders große Schmach und Pein zuzufügen. Selbst die ägyptische Mythologie berichtet, dass Seth Horus der bloßen öffentlichen Demütigung wegen vergewaltigt habe, als Onkel und Neffe um den Thron stritten – mit dem Ausleben sexueller „Wünsche“ hatte dies nichts zu tun, Seth war nicht homosexuell. Was die Vergewaltigung der daheimgebliebenen Frauen beim Erobern feindlicher Gebiete nach Sicht der Täter als Methode zur Demütigung so besonders wirksam macht, ist der Umstand, dass die Männer des Feindes, wenn sie vom Schlachtfeld heimkehren, ihre Frau schwanger mit dem Kind ihres Gegners vorfinden könnten. Sie könnten gezwungen sein, sich um ein Kind zu kümmern, das ihnen die Niederlage durch seine bloße Existenz ihr Leben lang vor Augen hält. Dass die Männer das eigentliche Ziel der Demütigung waren, spricht leider auch eine allzu deutliche Sprache über den Stellenwert der Frauen in der Geschichte. Sie waren nicht nur Opfer, sondern wurden zum bloßen Mittel zum Zweck degradiert.
Nun sind wir bei keinem Konflikt der Menschheitsgeschichte so sehr darauf gepolt, in klaren Schwarz-Weiß-Kategorien zu denken, wie beim Zweiten Weltkrieg: die guten Alliierten auf der einen Seite und die bösen Achsenmächte auf der anderen. Das liegt nicht einmal an der kriegerischen Auseinandersetzung selbst, sondern an den Verbrechen der Nazis und auch der Japaner, die parallel geschahen. Die Nazis haben den Holocaust, der sich vor allem durch seine planvolle und systematische Durchführung von anderen Genoziden unterscheidet, zu verantworten und die Japaner ließen etwa durch Einheit 731 vergleichbare Verbrechen verüben. Kriegsverbrechen wurden jedoch auf beiden Seiten verübt. Man denke an die Massaker von Wormhout, Oradour, Le Paradis, Pingdingshang und Bangka Island, aber eben auch die Luftangriffe auf Dresden oder die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Es gab sie, die Kriegsverbrechen der Alliierten an Deutschen und Japanern. Wer jetzt einwenden will, die Deutschen hätten es angesichts des Holocaust nicht besser verdient, sollte sich vor Augen halten, dass Hitler mit 33,1 % zum Kanzler gewählt wurde und die beiden darauffolgenden Wahlen bereits unter Zwang und Gewaltandrohungen stattfanden und folglich nicht als frei und demokratisch gewertet werden dürfen. Die Mehrheit der Deutschen hat sich der Unterlassung schuldig gemacht und zwar aus purer Angst und selbst eingeredeter Unwissenheit – so ist es in den meisten Diktaturen. Auch sie waren Opfer des NS-Regimes, zweifelsohne schuldige Opfer, aber Opfer nichtsdestotrotz. Auch mag man sich fragen, warum man die Nazis nicht mit Nuklearwaffen zur Aufgabe nötigte. Die einen sagen, die Hemmung sei gegenüber Europäern seitens der Amerikaner größer gewesen als gegenüber Asiaten. Andere führen es schlicht darauf zurück, dass man Deutschland in naher Zukunft als Verbündeten brauchen würde, denn der nahende Kalte Krieg mit Stalin zeichnete sich bereits ab.
