Karl Barth: „Zu diesem Krieg muß leider Ja gesagt werden…“
Theologische und politische Legitimierung des Widerstands gegen Hitler
Karl Barth (1886–1968), der „vermutlich größte Theologe seit der Reformation“, war als Wissenschaftler ein ungemein „fruchtbarer“ Autor. Fast noch beeindruckender war der Briefschreiber Karl Barth, der allein im Jahr 1933 weit über 300 Briefe geschrieben haben soll. In späteren Jahren weitete sich gerade diese Seite seines Wirkens noch aus: Er schrieb an Pastoren im Ausland, speziell in den von Hitler besetzten Ländern, beantwortete Fragen und hielt Vorträge, und welche Art der Publizität er auch immer wählte, er hielt sich absolut frei von dem so oft karikierten „Pastoren-Tonfall“. Im Gegenteil: Je profunder die theologische Substanz, je präziser die Analyse, je massiver der politische Befund, desto persönlicher, eindringlicher, bildhafter der Stil. Dieser Mann wusste immer, was er sagte, und wenn er etwas sagte, dann wollte er verstanden werden. Dass ihm seine Aussagen nicht selten Verbote seitens der „Zensur“ – der schweizerischen, der französischen etc. –, Abmahnungen von der Universität oder ähnliche Misshelligkeiten einbrachten, interessierte ihn nur wenig: Sein Weltbild beruhte auf absolutem Gottvertrauen, seine theologischen und politischen Maxime hatte er bei Jesus gefunden – was konnten ihm da aktuelle Autoritäten anhaben?
Der Mensch Karl Barth
Karl Barth wurde in Basel geboren und wuchs in Bern auf, wo sein Vater, der Neutestamentler Fritz Barth, lehrte. Von 1904 bis 1909 studierte er in Bern, Berlin, Tübingen und Marburg Theologie und profilierte sich danach als radikaler Kritiker der liberalen Theologie, jener Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Strömung, die die Theologie auf humanistisch-geisteswissenschaftliche Grundlagen stellte und mittels historisch-kritischer Bibel-Exegese und Erforschung der Kirchengeschichte von allen „Dogmen“ freikommen wollte. Das erschien Barth als unzulässige Unterwerfung der Theologie unter aktuelle Politik und moderne Kultur, einfach als Bruch mit den fundamentalen Aufträgen des Christentums.
Zwischen 1923 und 1930 lehrte Barth als Professor an den Universitäten von Göttingen und Münster, um dann eine Professur für systematische Theologie in Bonn anzunehmen. Hier bemühte er sich, eigener Aussage zufolge, „Theologie und nur Theologie zu treiben“, aber eben das wurde ihm nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ immer schwerer gemacht. Er weigerte sich, aus der SPD auszutreten und seine Vorlesungen mit dem „deutschen Gruß“ zu beginnen. Das waren relativ kleine Bekundungen ziviler Courage, hinter denen noch kein prinzipieller Widerstand steckte. Barth zögerte nie, auch vor repräsentativsten Foren einzugestehen, dass er anfänglich dem NS-Regime seine Loyalität nicht versagt hat. Noch 1942 erinnerte er sich in einem Aufsatz für „Foreign Affairs“, der 1922 entstandenen US-Zeitschrift für Außenpolitik, dass er geglaubt hatte, dass ungeachtet aller politischen Pressionen „die Kirche als solche auch in Zukunft Kirche bleiben“ werde, woraus er für sich schloß: „Ich selbst meinte, in Deutschland noch bis ins Jahr 1934 hinein unter Zurückstellung meiner politischen Gegnerschaft auf dieser und nur auf dieser Linie arbeiten zu sollen“.[1]
Barths skeptischer Optimismus wurde nicht zuletzt von seiner Gelassenheit getragen, mit welcher er ein schier unglaubliches Chaos im religiös-organisatorischen Bereich betrachtete. Da gab es die klassische Theologie mit ihren diversen Strömungen, unter denen Barth selber als gewissermaßen „Neoorthodoxer“ firmierte. Ihr absoluter Gegenpol war die „Deutsche Glaubensbewegung“, deren „artgemäßer Glaube“ auf der „vorchristlichen Frömmigkeit unseres Volkes“ fußte und die innerlich in eine Fülle von „Bünden“ und „Gemeinschaften“ zerfiel. Die „Deutsche Glaubensbewegung“ hatte nichts mit den „Deutschen Christen“ (DC) zu tun, die eine „überkonfessionelle christliche Nationalkirche“ anstrebten. Gegen diese formierte Pfarrer Martin Niemöller im September 1933 einen „Pfarrernotbund“, aus dem sich kurz darauf die „Bekennende Kirche“ entwickelte.
