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Startseite > Erinnerung und Aufarbeitung > Aufarbeitung der NS-Zeit > Imre Kertész und sein Roman eines Schicksallosen
Geschrieben von: Zeno Ackermann
Erstellt:

Imre Kertész und sein Roman eines Schicksallosen

Die Literatur der radikalen Ent-Täuschung

Als der Literaturnobelpreis 2002 unter ungeteiltem Beifall an den ungarischen Autor Imre Kertész verliehen wurde, manifestierte die europäische Welt endlich ihre Bereitschaft, das unerhörte Angebot anzunehmen, das ihr ein radikal Einsamer über Jahrzehnte in seinen großartigen Werken gemacht hatte. Geehrt wurde ein schwer verdaulicher Autor, der uns unbestechlich mit dem heikelsten denkbaren Stoff konfrontiert. Denn Kertész, der sich als ein „Medium des Geistes von Auschwitz“ bezeichnet hat (Galeerentagebuch 32), stellt das mit dem Codewort Auschwitz umschriebene Verbrechen nicht nur in den Mittelpunkt seines eigenen Schaffens, sondern rückt es auch ins Zentrum der europäischen Geschichte sowie des modernen Seins.

Aufgrund seiner jüdischen Abstammung wurde Imre Kertész 1944, noch nicht ganz fünfzehnjährig, aus Budapest nach Auschwitz deportiert. 1945 wurde er in Buchenwald befreit. Die Geschichte seines „Am-Tode-Vorbei-Überlebens“ (Katarina Holländer) gestaltete Kertész in seinem Roman Sorstalanság (wörtlich: „Schicksalslosigkeit“), an dem der Autor mehr als zwölf Jahre lang arbeitete und der heute in Deutschland unter dem Titel Roman eines Schicksallosen bekannt ist. Es hat lange gedauert, bis der Roman als einer der wichtigsten Texte über den Holocaust und als eine der größten literarischen Leistungen des zwanzigsten Jahrhunderts erkannt wurde. Als Kertész den fertigen Text 1973 zu veröffentlichen suchte, lehnte der Verlag ab. Zum einen schien es den Lektoren, dass der Autor mit seinem Thema „zu spät“ komme, zum anderen zeigten sie sich irritiert von den „merkwürdigen Reaktionen“ und „perversen Bemerkungen“, mit denen Kertész’ Protagonist und Erzähler den Zumutungen seiner Lebensgeschichte begegnet (vgl. Galeerentagebuch 32; Fiasko 71). Es waren wohl dieselben Gründe, aus denen heraus der Roman bei seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1975 totgeschwiegen wurde. Noch im Jahr seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis fühlte sich Kertész in seinem Heimatland unverstanden, und in der Tat waren seine Bücher in Budapester Buchhandlungen kaum zu bekommen (vgl. Holländer). Der Weg zur internationalen Anerkennung Kertész‘ führte nicht zuletzt über Deutschland, wo sein Roman zuerst 1990 unter dem Titel Mensch ohne Schicksal erschien.

