Daniel Jonah Goldhagen, Die katholische Kirche und der Holocaust, Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, Siedler Verlag Berlin, 2002.
Die katholische Kirche und der Holocaust – Das zweite Buch von Daniel J. Goldhagen befasst sich mit der Rolle der katholischen Kirche während des Nationalsozialismus. Der Autor des Buches „Hitlers willige Vollstrecker“ untersucht darin sowohl die Politik des Vatikans sowie der jeweils „nationalen“ Kirchen in den Jahren 1933 bis 1945. Um es gleich vorweg zu nehmen: Wer der Meinung ist, die katholische Kirche war antikommunistisch und antisemitisch, wird bestätigt. Dennoch ist das Buch gerade deswegen lesenswert, da es über diese (vorwiegend linken) Banalitäten hinausgeht. Goldhagen beschreibt anhand vieler historischer Beispiele die Bedeutung des Antisemitismus für die katholische Kirche sowie die Heuchelei gegenüber den Juden in der Nachkriegszeit.
Interessant ist dabei, dass Goldhagen (dabei immer differenzierend!) anhand der moralischen Kriterien der katholischen Kirche selbst argumentiert. Die Gliederung seines Buches ist letztlich an den Moralkriterien der Kirche ausgerichtet. Nachdem das Verhalten geklärt wird (Teil 1), geht Goldhagen zur Beurteilung der Schuld über (Teil 2) um danach über Wiedergutmachung (Teil 3) und die Aufbietung des Willens dazu (Teil 4) zu schreiben. Dabei betont der Autor immer wieder die persönliche Schuld von handelnden Individuen, nicht die kollektive Schuld aller Angehörigen dieser Institution nur auf Grund der Zugehörigkeit.
Goldhagen verortet die antijüdischen Wurzeln bereits im Neuen Testament. So enthält z. B. das Johannes-Evangelium „rund 130 ausdrücklich antisemitische Verse“ (S. 351). Oder die Apostelgeschichte, die „rund 140 antisemitische Verse“ (S. 351) umfasst. Bereits der Bezeichnung Neues Testament liegt eine Herabwürdigung des Alten Testaments zugrunde, zu dem sich das Judentum bekennt. Die Juden stellten somit für die Christen immer ein Ärgernis dar, da sie sich nicht zur „neuen“ Religion bekannten. Allerdings ist für Goldhagen auch die Struktur der Kirche kritikwürdig. Autoritarismus, Unmodernität, verkrustete Strukturen sowie eine intolerante Heilslehre führ(t)en die katholische Kirche immer wieder zu antijüdischen Verhaltensweisen.
Am Beispiel der Person Pius XII. zeigt Goldhagen die konkreten Verfehlungen der Kirche auf. Für diesen Papst war der Kommunismus der Todfeind. Bereits im Jahre 1919 (damals noch Eugenio Pacelli als Nuntius in Bayern) erwähnte er in einem Brief über die Münchner Räterepublik alle antisemitischen Stereotype. Nicht nur dass Juden und Bolschewismus eins seien, sondern sogar die Physiognomie fiel dem zukünftigen Stellvertreter Gottes auf. So „lungerten“ junge Frauen und Juden mit „provokativem Benehmen und zweideutigem Grinsen“ in einem Büro herum. Die „Chefin“ dieses „weiblichen Abschaums“ war „eine junge Russin, Jüdin und geschieden“ (S. 63)!
Er wirft diesem Papst vor allem seine Untätigkeit während des Holocausts vor. Denn während die Nazis die Juden in die Lager deportierten und töteten schwieg der Papst. Und dies trotz seines Wissens über die Vorgänge in den Lagern. Noch verwerflicher ist allerdings die Lüge, die Kirche bzw. der Papst hätten alles getan um Menschen zu schützen. Diese Lüge der Verteidiger der Kirche will Goldhagen mit seinem Buch zerstören. Der Antisemitismus, den die katholische Kirche jahrtausendelang – offen und versteckt – predigte oder duldete ist der Handlungsrahmen gewesen, in dem Menschen aufwuchsen, die später massenhaft Juden aktiv mordeten oder einfach wegsahen als jüdische Menschen gepeinigt, gefoltert und getötet wurden. Genau darin liegt die Verantwortung der katholischen Kirche.
Um diese Verantwortung in ihrer Dimension zu erkennen seien hier einige wenige wissenswerte Details erwähnt: Zwar exkommunizierte die katholische Kirche alle Kommunisten aber niemals auch nur einen nationalsozialistischen Täter (ganz zu schweigen von der unrühmlichen Rolle bei der Flucht von gesuchten Naziverbrechern nach Kriegsende). Das Konkordat zwischen dem Vatikan und Nazideutschland aus dem Jahre 1933 sicherte dem Naziregime erstmals öffentliche Anerkennung und Legitimation. Die Zeitschrift „Civiltà Cattolica“, die „offizielle, maßgebende und bedeutendste vatikanische Publikation“ (S. 107) gilt für Goldhagen als Bindeglied zwischen kirchlichem Antijudaismus und rassischem Antisemitismus. Das Naziblatt „Stürmer“ lobte das katholische Periodikum gar als „Vorbild“. Die Nazis erfreute darüber hinaus der rassistische Antisemitismus der Jesuiten. Denn nur wer fünf Generationen ohne „jüdischen Einfluss“ nachweisen konnte wurde in die Gesellschaft Jesu aufgenommen.
Doch auch das Kapitel Wiedergutmachung oder Verantwortung ist kein Ruhmesblatt für die katholische Kirche. So wurde der Staat Israel vom Vatikan offiziell erst 1994 anerkannt. Die aktuellen Zerwürfnisse wegen des palästinensischen Terrorismus gegen Israel reihen sich dabei nahtlos ein. Goldhagen sieht in der Nachkriegszeit häufig „politisches Kalkül“ am Werk um den Vatikan vor allzu scharfer Kritik zu schützen.
Dabei gelangt man auch zur „Schwäche“ des Buches. Goldhagen attestiert Deutschland eine relativ erfolgreiche Vergangenheitsbewältigung (sicherlich richtig, wenn man die katholische Kirche als Vergleichsmaßstab annimmt), obwohl er sich scheinbar etwas unwohl dabei fühlt. So verweist er auf einige antiisraelische Auswüchse und Stellungnahmen in Deutschland, die während der zweiten palästinensischen Intifada – auch von der gesellschaftlichen Elite – geäußert wurden.
Doch trotz der angesprochenen Schwäche ist das Buch eine Investition wert. Viele Dogmen der katholischen Nachkriegsgeschichte müssen nach der Lektüre neu und anders bewertet werden. Eine Institution, die sich den moralischen Führungsanspruch für die abendländische Zivilisation auf die Fahnen schreibt, kann diesen Anspruch – nach der Lektüre des Buches – bezüglich ihrer Rolle während des Dritten Reiches nicht mehr aufrechterhalten.
Autor: Jochen Böhmer
Daniel Jonah Goldhagen, Die katholische Kirche und der Holocaust, Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, Siedler Verlag Berlin, 2002.