Die unbedeutendste dieser Formationen war die „Deutsche Glaubensbewegung“, die vom Regime zwar „geduldet“, aber nicht sonderlich ernst genommen wurde, auch mit sich selber nie ins Reine kam, da sich ständig radikale Anti-Christen und sozusagen neoheidnische „Rest-Christen“ gegenüber standen. Gefährlicher erschienen die DC, die Hitler als die nationalchristliche Reinkarnation von Christus propagierten und zeitweilig ein willkommenes Werkzeug waren für die Absicht des Regimes, alle Kirchen „gleichzuschalten“ und auf die NS-Ideologie zu verpflichten. Ausdruck der Regimetreue der DC war deren Beschluß, den „Arierparagraphen“ in der Kirche einzuführen, also alle „jüdisch versippten“ Pfarrer hinauszuwerfen. 1933 entstand die „Deutsche Evangelische Kirche“ („Reichskirche“) und die DC gewannen die allgemeinen Synodalwahlen in allen Landeskirchen (Bild). Aber damit war ihre Blütezeit auch schon wieder vorbei, denn nun wehrten sich einzelne Landeskirchen und die in der Bekennenden Kirche vereinten rund 7.000 Pfarrer, die den DC-Einfluß rasch neutralisierten.
Wer Fakten zu diesen Ereignissen und Entwicklungen sucht, wird bald verblüfft feststellen, dass das einschlägige NS-Schrifttum sehr ergiebig ist. Bereits in Lexika (Bild) findet man ausführliche und faktenreiche Artikel, die nicht einmal sonderlich kritisch sind, zudem umfangreiche Literaturlisten enthalten.[2] Das lässt wohl nur den Schluß zu, dass das NS-Regime alle Kirchen, Konfessionen, Glaubensgemeinschaften und Weltanschauungsbünde einstweilen gewähren ließ, um sie irgendwann en bloc zu eliminieren, da sie dem ideologischen Deutungsmonopol der NSDAP nicht entsprachen. Diese „Schonfrist“ konnte der Nationalsozialismus um so leichter gewähren, als alle diese Kirchen und Gruppen sich bemühten, dem Regime kleinere oder größere Konzessionen zu machen. Das reichte von individuellen Stillhalteabkommen, wie sie z. B. Karl Barth zeitweilig schloß, bis zur Selbstkennzeichnung als „SA Jesu Christi und SS der Kirche“.[3] Einen kompromisslosen kirchlichen Widerstand gab es zu Beginn nicht, denn es konnte ihn nicht geben. Nach Barth hatte die Kirche zwar eine Idealvorstellung vom „rechten Staat“, aber sie wusste auch, dass dieser niemals bestanden hatte. Also musste sie immer zunächst abwarten, wie und wohin sich ein Staatswesen entwickeln würde: „’Ich widerstehe einer heute beim Nationalsozialismus ihre Zuflucht suchenden Theologie, nicht der nationalsozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung‘. Diesen Satz habe ich selbst noch im Dezember 1933 geschrieben und drucken lassen. Und ich denke noch heute (= Dezember 1938, W.O.), dass es damals geboten war, der braunen Überschwemmung zunächst diesen Deich entgegenzusetzen (…) Es war billig und recht, auch dem politischen Experiment des Nationalsozialismus als solchem seine Zeit und Chance zunächst zu lassen. Worauf es hinauswollte, das war damals wohl zu ahnen, aber gerade nicht so zu wissen, dass die Kirche auf dieses Wissen hin mit Ja oder Nein dazu Stellung nehmen musste oder auch nur durfte“.[4]
