Eine „Schwejkiade“ aus dem nationalsozialistischen „Protektorat Böhmen und Mähren“
Hamlet, Robinson, Don Quichotte, Faust, Mephisto, Tell, Dr. Shiwago, Huckleberry Finn, Eugen Onegin und so noch unendlich weiter – sollte es eine Liste der bekanntesten Figuren der Weltliteratur geben, dann müsste in ihr auch (und zwar auf einem der vordersten Plätze) ein Tscheche erscheinen: Der „brave Soldat Schwejk“ oder tschechisch „dobrý voják Švejk“. Der Prager Bohémien und Humorist Jaroslav Hašek (1883-1923) hat ihn erfunden und seine Abenteuer ab März 1921 in Fortsetzungsheften veröffentlicht. Bereits drei Jahre später brach in der „Weltbühne“ (Nr. 23 vom 8. Juni 1926) Ignaz Wrobel (= Kurt Tucholsky) in Hochrufe aus: „…laß uns anstoßen, auf auch beide, Hašek. Auf einen großen Dichter und auf den braven Soldaten Schwejk!“
Nur in einem lag „Tucho“ falsch: „Das Buch ist aus dem Tschechischen ins Deutsche übertragen worden – soweit ich das beurteilen kann, nicht sehr glücklich“. Übersetzt hatte das Buch die Deutsche Grete Reiner, über deren Biographie wir im Grunde gar nichts wissen, aber ihre Übersetzung war nicht nur „glücklich“ – sie war (vermutlich) der größte Glücksfall der Literaturgeschichte! Oder hat es das noch einmal gegeben, dass ein Buch aus einer „kleinen“ Literatur durch eine Übersetzung in eine „große“ Sprache ein langanhaltender Welterfolg wurde?
Schwejk war und bleibt ein Welterfolg, der allein auf Grete Reiners Übersetzung basiert. Dabei hat sie ihn gar nicht in die deutsche Hoch- und Standardsprache übertragen, sondern in die lokale Varietät der Prager Deutschen, das legendäre „Kleinseitener Deutsch“, in dem man „auf“ etwas vergisst, etwas „trifft“ (statt „kann“) etc. Das aber war der Tonfall, der kongenial zum tschechischen Original passte.
„Der brave Soldat Schwejk“ ist die pralle Geschichte eines kleinen Prager Hundehändlers, der in den Ersten Weltkrieg gerät, unendlich weit herumgewirbelt wird und alles klaglos übersteht – dank seiner Pfiffigkeit oder gespielten Dusseligkeit, die seither sprichwörtlich geworden ist: „Schwejk“, „Schwejkiade“, „sich durchschwejken“ – das und weiteres mehr sind Synonyme für Situationen und Personen, die rasch oder langsam ihre „Wertigkeit“ wechseln: Wer oder was am Anfang groß, bedeutend, machtvoll dasteht, der oder das geht am Ende blamiert, entblößt, lächerlich gemacht davon – während der kleine, unbedeutende, harmlose „Dussel“ als unangreifbarer Triumphator lächelnd und schweigend seinen Sieg genießt.
So geschah es mit Schwejk, und ähnlich erging es einem anderen Tschechen unter weit schwierigeren Verhältnissen als in der schlampig-gemütlichen Habsburger Monarchie, zu der Tschechien bis 1918 gehört hatte. Die Rede ist von Jaroslav Žák – einem Latein- und Französischlehrer, der ohne eigenes Zutun den Zensurapparat der deutschen Nationalsozialisten blamierte. Žák wurde am 28. November 1906 in Prag geboren, wo er am 29. August 1960 auch starb. Bis 1925 besuchte er ein klassisches Gymnasium und studierte danach bis 1929 an der Prager Karls-Universität Romanistik und klassische Philologie. Nach dem Studium hatte er wechselnde Lehrerstellen in Tschechien und in der Slowakei, am längsten im nordböhmischen Jaroměř, wo er es von 1936 bis 1946 aushielt. Sein bester Freund war der Maler Vlastimil Rada (1895-1962) und in den 1930-er Jahren machten sich beide daran, Bücher zu verfassen – Žák als Autor, Rada als Illustrator -, die ursprünglich als Kinderbücher gedacht waren, bald aber große Publikumserfolge wurden.
