Der Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain ist einer der einflussreichsten Vordenker der Rassenideologie und des Antisemitismus im Kaiserreich und der Weimarer Zeit. Die Weltgeschichte ist für ihn ein Kampf der Rassen um die Vorherrschaft. Die Herrenrasse der Arier werde in ihrem legitimen Anspruch auf Weltherrschaft von der jüdischen Rasse bedroht. In diesem Kampf gehe es um Leben und Tod. Chamberlain fordert die Bekämpfung alles Jüdischen in Gesellschaft, Politik und Kultur und verlangt eine planmäßige Rassezucht. Sein Hauptwerk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ gehörte zu den meistgelesensten Büchern in den völkischen und nationalistischen Kreisen. Im Dritten Reich wird Chamberlain als einer der geistigen Väter und Vorkämpfer der nationalsozialistischen Bewegung geehrt.
Biographisches
Houston Stewart Chamberlain wird 1855 in Portsmouth in England geboren. Seine Familie ist national und militärisch geprägt: Der Vater ist Admiral in der englischen Marine und seine Brüder machen ebenfalls Karriere im Militär.
Der junge Houston Stewart Chamberlain ist aber mehr an Naturwissenschaften, Philosophie und Kunst interessiert. Eine spätere Nervenkrankheit macht eine militärische Laufbahn vollends unmöglich. Nach dem frühen Tod seiner Mutter wächst er zunächst bei seiner Großmutter in Versailles auf, besucht später englische Privatschulen. Unterricht bei einem deutschen Theologen führt ihn in die deutsche Sprache und Kultur ein, für die er sich schon früh begeistert.
1879 nimmt er zunächst ein naturwissenschaftliches Studium in Genf auf und beschäftigt sich vor allem mit Botanik. 1885 geht er für mehrere Jahre nach Dresden, wo er neben botanischen Studien sich vor allem mit deutscher Philosophie und Kunst beschäftigt.
Im Jahre 1889 übersiedelt er dann nach Wien. Fortan betätigt er sich als freier Schriftsteller mit historischen, philosophischen und biographischen Arbeiten. So publiziert er über Kant, Richard Wagner und über Goethe. 1899 erscheint sein Hauptwerk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, mit dem er im deutschsprachigen Raum einem größeren Publikum bekannt wird.
1909 heiratet Chamberlain eine Tochter Richard Wagners und zieht nach Bayreuth. 1916 wird er deutscher Staatsbürger. Im ersten Weltkrieg veröffentlicht er zahlreiche kleinere Schriften mit deutsch-nationalistischem Charakter. Diese Aufsätze sind vor allem gegen England gerichtet, dem er die alleinige Kriegsschuld vorwirft. Den Kampf Englands gegen Deutschland empfindet er als Verrat an der gemeinsamen Rasse.
Am 9. Januar 1927 stirbt Chamberlain nach langer Krankheit in Bayreuth. Den Aufstieg Hitlers und der NSDAP hat er bewusst verfolgt und begrüßt.
Chamberlains Lehre und Werk
Die Schriften Chamberlains umfassen mehr als neun Bände. Sein wichtigstes und zugleich einflussreichstes Werk sind die „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“. Formal ist das zweibändige, rund 1.200 Seiten umfassende Buch eine kultur- und geschichtsphilosophische Abhandlung: Krisen und Probleme seiner Epoche sollen aus dem Verlauf der Weltgeschichte erklärt werden. Wie die klassischen Geschichtsphilosophen sucht Chamberlain nach einem Gesetz, aus dem heraus die gesamte Geschichte erklärt werden kann. Er findet dieses im Kampf der Rassen der Menschheit um Vorherrschaft. Unter der Oberfläche kultureller, politischer und ökonomischer Auseinandersetzungen sieht er immer die Rivalität der Rassen.
„Rasse“ ist für ihn zunächst eine biologische Tatsache, sie begründet sich „im Blut“, modern gesprochen: Sie ist genetisch bedingt. Das eigentliche Wesen jeder Rasse besteht allerdings nicht in körperlichen Merkmalen, sondern in einer bestimmten geistig-seelischen Grundeinstellung, die er auch „Weltanschauung“ nennt. Körperliche Merkmale wie Körperwuchs, Schädelform oder Augenfarbe sind zwar Indizien für die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer bestimmten Rasse, aber nicht mehr.
Unter den Rassen nehmen die „Arier“ eine Sonderstellung ein, sind die die eigentliche Herrenrasse, die berechtigt ist, über die übrigen Menschen zu herrschen. Die Arier sind intellektuell und körperlich unter allen Menschen die Wertvollsten: „Körperlich und seelisch ragen die Arier unter allen Menschen empor, darum sind sie von Rechts wegen die Herren der Welt“ . Chamberlain spricht der arischen Rasse alle nur denkbaren positiven Attribute zu: schöpferisches Genie, Willenskraft, Mut, Ausdauer und Idealismus.