Bis zur eigenen Klärung der Situation unternahm Barth einiges. Vor allem verfasste er die Barmer Theologische Erklärung, die am 31. Mai 1934 von 139 Vertretern aus 18 Landeskirchen einstimmig angenommen und zur theologischen Grundlage der Bekennenden Kirche wurde. Zudem ließ er sich in den Reichsbruderrat, das Führungsgremium der Bekennenden Kirche, wählen. Im November 1934 weigerte er sich, den Beamteneid auf Hitler zu leisten, den er durch den Zusatz „soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann“ gemildert sehen wollte. Später rügte er das Schweigen der Kirche zur Judenverfolgung und zu den Rechtsbrüchen des Regimes, und all das hatte sein „Kerbholz“ so gefüllt, dass er 1935 in die heimische Schweiz zurückging. In der Literatur wird dieser Schritt gern als „Emigration“ bezeichnet, was schon deshalb nicht zutrifft, da Barth von Geburt Schweizer war. Kann man in das eigene Heimatland „emigrieren“?
Barth hat immer sehr persönlich geschrieben, auch in seiner Wissenschaft war er der sprichwörtliche „Ich-Erzähler“, aber nur als Schweizer konnte er sich als patriotischer Teil eines (multiethnischen) nationalen Kollektivs fühlen. Seine Verbindung zu Deutschen und Deutschland war tief, aber sie reichte nie bis zur völligen Identifikation. Barth wahrte immer eine gewisse Distanz, die ihn befähigte, akute Entwicklungen in doppelter Weise zu relativieren. Zum einen betraf das Dinge im engeren deutschen Umkreis: Weder waren Bekennende Kirche und DC so monolithisch, wie es den Anschein haben mochte, noch waren die DC sonderlich gefährlich – sie waren eine „Attrappe“, die „von den Nationalsozialisten selbst unrühmlich fallen gelassen“ wurde. Und schon gar nicht bildete die Bekennende Kirche jenes Widerstandszentrum, als welches sie das Ausland vielfach ansah: „(…) der Kampf der Bekennenden Kirche in Deutschland galt nicht dem Nationalsozialismus als solchem“, vielmehr der Kirche, ihrer Botschaft und ihrer Lehre, die vom Regime durch Aushöhlung und Verfälschung bedroht waren. In dieser Auseinandersetzung konnte sie langwährende, partiell erfolgreiche Proteste auslösen, und „insofern war die Bekennende Kirche faktisch doch die Vorhut des umfassenderen Widerstandes, der dem Hitlerismus heute (= September 1942, W.O.) entgegengesetzt wird“.[5]
Zum zweiten betraf Barths kritische Distanz die gesamte damalige internationale Gemeinschaft, der er gewissermaßen einen Spiegel vorhielt: Wie sich auch seine eigene Gegnerschaft zum Nationalsozialismus erst mit der Zeit ausformte und wuchs, so haben auch andere viel zu lange und viel zu folgenreich Hitler entweder gewähren lassen oder ihn sogar mit (größerer oder kleinerer) Sympathie betrachtet. Als geistlichen Exponenten dieser europäischen Blindheit betrachtete Barth den „Bischof von Gloucester“, dem er noch im Oktober 1938 „die Leviten las“.[6] Er nannte ihn nicht beim Namen, aber es war nie ein Geheimnis, dass Arthur Caylay Headlam (1862–1947) gemeint war, von dem bis zur Gegenwart mit mildem Tadel geurteilt wird, er war „rather open to the political developments in Nazi Germany“. Dabei stand der britisches Gottesmann mit seinen beschönigenden Befunden zur angeblichen Ungefährdetheit der Kirchen in Deutschland absolut nicht vereinzelt da, zumal dieser, milde gesagt, nicht sonderlich gescheit war: Ein britischer Bischof, der den seit 1935 mehrfach inhaftierten, seit 1937 im KZ gefangenen Martin Niemöller nur als „a truculent sailor“ wahrnahm, kann kaum als Glanzlicht der anglikanischen Kirche gelten.