1937 erschien ihr erfolgreichstes Buch, das den Titel „Študáci a kantoři“ trug. Der Titel ist unübersetzbar, weil er aus zwei Begriffen des tschechischen Schülerjargons besteht – „Pennäler und Pauker“ wäre eine in etwa angemessene Übersetzung. Die durchgehende Verwendung der authentischen Schülersprache war ein besonderer Reiz des Buchs, seine witzige Darstellung der Schule, der Lehrer, der Schüler, des Unterrichts ein weiterer, seine zwerchfellerschütternden Passagen über die tschechische Sprache, etwa die Verwendung des Konjunktivs in dieser, nicht der letzte.
Das Buch erlebte bis 1940 mehrere Auflagen, darunter auch eine deutsche, die Julius Mader, ein Theatermann aus Reichenberg (Liberec), kongenial angefertigt hatte. Das Buch trug den brisanten Titel Der Klassenkampf, und in der Bücherei des Verfassers dieser Zeilen steht ein Exemplar, das Jaroslav Žák eigenhändig mit Interpretationen (dass es sich um die deutsche Ausgabe seiner „Študáci a kantoři“ handelte) und mit einer Widmung versehen hatte: „Jaroměř, den 16.10.41. Der lieben Frau Dr. Karla Kolářová in Erinnerung an die vergangene Zeit des Klassenkampfs in der ehemaligen Libuša-Straße dankbar gewidmet von Jaroslav Žák“. Wir wissen nicht, wer die Adressatin war und was der Autor mit seiner Anspielung meinte. Vermutlich war es eine Erinnerung an die Dramatisierung des Buchs, die unter dem Titel „Šklola základ života“ (Schule Grundlage des Lebens) 1937 von dem Theater „D38“ aufgeführt wurde. Für eine solche Verbindung sprächen auch die Person des Übersetzers Mader und dessen Kontakte zur tschechisch-deutschen Theaterszene in Nordböhmen.
Die Vorstellung, dass eine deutsche Übersetzung von Žáks Buch als betont tschechisch-deutsches Gemeinschaftswerk zu einer Zeit herauskam, da bereits Krieg war und aus den tschechischen Landesteilen Böhmen und Mähren ein deutsches „Protektorat“ wurde, ist einfach schön. Aber ist sie auch zutreffend? Der Klassenkampf war kaum erschienen, da setzte ihn die „Reichsschrifttumskammer“ (RSK), eine von sieben Abteilungen von Goebbels’ „Reichskulturkammer“, auf die „Liste unerwünschter Bücher“, die seit 1935 geführt wurde. Das war aus Sicht der Nationalsozialisten nur zu einsehbar: Ein Autor aus den Reihen „slavischer Untermenschen“, als solcher bereits durch die Schreibung seines Namens ausgewiesen, macht sich über die Schule, die „Pflanzstätte des neuen Geistes“, lustig und das Buch erscheint noch unter dem altbekannten Streitbegriff Klassenkampf – gar nicht zu reden von gewissen Sprachfinessen des Textes, wenn etwa Zensurengebung als „roter Terror“ bezeichnet wird und ähnliches mehr.
So weit, so verständlich – aber unverständlich war und bleibt das, was dann passierte: Žáks Buch, gerade verboten, feierte fröhliche Urständ’ als Band 26 der „Lustigen-Bücher-Reihe“, die der Berliner Carl Stephenson Verlag herausgab. Der bekannte und beliebte Karikaturist G. Bri (= Gerhard Brinkmann) hatte Illustrationen beigesteuert, die viel lustiger als die originalen von Rada waren, und die Übersetzung gab sich nicht übermäßige Mühe, ihre tschechische Vorlage zu verbergen: Ein „Student an einem Gymnasium“ kann man eben nur bei Tschechen sein, da „Studenten“ bei Deutschen Hochschüler sind, die auf Gymnasien nicht aufgefunden werden.