Da sind wir nun bei der Aufarbeitung der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende. Dass der „böse Iwan“, also die Rote Armee, über die daheimgebliebenen Frauen im Falle einer Niederlage herfallen würde, hatte Goebbels schon prophezeit. Diese Vorstellung war in den Köpfen der Deutschen fest verankert und man betrachtete jene Frauen, die bei Hausdurchsuchungen, aber auch auf offener Straße oder gar in von den alliierten Soldaten eingerichteten Vergewaltigungsräumen von sowjetischen Soldaten vergewaltigt worden waren, auch als Opfer. Denn die in der NS-Ideologie als barbarisches Untervolk dämonisierten Sowjets waren in den Augen der indoktrinierten deutschen Bevölkerung wilde Tiere. Aber wie verhielt es sich bei den Amerikanern? Und damit sind natürlich die weißen, europäisch-stämmigen Amerikaner gemeint, denn auch Afroamerikaner waren in den Augen vieler Deutsche ja nur Wilde. Waren Frauen Vergewaltigungsopfer weißer US-amerikanischer Soldaten, die in den Folgejahren ja auch als Befreier und neue Verbündete und nicht als Besatzer hofiert wurden, so kam es zu dem, was man – ironischerweise aus dem Englischen entlehnt – als Victim-Shaming bezeichnet. Als „Ami-Liebchen“, als Verräterinnen am eigenen Volk wurden die ohnehin schon gepeinigten Frauen diffamiert und gedemütigt. Die nationalistische Propaganda, die noch weiter zurückreichte als bis zu Hitlers Machtergreifung, zeigte also auch hier Wirkung. Andere Frauen ließen sich bewusst mit einem bestimmten Soldaten oder vorzugsweise Offizier ein, um vor anderen Soldaten geschützt zu sein.
Die überwiegende Mehrheit der Vergewaltigungen ging aber aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich von den Rotarmisten aus, doch wirklich gesicherte Zahlen gibt es nicht. Bis heute werden die wenigsten Vergewaltigungen wirklich zur Anzeige gebracht – aus Angst, aus Scham. 1945 war dies noch extremer. Vergewaltigungen waren es nur, wenn massive körperliche Gewalt und Gefahr für Leib und Leben im Spiel waren. Öffentlich zu machen, dass man von Soldaten vergewaltigt worden war, wurde ebenfalls den Opfern als „Beschmutzung“ der deutschen Frau ausgelegt. Martha Hillers veröffentlichte ihr Buch „Eine Frau in Berlin“, das die Verbrechen der Rotarmisten an ihr und anderen offenlegte, daher anonym. Erst zwei Jahre nach ihrem Tod wurde bekannt, dass das Buch von ihr stammte. Die einzigen Zahlen, die halbwegs verlässlich sind, sind die der Kinder, die aus Vergewaltigungen entstanden, denn Frauen, die auf diese Weise schwanger geworden waren, mussten, weil sie im Regelfall alleinstehend waren (ledig oder der Mann gefallen oder in Kriegsgefangenschaft), bei einem Amtsvormund Angaben über den Vater machen. Historikerin Miriam Gebhardt errechnete daraus in ihrem Buch „Wir Kinder der Gewalt“ eine Zahl von schätzungsweise 900.000 Vergewaltigungen deutscher Frauen durch alliierte Soldaten, 190.00 davon durch Westalliierte. Dem lag die auf Statistiken fußende Annahme zugrunde, dass etwa 1 % aller Vergewaltigungen zu einer Schwangerschaft führen. Sie nahm also die verlässlichen Zahlen aus Vergewaltigungen entstandener Kinder mit dem Faktor 100 mal. Andere Schätzungen gehen weit darüber hinaus, denn die Dunkelziffer darf man nicht außer Acht lassen. Von 2 Millionen Opfern ist so gar die Rede.
Neben den Frauen sind aber eben auch die Kinder Opfer, die spätestens, wenn sie die Frage nach dem Vater stellten, mit der traumatischen Geschichte ihrer Zeugung konfrontiert wurden. Hinzukam das gestörte Verhältnis zur Mutter, vielleicht auch zum „Vater“ (nicht dem Erzeuger!), wenn es einen gab. All das dann in einer Zeit, wo viel auf die Wahrung des äußeren Scheins wert gelegt wurde und es keine wie auch immer geartete Unterstützung von außen gab. Psychotherapien, die einem halfen, das Trauma zu verarbeiten, existierten damals nicht.
Autor: Michael Schmidt
Links
Deutschlandfunk: Massenvergewaltigungen bei KriegsendeDer Versuch, mit dem Trauma fertig zu werden
Deutschlandfunk: Das Thema Massenvergewaltigung 1945 „war einfach Tabu“