Von diesem Einzelfall abgesehen, hat Barth eine klare Sprache geredet: „Die Schuld daran, dass so etwas wie der Hitlerismus mitten in Europa möglich und wirksam geworden ist, ist gewiß eine gemeinsame Schuld aller europäischen Völker, Menschen und Regierungen. Und es ist wiederum wahr, dass diese gemeinsame Schuld die primäre (Heraushebung im Original, W.O.) Ursache des gegenwärtigen Krieges ist“ (Februar 1940).[7] „Mit welcher Gleichgültigkeit, mit welchem bloßen Zuschauerinteresse, ja teilweise mit welcher geheimen Sympathie hat man in allen Ländern zugesehen, wie dieses Chaos in Deutschland selbst immer größer und mächtiger wurde und wie es dann über Deutschlands Grenzen hinauszutreten begann!“ (Juli 1941)[8] „Man brachte dem Nationalsozialismus (…) ein gewisses mildes Interesse entgegen und hatte dafür um so mehr Vorbehalte gegen die deutsche Opposition, gegen die Bekenntniskirche und später auch gegen Hitlers Kriegsgegner“ (Februar 1945).[9]
Barth war eine europäische Instanz, er hatte zahlreiche Kontakte und Bekannte in allen Ländern, internationale Medien ersuchten ihn um Beiträge, und alles das gab ihm genügend Gelegenheit, diesen internationalen Schuldvorwurf wieder und wieder zu erheben und ihn sozusagen „national“ zu differenzieren: Wendete er sich an Engländer, strich er Fehler Englands heraus – waren Schweizer seine Adressaten, dann mussten die sich manches gefallen lassen.
Wesen und Werden von Barths Konzeption des Widerstands
Wer Europa und allen Europäern eine „Schuld“ daran vorwirft, dass Hitler und sein Regime überhaupt entstehen konnten, der muß eine dezidierte Negativmeinung vom Objekt dieser Schuldzuweisung haben, dem NS-Regime. Positiv ist Barth diesem nie begegnet, aber seine Einstellung hat sich im Laufe der Zeit signifikant verändert. Am Anfang stand ein grundsätzliches Misstrauen, das jedoch durch theologische Erwägungen und politische Überlegungen überdeckt war: Der Christ ist prinzipiell zur Loyalität für jede Herrschaft verpflichtet – Kirche und Staat haben von einander nichts zu verlangen, aber alles zu erwarten: Religiöse Rechtfertigung und menschliches Recht sind nicht dasselbe, aber kirchlicher Auftrag und obrigkeitliche Autorität müssen und können mit einander auskommen – „das haben uns die Reformatoren allerdings sehr kräftig eingeschärft“.[10]
Dieses bilaterale Stillhalteabkommen wurde von beiden Seiten für einige Zeit mehr oder minder eingehalten, wobei die Kirche natürlich größere Konzessionen als das Regime machen musste. Barth hat kurz nach dem Krieg geurteilt, die Kirche habe „Anlaß genug, sich zu schämen“, aber er hat diesen Vorwurf im selben Satz auch wieder relativiert: „(…) wäre überall wenigstens soviel geschehen, als damals in der Kirche geschehen ist, so hätte der Nationalsozialismus in Deutschland schon von Anfang an weniger gute Tage gehabt“, die Kirche hat „im Verhältnis zu jenen anderen Kreisen und Institutionen keinen Anlaß, sich zu schämen: sie hat vielmehr mehr gearbeitet als sie alle“.[11] Und einer der weitsichtigsten „Arbeiter“ war zweifellos Karl Barth, der bereits im Herbst 1933 den Rat gab, „dass man jetzt unter keinen Umständen (…) spielen darf, sondern aus allen Rohren schießen muß“.[12]
Wer Barth etwa in dem Sinne beurteilt, dass der ja gut reden gehabt habe, weil er in der sicheren Schweiz lebte, der unterliegt zwar einem naheliegenden Gedanken, tut Barth aber dennoch Unrecht. Weder hat der seine Schweiz jemals als absolut sicher angesehen (vielmehr sehr genau „Buch geführt“, wie diese sich verteidigen könnte, würde sie von Deutschland angegriffen), noch hat er deren relative Sicherheit dazu ausgenutzt, hochmütige Urteile und besserwisserische Ratschläge zu erteilen. Barth fasziniert durch die Eigenart seines Wirkens, nämlich an jüngste Ereignisse und Entwicklungen zu erinnern, die jeder kannte, diese in einer Weise zu interpretieren, die kaum jemandem zusagte, und schließlich Schlussfolgerungen zu ziehen, die der Zeit um etliches voraus waren.