Literatur als Verweigerung der Zeitzeugenschaft

Die schwierige Rezeptionsgeschichte des Roman eines Schicksallosen hat viel damit zu tun, dass Kertész die akzeptierte Rolle des „Zeitzeugen“ verweigert. Statt sich seiner bitteren Erfahrungen durch einen autorisierten Bericht zu entäußern, eröffnet er sie nur im Medium einer Literatur, die sich gegen Versuche der Aneignung sperrt, weil sie die verwertende Trennung von Erlebendem und Schreibendem, Faktum und Stil, Person und Kultur, „Einzelschicksal“ und kollektiver Verantwortung nicht zulässt. Die Provokation seiner Texte liegt darin, dass Kertész das Problem des Überlebens, das andere Überlebende der Konzentrationslager in den Selbstmord trieb, gleichsam an Kultur und Gesellschaft zurückgibt: „Heute wissen wir: das Überleben ist nicht nur das persönliche Problem der Überlebenden, der lange, dunkle Schatten des Holocaust legt sich über die gesamte Zivilisation, in der er geschah und die mit der Last und den Folgen des Geschehenen weiterleben muß“ („Der Holocaust als Kultur“, Eine Gedankenlänge Stille 66). Die Welt, so macht Kertész deutlich, ist die Welt der Konzentrationslager. Durch einen unerbittlichen Stil, der das soziokulturelle Bewusstsein des zwanzigsten Jahrhunderts wie ein Brennglas verdichtet, nimmt der Autor alle Prätentionen des Humanismus und sämtliche zivilgesellschaftlichen Fassaden des Totalitären mit auf eine entblößende Reise in das Zentrum dieser Welt. Auf diese Weise macht Kertész den Holocaust zum Stoff einer Literatur der universellen Ent-Täuschung, die er mit eleganter Unerbittlichkeit an seine Leser weitergibt.

Imre Kertész will seinen Text nicht einfach als autobiografischen Roman verstanden wissen: „Das Autobiographischste in meiner Biographie ist, daß es in „Schicksalslosigkeit“ nichts Autobiographisches gibt. Autobiographisch ist, wie ich darin um der großen Wahrhaftigkeit willen alles Autobiographische weggelassen habe“ (Galeerentagebuch 185). Dass heißt aber keinesfalls, dass der Roman eines Schicksallosen eine fiktionalisierte Autobiographie ist: Er ist nicht Fiktionalisierung der Geschichte des Autors, sondern deren Literarisierung im Zeichen größtmöglicher „Wahrhaftigkeit“. Wenn Kertész postuliert, das Konzentrationslager sei „ausschließlich als Literatur vorstellbar“ (Galeerentagebuch 253), heißt das auch, dass sich das Wesentliche über diese Extremerfahrung des Totalitären nur durch überaus bewusste Arbeit am Stil, nur auf der Ebene einer decouvrierenden Ästhetik vermitteln lässt. In diesem Sinne macht Kertész die „totalitäre Struktur“ selbst zur Struktur des Romans. Er strebt an, „daß das Werk, statt „Darstellung“ zu sein, sich das anverwandelt, was es darstellt: die äußere Struktur wird zur ästhetischen Struktur und gesellschaftliche Gesetze [werden] zu Gesetzen der Romantechnik“ (Galeerentagebuch 27).

Die Normalsprache des Holocaust

Der von Kertész so konsequent verfolgten Technik einer motivierten Ästhetik entspricht die verstörende Perspektive des Ich-Erzählers György Köves. Verzweifelt und hilflos ist er auf der Suche nach einer sinnvollen Interaktion mit seiner Umwelt. Der Roman eines Schicksallosen lässt sich wenigstens zum Teil als ein pervertierter Entwicklungsroman beschreiben; er ist, wie Kertész festhält, zunächst die „Geschichte eines Persönlichkeitsverlustes, sich ebenso langsam und unerbittlich entfaltend wie die vom Werden einer Persönlichkeit“ (Galeerentagebuch 24–25). Stilistisch äußert sich dieser Prozess in der Fülle von Formeln, mit denen der Erzähler die Gegebenheiten einer Umwelt ratifiziert, die sich zu seiner Vernichtung verschworen hat. Immer wieder beschließt er sein Referat der Umstände mit Floskeln wie „das sehe ich ein“ oder „das fand ich auch verständlich“. Kernbegriff dieser unheimlichen kindlichen Beflissenheit ist das Wort „natürlich“, das – auf einer stets präsenten zweiten semantischen Ebene – die Unmenschlichkeit der Ereignisse genauso unterstreicht wie ihre grausame Folgerichtigkeit im Rahmen einer auf Auschwitz geeichten soziokulturellen Situation.

