Julius Streichers Wochenzeitung Der Stürmer gilt als extremster Auswuchs der antisemitischen Hetzkampagnen der Nationalsozialisten. Streicher selbst wurde von den Alliierten als „Judenhetzer Nr.1“ tituliert. Die historische Forschung hat zwar immer wieder auf Streicher und seine Zeitung verwiesen, aber noch keine aussagekräftige Gesamtdarstellung hervorgebracht. Daniel Roos füllt nun mit einer Doppelbiographie Streichers und des „Stürmer“ diese Lücke.
Julius Streicher wurde in eine streng katholische Familie im schwäbischen Fleinhausen hineingeboren. Obwohl sich Streicher schon früh von der Kirche entfremdete und 1936 austrat, scheint die katholische Sozialisation gewisse Spuren hinterlassen zu haben. Die Obsession des „Frankenführers“ für die Ritualmordlegende und judenfeindliche Bibelzitate waren jedenfalls Klassiker des katholischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert – was Roos leider verschweigt. Ein überzeugter Antisemit war Streicher in seinen Jugendjahren allerdings noch nicht. Wie sein Vater wurde er Volksschullehrer und unternahm nach seiner Versetzung nach Nürnberg erste politische Gehversuche in einer liberalen Partei. Das völkisch-antisemitische Weltbild Streichers formierte sich höchstwahrscheinlich im Ersten Weltkrieg, an dem er als Unteroffizier teilnahm. Wie viele seiner bürgerlichen Zeitgenossen verachtete er die neue Ordnung der Weimarer Republik und schloss sich diversen völkischen Gruppierungen an, wo er erfolgreich als Redner und Publizist aktiv wurde. 1922 gründete er die Ortsgruppe der NSDAP in Nürnberg und nahm 1923 am Hitler-Putsch in München teil.
In diesen Zeitabschnitt fällt auch die Gründung des „Stürmer“, der zuerst als Sprachrohr Streichers in einer innerparteilichen Schlammschlacht fungierte. Schon bald entwickelte sich die Zeitung aber zu einem reichsweit führenden antisemitischen Propagandaorgan, in dem die „Judenfrage“ das alles dominierende Thema darstellte. Mit skrupellosen Diffamierungskampagnen wie gegen den Nürnberger Bürgermeister Luppe und einer eigenwilligen Mischung aus Gewalt- und Sexualfantasien erarbeitete sich der „Stürmer“ einen legendären wie gefürchteten Ruf. Breiten Raum nahm im „Stürmer“ immer wieder der Themenkomplex der „Rassenschande“ ein, der ein deutliches Licht auf Streichers projektives Ausleben von tabuisierten Sexualfantasien im Antisemitismus wirft. Roos weist zwar darauf hin, unternimmt aber keine psychologische Ausdeutung. Mit vielen Zitaten und Abbildungen verdeutlicht der Autor die Entwicklung und die Agitationsmethoden des „Stürmer“, der schon früh einen besonders radikalen Weltanschauungsantisemitismus mit den Mitteln von Emotionalisierung, Manichäismus, Selbstheroisierung und der ständigen Wiederholung derselben Themen und Parolen verbreitete. Neben der hemmungslosen Radikalität war die Einbeziehung der Leser ein weiteres besonderes Kennzeichen des „Stürmer“. Streichers Zeitung spannte die Leserschaft als „investigative Journalisten“ ein und bezog ein Großteil seines Materials über angebliche „jüdische Untaten“ aus Leserzuschriften. Leider versäumt Roos die medienhistorische Einordnung dieses wichtigen Aspekts.
Nach der NS-Machtergreifung und den Nürnberger Rassegesetzen musste sich der „Stürmer“ neu ausrichten. Der Fokus verschob sich nun auf die Auslandsberichterstattung, um dann im Zweiten Weltkrieg dem „internationalen Judentum“ die Kriegsschuld zuzuschieben und unverhohlen die Vernichtung der Juden als Kriegsziel zu fordern. Allerdings hatte der „Stürmer“ zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Zenit überschritten. Umfang und Auflagen der Zeitung, die allerdings noch bis Februar 1945 erschien, gingen deutlich zurück. Julius Streicher blieb während des gesamten Zeitraums seiner politischen Tätigkeit als Gauleiter in der NSDAP umstritten. Dies ist allerdings weniger auf seinen radikalen Antisemitismus als auf seine unzähligen Affären, seine peinlichen Auftritte und die Ausnutzung seiner Stellung zur persönlichen Bereicherung zurückzuführen. 1932-33 formierte sich in der Nürnberger Partei und SA eine Opposition gegen Streicher. Nur die Protektion Hitlers verhinderte seinen Sturz. Wegen der Unterschlagung von Gewinnen aus „wilden Arisierungen“, wurde Streicher im Februar 1940 durch eine parteiinterne Untersuchungskommission entmachtet. Den „Stürmer“, der sein persönliches Sprachrohr und nie ein offizielles Parteiblatt war, durfte er aber weiterhin herausgeben. Obwohl Streicher in der Phase der „Endlösung der Judenfrage“ kein politisches Amt mehr ausübte, wurde er vom Nürnberger Militärtribunal zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das Gericht argumentierte, er habe im „Stürmer“ eine Pogromstimmung gegen die Juden erzeugt und somit den nationalsozialistischen Judenmord vorbereitet. Roos hält diese Einschätzung für juristisch problematisch, teilt sie im Fazit seiner Arbeit dann aber doch.
Roos‘ Studie über Julius Streicher und den Stürmer hat seine Stärken im Detail- und Materialreichtum. Manchmal beschränkt sich der Autor auf für sich selbststehende Zitate (S.18) oder die Aufzählung von Schlagzeilen, oder er verzichtet auf Analyse und Interpretation, wo beides geboten gewesen wäre. Besser gelungen sind die Schilderungen der Diffamierungskampagnen des „Stürmer“ wie im Fall Luppe und im Fall Schloss. Hier erhält der Leser einen guten Einblick in die redaktionelle Arbeitsweise der Zeitung. Sehr aufschlussreich ist der zweite Teil der Arbeit, der im Anschluss an den chronologisch gehaltenen ersten Teil den „Stürmer-Komplex“ beleuchtet. Hier widmet sich der Autor unter anderem dem Antisemitismus im „Stürmer“, der redaktionellen Machart des Blattes sowie weiteren Veröffentlichungen aus dem Umfeld des „Stürmer“ wie den perfiden Kinderbüchern. Insgesamt bietet Roos eine äußerst faktenreiche Darstellung, der an manchen Stellen aber die analytische Tiefenschärfe fehlt.
Autor: Thomas Gräfe
Daniel Roos, Julius Streicher und „Der Stürmer“ 1923-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh-Verlag 2014 ISBN 978-3-657-77267-4, 535 S., 49,90 €