Dabei kamen mitunter veritable „Paukenschläge“ zustande, etwa Barths Brief an den Prager evangelischen Theologen Josef Lukl Hromadka (1889–1969, Bild) vom 19. September 1938. Das Datum ist bedeutsam, denn der Brief entstand zehn Tage vor dem berüchtigten „Münchner Abkommen“, in welchem England, Italien und Frankreich Hitlers Forderung nachgaben, das mehrheitlich von Deutschen besiedelte „Sudetenland“ von der Tschechoslowakei abzutrennen und an Deutschland anzugliedern.[13] Die Tschechen, die in München nicht zugegen waren, betrachten dieses Abkommen bis zur Gegenwart als den Tiefstpunkt ihrer nationalen Entwicklung, als Verrat an ihnen und als Opferung ihrer Republik. Daß es das natürlich war, ist heute ein Gemeinplatz; 1938 wurde das Abkommen in ganz Westeuropa als mutige Tat zur Abwendung eines Kriegs und als Garantie eines langwährenden Friedens gefeiert. Für diese europäische Haltung hat sich später der verächtliche Begriff „appeasement policy“ eingebürgert, „Beschwichtigungspolitik“ gegenüber Hitler, der nicht auf Dauer zu beschwichtigen war.
Barth gehörte damals zu den sehr wenigen, die die wahre Natur des Münchner Abkommens bereits erkannt hatten, als dieses noch in Vorbereitung war. In dem Brief an Hromadka schrieb er, dass „nicht der Strom von Lüge und Brutalität, der von dem hitlerischen Deutschland ausgeht“, so furchtbar wäre, sondern der Umstand, dass Westeuropa „vergessen“ könnte: „mit der Freiheit Ihres Volkes steht und fällt heute nach menschlichem Ermessen die von Europa und vielleicht nicht nur von Europa“. Und er fügte etwas hinzu, das in Berlin mit Zorn, anderswo mit Unverständnis registriert wurde: „Dennoch wage ich zu hoffen, dass die Söhne der alten Hussiten dem überweich gewordenen Europa dann zeigen werden, dass es auch heute noch Männer gibt. Jeder tschechische Soldat, der dann streitet und leidet, wird es auch für uns“.[14]
Die gut gerüstete, an ihren Grenzen stark befestigte Tschechoslowakei wollte kämpfen, tat es dann aber doch nicht. Das propagandistische Trommelfeuer, das Hitler und seine „fünften Kolonnen“ im Lande um die „freie Selbstbestimmung“ entfachten, verfehlte seine Wirkung nicht, den Westen gegen die Tschechen und für die „unsinnigen Forderungen Deutschlands“ einzunehmen. So hat es Barth erstmals in dem Brief an Hromadka gesagt und später oft wiederholt: Erst hat man Spanien und Österreich, dann die Tschechoslowakei und Polen geopfert, und nun stand die Welt im Krieg gegen Deutschland und seine Verbündeten, der lange absehbar, aber nur zu gern verdrängt worden war.