In einer solchen Situation können sich die Opfer kaum dagegen wehren, mit ihren fundamentalsten menschlichen Regungen in den Prozess ihrer eigenen Ausgrenzung und Auslöschung eingebunden zu werden. Aus der Perspektive des Erzählers nimmt seine Deportation nach Auschwitz so einen geradezu spielerischen Anfang. Sie wird eingeleitet mit dem Satz: „Am nächsten Tag passierte mir eine kuriose Geschichte“ (Roman eines Schicksallosen 47). Leitmotiv dieser Romansequenz ist das „Lachen“, mit dem sich die jungen Budapester Juden in das Spiel ihrer (scheinbar) widersinnigen Verhaftung fügen. Einen besonders tragischen Zug erhält diese Geschichte, weil der Held eben nicht einfach „naiv“ ist: Immer deutlicher scheint er den unheilvollen Charakter der Vorgänge zu ahnen, ist aber doch unfähig, ihnen einen schlüssigen „Eigensinn“ entgegenzusetzen. Er hat das „Gefühl, plötzlich in irgendein sinnloses Stück hineingeraten zu sein“, in dem er seine „Rolle“ nicht recht kennt (67). So bemüht sich György, selbst den angekündigten „Arbeitsdienst“ in Deutschland als eine Möglichkeit der Rückkehr in die Normalität zu bewerten, als Chance auf eine ihm „passendere Lebensweise“ als im Budapester Durchgangslager (73–74).

Zunächst scheint der Protagonist sogar bereit, sich auf die Logik des Konzentrationslagers einzulassen. Noch bei der Ankunft in Auschwitz identifiziert er sich mit den Autoritäten: Während die jüdischen Häftlinge sein Misstrauen erregen, erscheinen ihm die Posten der SS „schmuck, gepflegt und als einzige in diesem ganzen Durcheinander ruhig und fest“ (91). Die Selektion beim Eintritt in das Lager ist ein erster Höhepunkt der Erniedrigung, der vom „arbeitsfähigen“ György aber als geradezu triumphaler „Erfolg“ erlebt wird. Die Ausgemusterten wiederum – deren Schicksal er noch nicht kennt – misst der Protagonist an den Maßstäben des Systems: „Und so, mit den Augen des Arztes, konnte ich nicht umhin festzustellen, wie viele von ihnen alt oder sonstwie unbrauchbar waren“ (100). Kompromisslos verfolgt Kertész seine Technik einer „Darstellung aus dem Blickwinkel des Totalitären […] ohne den Blickwinkel des Totalitären zum eigenen Blickwinkel zu machen“ (Galeerentagebuch 21). In der Tat ist es gerade die Anverwandlung der Sprache der „Täter“, des Systems und seiner mehr oder weniger eifrigen Helfer, die das Verbrechen deutlich machen. Gleichzeitig verhindert diese Sprache die historisierende Einhegung des Verbrechens, denn sie ist eben auch unser aller Sprache: die Sprache des gesellschaftlich determinierten guten Willens und der unauslöschlichen Sehnsucht nach Normalität.