Verblüffend an diesem Buch war nicht, dass ein deutscher Verlag 1941 ein tschechisches Buch herausbrachte, wohl aber, dass er sich gerade dieses Buch aussuchte. Daß eine Deutschstunde im Original in der Übersetzung zur Englischstunde avanciert, ist wohl der „Dramaturgie“ der Übersetzung zu verdanken, wiewohl erstaunlich unter den bestehenden Kriegsbedingungen, da England doch schon der Krieg erklärt war. Aber das nur nebenbei. Wie schon erwähnt, ist Žáks Opus auch eine wunderschöne Studie über die tschechische Sprache, und die schönsten Stellen sind einfach unübersetzbar.
Warum also diese deutsche Übersetzung? Bis zum Beweis des Gegenteils sollten wir wohl von einer „Schweijkiade“ sui generis ausgehen. Da bekommen also Deutsche ein Buch eines tschechischen Autors, das bei Tschechen ein großer Hit war. Die Deutschen wissen, dass das Buch zeitweilig verboten, dann wieder erlaubt war, also erst recht begehrenswert. Sie lesen es, bekommen ein Gespür für Witz und Wesen der Tschechen, und dieser Eindruck ist nicht der schlechteste. Die Tschechen wiederum vergleichen die deutsche Ausgabe mit dem tschechischen Original, entdecken einige ausgelassene Kapitel – in denen über Hitler, Mussolini, Henlei-Partei der Sudetendeutschen etc. gewitzelt wird – und bewundern den Übersetzer, der mit ein paar ausgewählten Auslassungen die Zensur austrickste. So kann es gewesen sein. War es so?
Žák kehrte 1946 nach Prag zurück, schrieb Romane und Erzählungen, die an alte Erfolge anknüpften, und wurde erfolgreicher Verfasser von Drehbüchern. 1948 übernahmen die Kommunisten putschartig die Macht, und die neuen Verhältnisse ironisierte Žák in seinen drei Romanen „Konec starých časů“ (Das Ende der alten Zeiten), „Na úsvitě nové doby“ (Beim Anbruch der neuen Zeit) und „Ve stínu kaktusu“ (Im Schatten des Kaktus). Dieser letzte Roman war eine besonders vertrackte, „schwejkische“ Schöpfung: Als Fortsetzungsroman in einer Zeitung veröffentlicht, schilderte er vorgeblich die Verhältnisse in der fiktiven südamerikanischen Republik Hodoquasska, aber selbst bei flüchtigem Hinlesen entdeckte der Leser, dass es sich um eine ironische Betrachtung der tschechischen Geschichte von 1918 bis 1948 handelte. Der Autor wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und mit einem Publikationsverbot belegt. 1960 starb er, gerade 45 Jahre alt.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Kunc, Jaroslav: Slovník soudobých českých spisovatelů (Lexikon der modernen tschechischen Schriftsteller), Bd. I-II, Prag 1945/46, zit. Bd. II, S. 961ff. ( Biographie Žáks ).
Žák, Jaroslav: Študáci a kantoři – Přirodopisná studie (Pennäler und Pauker – Eine naturwissenschaftliche Studie), Prag 1937.
Ders.: Študáci a kantoři – Přirodopisná studie, Prag 1968.
Zak, Jaroslav (auf dem Umschlag), Jaroslav Žák (auf der Titelseite im Buchinneren): Der Klassenkampf – Einiges über das Wesen des Schulmenschen, Berlin 1941.
Zak, Jaroslav: Pennäler contra Pauker – Strategie, Tricks und Abwehr, rororo 1325, Reinbeck bei Hamburg 1970.