Hromadka selber hat lange nach dem Krieg, aus Anlaß von Barths 70. Geburtstag 1956, an den „heute bereits weltbekannten Brief“ erinnert, aber auch daran, wie dieser „die vielfach abgerundeten Theologen und Kirchenmänner zum Protest, ja zum Spott reizen“ musste, obwohl er etwas antizipierte, was inzwischen niemand mehr bestreiten konnte: „Durch das Münchner Abkommen, das heißt durch die Kapitulation Westeuropas vor Hitler und seinen Drohungen, wurde die Führerrolle und Vormachtstellung der sogenannten christlich-europäischen Zivilisation endgültig gebrochen“.[15]
Ob Westeuropa jemals eine „Führerrolle“ oder „Vormachtstellung“ innehatte, dürfte eine Frage sein, die Barth nie interessiert hat. Für ihn verkörperte der Nationalsozialismus geistig den absoluten Nihilismus, politisch einen „Betrug“ und existentiell eine umfassende Bedrohung. Hitler musste bekämpft werden – nicht im Dienste irgendeiner Idee, sondern wie eine tödliche Gefahr oder eine todbringende Krankheit. Im Frühjahr 1940 präzisierte Barth in einem Vortrag seine Gegnerschaft: „Es gibt nämlich einen Preis, der mit gutem Gewissen auch zur Vermeidung dieses Schrecklichen, auch zur Erhaltung des Friedens nicht bezahlt werden kann. Dieser Preis ist im letzten Herbst (Kriegsausbruch 1939, W.O.) gefordert worden und weil dieser Preis nicht bezahlt werden konnte und durfte, darum haben wir heute Krieg (…) Es bedeutete nämlich der Friede, der den Völkern Europas im letzten Herbst angeboten wurde, die weitere Ausdehnung der Herrschaft eines Geistes, der in Wahrheit ein Ungeist ist: ein Geist der bewussten Lüge, des absichtlichen Unrechts, der grundsätzlichen Menschenverachtung und Menschenvergewaltigung“.[16]
Auch und gerade zur Natur des aktuellen Krieges hatte Barth eine dezidierte Meinung, die er im Juli 1941 den „christlichen Brüdern in Großbritannien“ mitteilte; der Brief wurde „von der Zensur verboten“. Von wessen Zensur? Vermutlich von der schweizerischen, denn er enthielt Gedanken, die im Grunde eine exzeptionelle Kriegserklärung waren. Alle bisherigen Kriege, so Barth, auch der Erste Weltkrieg hätten „faktisch nicht geführt zu werden brauchen“, denn die Konfliktursachen und Kriegsauslöser hätte man auch „auf anderen als militärischen Wegen“ ausräumen können. Im Unterschied dazu handelt es sich „bei dem im September 1939 erklärten Krieg nicht (…) um einen vermeidbaren Krieg“, den „wir (…) als einen rechten, von Gott nicht nur zugelassenen, sondern gebotenen Krieg bejahen müssen“.[17] Kurz, und schon Anfang 1940 so gesagt: „Zu diesem Krieg muß leider im vollen Bewusstsein um die Schrecklichkeit jedes Krieges Ja gesagt werden“.[18]
Barth und die Deutschen
„Der Sieg hat viele Väter, die Niederlage ist eine Waise“, dieses Sprichwort gibt es bei vielen Völkern und in vielen Sprachen. Deutschland war im Mai 1945 besiegt, hatte bedingungslos kapituliert, wurde territorial enorm verkleinert und musste seinen „Waisen“-Status hinnehmen. Der von der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 verfügte „orderly transfer of German population“ aus Osteuropa vollzog sich anfänglich als brutale Vertreibung aller Deutschen und brachte rund acht Millionen Flüchtlinge in das zerstörte, in Zonen aufgeteilte Nachkriegs-Deutschland.[19]