Das „Glück der Konzentrationslager“

Während der wenigen Tage, die er in Auschwitz zubringen muss, bevor er nach Buchenwald gebracht wird, vollzieht sich aber dennoch ein deutlicher Bruch in der Entwicklung des Helden. Obwohl ihm die Gesellschaft keine Sprache zur Verfügung stellt, in der er sich seiner Situation im eigentlichen Sinn bewusst werden könnte, lässt sich die Prätention der Ordnung im Angesicht der Krematorien nicht mehr aufrechterhalten. Die Unmöglichkeit eines Arrangements mit dem System des Konzentrationslagers wird deutlich. Die fundamentale Ent-Täuschung des Helden kommt plötzlich, ja fast nebensächlich, zum Ausdruck: „Ich kann sagen, daß ich mir, noch bevor der Abend des ersten Tages herabsank, im großen und ganzen schon über alles so ziemlich genau im klaren war […]. Da, gegenüber, verbrannten in diesem Augenblick unsere Reisegefährten aus der Eisenbahn“ (123–124). In Zeitz, einem Außenlager von Buchenwald, wendet sich György dann einer anderen Art von Autorität zu: einem älteren Mithäftling, der ihn in seinem Lebenswillen unterstützt. Gleichzeitig wandelt sich auch der Ton des Romans. Der Protagonist verfügt nun nicht nur als Erzählender, sondern auch als Erlebender über ein kenntliches Bewusstsein: Er besitzt „Eigensinn“ (179). Diese Individuation unter den Bedingungen des Konzentrationslagers ist aber nicht nur schmerzlich, sondern auch prekär. Denn nachdem das Opfer von seinem Bewusstsein Besitz ergriffen hat, verwirklicht sich nun die Macht des Systems über seinen Körper.

Der das Bewusstsein auf einen als paradox empfundenen Lebenswillen reduzierende Kampf mit dem geschundenen Körper bestimmt das letzte Drittel des Romans: „Täglich wurde ich von etwas Neuem überrascht, von einem neuen Makel, einer neuen Scheußlichkeit an diesem immer merkwürdiger, immer fremder werdenden Gegenstand, der einst mein guter Freund: mein Körper gewesen war“ (183). Als György an eitrigen Entzündungen erkrankt, beginnt eine Karriere, die den Helden durch verschiedene Krankenstationen in Gleina, Zeitz und Buchenwald führt. Er lebt nur noch für die Momente der Ruhe, die er auf dem Krankenlager genießt, während sich sein Körper auflöst. Trotz seiner schlimmen Gesundheitsverfassung und der katastrophalen Zustände in den Krankenbaracken erscheinen dem Helden diese Phasen dumpfen Vegetierens als vergleichsweise paradiesisch. Erschütternd ist der Text hier in seiner zunehmenden Konzentration auf die Deplatziertheit der großen menschlichen Gefühle. So wird der schließlich zu einem Leitmotiv entwickelte Gedanke des Glücks durch eine Schilderung der Wunden Györgys eingeführt, in denen sich Läuse angesiedelt haben: „Nach einer Weile habe ich […] dieser Gefräßigkeit nur noch zugesehen, diesem Gewimmel, dieser Gier, diesem Appetit, diesem hemmungslosen Glück“ (202).

Kertész verweigert es, das Konzentrationslager als Gegenbild der menschlichen Gesellschaft oder als glatte Inversion einer anderswo gegebenen Möglichkeit des Mensch-Seins zu beschreiben. Gerade auch gegen Ende des Romans nimmt er weiterhin die ganze Sprach- und Wertewelt gesellschaftlicher Normalität mit hinein in die viel beschworene „Hölle“ der Konzentrationslager. Er zeigt, dass dieser Gipfelpunkt des Totalitären als Möglichkeit mitten in der menschlichen Gesellschaft angesiedelt ist und als historische Wirklichkeit mitten in sie hinreicht. In diesem Sinne ist Kertész‘ Auseinandersetzung mit dem Holocaust fundamentale Kulturkritik. Ihr Ergebnis ist aber nicht eine kulturalistische Relativierung des Holocaust, sondern das gerade Gegenteil: Statt den Holocaust irgendwie mit unserer Kultur zu „erklären“, erschließt Kertész unsere Kultur und die Möglichkeiten der Existenz in ihr über das geschichtliche Faktum des Holocaust, der sich in ihrem Zentrum abgespielt hat und dessen Realität sie nicht mehr entrinnen kann. So bezieht sich auch der dem Erzähler paradox erscheinende Entschluss des Protagonisten zum Weiterleben nicht auf den Horizont eines besseren Lebens jenseits des Konzentrationslagers, sondern bleibt an dessen unverrückbare Wirklichkeit gebunden: „In mir war die verstohlene, sich ihrer Unsinnigkeit gleichermaßen selbst schämende […] Stimme einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören: ein bißchen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager“ (209).