Trifft die Deutschen eine „Kollektivschuld“, spüren sie eine „Kollektivscham“, waren sie überhaupt kollektiv in Hitlers Verbrechen involviert? Solche und ähnliche Fragen wurden damals vielfach debattiert, auch Barth hat sich ihnen nicht entzogen. Wie vorher in anderen Zusammenhängen, so schwamm er auch jetzt nicht im Mainstream der Diskussion mit. Er betrachtete die Deutschen weder als Kollektiv von Verbrechern noch als Gemeinschaft von Verführten, zwar erkannte er am Nationalsozialismus „deutsche“ Züge, wollte aber nicht alle Deutschen mit diesem identifizieren. Im Dezember 1939 schrieb er in einem „Brief nach Frankreich“: „Das deutsche Volk ist kein böses Volk, nicht böser jedenfalls als alle anderen Völker auch, und die Vorstellung, dass man es heute als solches bestrafen müsse, wäre, christlich und menschlich betrachtet, gleich unmöglich. Es ist aber der Hitlersche Nationalsozialismus der allerdings böse Ausdruck der ungewöhnlichen politischen Torheit, Verworrenheit und Hilflosigkeit des deutschen Volkes“.[20] Ein Jahr später nannte Barth im November 1940 die Deutschen „ein von Natur tüchtiges und intelligentes Volk, das freilich von der Aufrichtung jener Gewaltherrschaft in seinem eigenen Bereich überrumpelt worden ist und das heute vielleicht in seiner Mehrheit nur unfreiwillig und apathisch mittut“.[21] Diese Vorstellung von den Deutschen, die mehrheitlich nicht mit dem Regime sympathisierten, von diesem aber zur Gefolgschaftstreue gezwungen wurden, hat Barth in seinen damaligen Äußerungen nicht selten angesprochen, aber sie dürfte in den Jahren 1939/40 noch eine Wunschvorstellung gewesen sein.
Generell kannte Barth „seine“ Deutschen sehr gut, und die entsprechenden Urteile sind auch heute noch, 60 und mehr Jahre später, ob ihrer Treffsicherheit ein ungeschmälertes Lesevergnügen. Zum Beispiel wenn er im Februar 1945 von der „merkwürdigen deutschen Eigenschaft“ spricht, „gerade über unangenehme politische Erinnerungen nachher großzügig hinwegzuleben und sie in ihr Gegenteil umzudeuten“. Was für eine großartige Charakterisierung von Deutschen, die über Unangenehmes „hinwegleben“! Nicht weniger treffend Barths Urteil, „dass die Deutschen es lieben, auf jede politische Anklage alsbald mit einer Gegenanklage und mit den entsprechenden entrüsteten Ansprüchen zu antworten“.[22] Welcher Deutsche würde das bestreiten? Und wem fielen nicht sofort ungezählte Beispiele für die Richtigkeit von Barths Befund ein?
Als Barth das schrieb, war der Krieg noch nicht ganz vorüber, und die Möglichkeit, dass die Deutschen nach ihrer absehbaren Niederlage als Volk von Parias behandelt und kollektiv bestraft würden, mag damals in vielen Köpfen herumgespukt haben. In Barths Kopf nicht! Er plädierte expressis verbis für „Freundschaft“ – vielleicht nicht mit Deutschen, aber gewiß zu ihnen. „Deutsche können Einen nämlich ungeduldig machen“, und wer ihnen ohne Freundschaft gegenübertritt, erzielt zwei kontraproduktive Effekte: Die Masse wird „rückwärts blicken“, andere werden sich in „der großen deutschen Kunst des intellektuellen Ausweichens“ üben. Solche Deutschen kann niemand brauchen, zumal die Deutschen selber anderes brauchen: „Anschauungsunterricht“, wie man Politik und Verwaltung besser machen kann, und diesen Unterricht sollten die Besatzungsmächte erteilen; Beschäftigung mit der „eigenen Verantwortlichkeit“, denn „es gibt im deutschen Denken eine fatale Neigung“, sich immer mit anderen und deren Problemen zu beschäftigen; „innerer und äußerer Wiederaufbau“. Von seinen Nachbarn in Europa braucht Deutschland „Erschütterung“. Die Deutschen haben vergessen, dass „Gott seiner nicht spotten lässt“, und darum ist ihr schreckliches Kriegsende eine Mahnung an die gesamte Gattung Mensch – „ein Zeichen des ewigen Gesetzes, an dem der Mensch zerbrechen muß, wenn er sich ihm nicht beugen will“. Deutschland braucht weiterhin „Teilnahme“, weil das Gegenteil Schadenfreude wäre, und die darf sich niemand erlauben, weil sich niemand sicher sein kann, grundsätzlich anders als die Deutschen reagiert und gehandelt zu haben. Und Deutschland braucht schließlich „Ehrfurcht“, und sei es im Vorgriff auf eine Zukunft, nachdem den Deutschen „nichts Anderes übrig zu bleiben scheint, als unter schwierigsten Umständen und Bedingungen ganz von vorn anzufangen, ein völlig Neues zu pflügen“.
Kurz nach Kriegsende bekam Barth Post aus Deutschland, darunter auch Briefe, auf die er sehr ausführlich antwortete, obwohl er ihren Inhalt als „Fluchtversuche“ und als Ausdruck der „unseligen deutschen Intellektuellen mit ihrer Philosophie der prinzipiellen Wendigkeit“ empfand.[23] Denen sagte er sehr einfach: „Daß das deutsche Volk, um das nationalsozialistische Unheil zu verhindern, aus lauter »Helden« hätte bestehen müssen, kann ich nicht gelten lassen. Es hätte nur aus simplen, aber politisch vernünftig denkenden und entschlossen handelnden bzw. einfach an ihrem Ort stehenbleibenden Staatsbürgern bestehen müssen. Der »Widerstand« wäre dann ganz von selbst dagewesen“.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Barth, Karl: Eine Schweizer Stimme 1938-1945, Zollikon-Zürich 1945
Niemöller, Wilhelm: Zur Strategie des Kirchenkampfes, in: Antwort – Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, Zollikon-Zürich 1956.
Perzi, Niklas : Die Beneš-Dekrete – Eine europäische Tragödie, Sankt Pölten/ Wien/ Linz 2003.
Smetáček, Zdenĕk : Od Mnichova k válce (Von München zum Krieg), Prag 1945.
Anmerkungen
[1] Wieder abgedruckt in Karl Barth: Eine Schweizer Stimme 1938-1945, Zollikon-Zürich 1945, S. 260
[2] Vgl. die Stichworte „Barth, Karl“, „Bekenntnisfront“, „Deutsche Evangelische Kirche“, „Deutsche Christen“ und „Deutsche Glaubensbewegung“ samt den jeweiligen ausführlichen Literaturlisten in: Meyers Lexikon 8.A., Bd. 1 und 2, Leipzig 1936/37
[3] Vgl. die aufschlussreiche Dokumentation „Die christlichen Wurzeln des Nationalsozialismus“, www.humanist.de/kriminalmuseum
[4] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 81 ff.
[5] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 258 ff.
[6] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 60 ff.
[7] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 119
[8] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 196
[9] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 335
[10] So Barth in seiner ausführlichen Darlegung „Rechtfertigung und Recht“ vom Juni 1938, in: Eine Schweizer… aaO., S. 13 ff.
[11] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 5
[12] Wilhelm Niemöller: Zur Strategie des Kirchenkampfes, in: Antwort – Karl Barth zum siebzigsten Geburtstag am 10. Mai 1956, Zollikon-Zürich 1956, S. 666-675
[13] Vgl. dazu aus tschechischer Sicht Zdenĕk Smetáček: Od Mnichova k válce (Von München zum Krieg), Prag 1945
[14] Barth. Eine Schweizer… aaO., S. 58 ff.
[15] Wortlaut in: Antwort… aaO., S. 3-13
[16] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 133
[17] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 181 ff.
[18] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 135
[19] Detailliert zu den Vorgängen in der Tschechoslowakei Niklas Perzi: Die Beneš-Dekrete – Eine europäische Tragödie, Sankt Pölten/ Wien/ Linz 2003, S. 221 ff.
[20] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 113
[21] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 161
[22] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 359
[23] Barth, Eine Schweizer… aaO., S. 382 ff.