Das zornige Geschenk einer unerbittlichen Mitteilsamkeit

Tatsächlich überlebt György, denn er wird zum Objekt einer ihm unerklärlich und geradezu regelwidrig erscheinenden Fürsorge französischer und polnischer Funktionshäftlinge. Nach der Befreiung Buchenwalds kehrt er nach Budapest zurück und begegnet dort zunächst einem wohlmeinenden Journalisten. In dem ihm aufgezwungenen Gespräch gelingt es dem Protagonisten zum ersten Mal, aus dem Käfig seiner – freilich stets doppelbödigen – sprachlichen Gefügigkeit auszubrechen und seine Persönlichkeit aktiv zur Geltung zu bringen. Mit der ihm eigenen Selbstverständlichkeit formuliert er nämlich ein bisher unausgesprochenes Gefühl: Er empfinde in erster Linie „Hass“, und zwar „auf alle“ (270). Noch entschiedener als die Bitte des Journalisten, als Zeitzeuge zu dienen, lehnt der Held dann die kategorische Empfehlung seiner einstigen Nachbarn ab: dass es notwendig sei zu vergessen, um weiterleben zu können: „Man könne mir, das sollten sie doch versuchen zu verstehen, man könne mir doch nicht alles nehmen; es gehe nicht, daß mir weder vergönnt sein sollte, Sieger, noch Verlierer zu sein, weder Ursache noch Wirkung, weder zu irren noch recht zu behalten. […] ich könne die dumme Bitternis nicht herunterschlucken, einfach nur unschuldig sein zu sollen“ (285).

Dieser Zorn, der aus der Notwendigkeit der Selbst-Affirmation gegen eine aufgezwungene Schicksalslosigkeit entspringt, ist als Triebfeder der schriftstellerischen Tätigkeit Kertész‘ spürbar. Man könnte in ihm vielleicht das Motiv für die Beharrlichkeit sehen, mit der der Autor seine Ent-Täuschungen mitteilt, den Motor der stilistischen Brillanz, mit der er die Destruktion tradierter Sinnangebote vor Augen führt. Tatsächlich lässt der Autor sein Alter Ego in Fiasko vermuten: „Vielleicht habe ich zu schreiben angefangen, um an der Welt Rache zu nehmen. Um Rache zu nehmen und ihr zu entreißen, wovon sie mich ausgeschlossen hat“ (Fiasko 113). Gerade wegen ihres notwendigen Kritizismus, ihres heilsamen Hasses und bitteren Humors dürfen die Texte Kertész‘ aber nicht als destruktiv verstanden werden. Denn in einem prekären Drahtseilakt suchen sie, einen einzig möglichen Weg zu beschreiten, um die Ungeheuerlichkeit des Holocaust menschlich zu erinnern. Tatsächlich schafft der Autor Raum für überraschende (und immer beunruhigend bleibende) Entwicklungen – etwa wenn der Anti-Moralist Kertész in seinem Essay „Der Holocaust als Kultur“ behauptet: „Der Holocaust ist ein Wert, weil er über unermeßliches Leid zu unermeßlichem Wissen geführt hat und damit eine unermeßliche moralische Reserve birgt“ (Eine Gedankenlänge Stille 68).

Der Weg zu diesem Wissen führt freilich über die Anerkenntnis der gründlichen und schuldhaften Zerstörung alles Hergebrachten. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, das Kertész als „ununterbrochen diensttuendes Hinrichtungskommando“ (Galeerentagebuch 241) beschreibt, scheint uns nichts übrig zu bleiben als die paradoxe und vielfach schmerzliche Suche nach Zwischenstufen des Glücks – auf die wir uns nur zusammen mit den Opfern machen können. Dass Kertész diese Möglichkeit aber nicht ausschließt, darin liegt das große Angebot, das er mit seinen schwer verdaulichen Texten macht und das er in Fiasko ironisch beleuchtet: „Was auch immer mein ursprünglicher Beweggrund gewesen ist, ich kann die Art dieses privaten Geschäfts nur rechtfertigen, wenn ich auch anderen etwas biete. In meiner geschundenen, zum Zuschlagen erhobenen Hand fand ich auf einmal einen Roman, den ich mit einer tiefen Verneigung als Festtagsgeschenk unter jedermanns Weihnachtsbaum zu legen trachtete“ (Fiasko 115).

Autor: Dr. Zeno Ackermann

 

Werke

Der Roman eines Schicksalslosen ist Ausgangspunkt und wiederkehrender Bezugspunkt des Werks von Imre Kertész‘. Er bildet zusammen mit dem Roman Fiasko (1988; deutsch: 2000) und mit Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (1990; deutsch 1992) eine Trilogie der erzählerischen Annäherung an den Holocaust, die der Autor durch den 2003 in deutscher Sprache erschienenen Roman Liquidation zur Tetralogie erweitert hat.

Kertész, Imre. Roman eines Schicksallosen. 1975. Übers. von Christina Viragh. Berlin: Rowohlt, 1996. [Deutsche Erstausgabe als Mensch ohne Schicksal bei Rütten & Loenig, Berlin.]

–––. Die englische Flagge. 1977; 1991; 1993. Reinbek: Rowohlt, 1999. [Erzählungen aus verschiedenen Schaffensperioden]

–––. Fiasko. Roman. 1988. Übers. von György Buda und Agnes Relle. 2000. Reinbek: Rowohlt, 2001. [Mit Fiasko hebt Kertész die komplexe Verschränkung von Autobiographie und Verfabelung, die schon den Roman eines Schicksallosen kennzeichnete, auf eine neue Ebene: Ein Mann, der mit der Ablehnung seines Romans über eigene Erlebnisse im Konzentrationslager fertig werden muss, erfindet sich einen Protagonisten, der mit der Ablehnung eines solchen Romans fertig werden muss.]

–––. Galeerentagebuch. 1992. Übers. von Kristin Schwamm. Berlin: Rowohlt, 1993. [Persönliche, poetologische und philosophische Reflexionen aus den Jahren 1961 bis 1991.]

–––. Ich – ein anderer. 1997. Übers. von Ilma Rakusa. Berlin: Rowohlt, 1998. [Es handelt sich In gewisser Hinsicht um eine Fortsetzung der chronologischen Selbstreflexion des Galeerentagebuchs.]

–––. Eine Gedankenlänge Stille während das Erschießungskommando neu lädt: Essays. 1998. Deutsch: Reinbek: Rowohlt, 1999.

–––. Liquidation. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003.

 

Literatur

Reemtsma, Jan Philipp. „Überleben als erzwungenes Einverständnis. Gedanken bei der Lektüre von Imre Kertész‘ Roman eines Schicksallosen.“ Vortrag von 1999. In: Jan Philipp Reemtsma, Warum Hagen Jung-Ortlieb erschlug. Unzeitgemäßes über Krieg und Tod. München: Beck 2003. 220-249.

 

 

Links

„Dünnes Eis, deutsches Wasser“: FAZ-Interview mit Imre Kertész (08.10.2003)
[URL: http://www.faz.net/s/Rub1DA1FB84Scontent.html] (Seite nicht mehr abrufbar / Stand: 16. April 2015)

Nobel e-Museum: The Nobel Prize in Literature 2002: Imre Kertész
[URL: https://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2002/]

haGalil onLine: Dokumentation zur ungarischen Rezeption der Nobelpreisverleihung an Imre Kertész
[URL: http://www.klick-nach-rechts.de/gegen-rechts/2002/12/kertesz.htm]

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