Die arische Rasse konkretisiert sich dabei in der Geschichte immer wieder in bestimmten Nationen, seit dem Untergang des römischen Reiches bis in die Gegenwart sind es die germanischen Völker, die das Erbe der Arier weiterführen: „In einem gewissen Sinne kann man, wie man sieht, die geistige und moralische Geschichte Europas von dem Augenblick des Eintritts der Germanen an bis auf den heutigen Tag als einen Kampf zwischen Germanen und Nicht-Germanen“ sehen. Der Kampf der Rassen ist daher auch ein „Kampf Weltanschauung gegen Weltanschauung“.
Die welthistorischen Gegenspieler der Arier stellen für Chamberlain die Juden dar. Anders als die Arier sind sie keine reine Rasse wie die Arier, sondern „das Produkt einer Mischung“ . Im antiken Orient seien sie aus verschiedenen, vorwiegend asiatischen, und im Vergleich zu den Ariern, minderwertigen Völkern entstanden. Dennoch habe diese neue jüdische Rasse bis in die heutige Zeit einen festen Zusammenhalt entwickelt: vor allem durch die „jüdische Nomokratie“ , das gemeinsame Gesetz, und durch die Hoffnung auf Weltherrschaft.
Nicht an ihren körperlichen Merkmalen sind die Juden als solche zu erkennen, sondern – wie die Germanen – an ihren geistigen und psychischen Eigenschaften. Sie erscheinen wie eine Umkehrung der positiven Eigenschaften der Germanen. Alle Ressentiments und zeitgenössischen Klischees über die Juden werden von Chamberlain zu festen Merkmalen der „jüdischen Rasse“ : Juden seien nicht schöpferisch, Juden seien materialistisch, nur an der Vermehrung des Geldes interessiert und vor allem: Sie streben nach einer Weltherrschaft, die legitimerweise nur den Ariern vorbehalten sei.
Um ihr Ziel zu erreichen, würden die Juden nach und nach die germanischen Völker unterwandern und deren Rasseblut wie eine Krankheit infizieren: „Wie ein Feind stürzte der Jude hinein, stürmte alle Positionen und pflanzte unserer echten Eigenart die Fahne seine uns ewig fremden Wesens auf.“ Am Ende, so warnt Chamberlain, verwandle sich das germanische Volk in „eine Herde pseudohebräischer Mestizen, und zwar ein unzweifelhaft physisch, geistig und moralisch degeneriertes Volk.“
Die unausweichliche Feindschaft zwischen Ariern und Juden prägt auch sein Verständnis vom Christentum. Christus ist für ihn, obwohl jüdisch erzogen, kein Jude. Sein Leben sei im Gegenteil bestimmt gewesen durch die Feindschaft gegen das Jüdische. Aus diesem Grund sei er auch gekreuzigt worden.
Für Chamberlain ergeben sich aus den rassetheoretischen Überlegungen klare Konsequenzen für die Gegenwart. Die Arier bzw. Germanen müssten sich stärker ihrer eigenen Rasse bewusst werden und alles Jüdische aus ihrem Umfeld entfernen. Er entwickelt in Ansätzen Vorschläge zu einer Veredelung der Rasse. Vergleichbar der planmäßigen Tierzucht, sollte auch die Nation dafür sorgen, dass das germanische Blut rein bleibe.
Chamberlains Wirkung und der Nationalsozialismus
Chamberlain hat niemals ein politisches Amt übernommen und sich nur selten zu tagesaktuellen Ereignissen öffentlich geäußert. Dennoch ist sein Einfluss auf die nationalkonservativen und völkischen Ideologen der Kaiserzeit und der Weimarer Republik beträchtlich gewesen.
Zunächst publizistisch: Seine „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ wurde bis zum Jahr 1941 allein in Deutschland 27 Mal neu aufgelegt. Eine preiswerte „Volksausgabe“ im Jahr 1906 war innerhalb weniger Tage komplett ausverkauft. Noch vor dem ersten Weltkrieg gab es Übersetzungen ins Englische, Französische und Tschechische. Vor allem die bürgerlichen Schichten wurden von Chamberlains Rassismus angesprochen: Im Gewand bildungsbürgerlichen Gelehrtentums wurden antisemitische Ressentiments ebenso legitimiert wie der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Nation, von dem in der Kaiserzeit viele überzeugt waren.
Zum anderen stand Chamberlain in regem persönlichen Austausch mit vielen wichtigen Persönlichkeiten des Kaiserreiches. Am bekanntesten ist der ausführliche Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm II., der sich enthusiastisch über Chamberlains Werk äußerte. Dabei ist im Einzelfall schwer zu entscheiden, wie weit Chamberlain das Denken der Menschen beeinflusste oder – was häufiger der Fall gewesen sein dürfte – nur formulierte, was viele bürgerlich-konservative empfanden.
Der Nationalsozialismus hat Chamberlain als Vordenker und Wegbereiter gewürdigt. Hitler, Himmler, Goebbels, Rosenberg und alle wichtigen NS-Führer haben sein Werk gekannt. Hitler und der spätere Propagandaminister Goebbels haben Chamberlain in Bayreuth besucht. Hitlers „Mein Kampf“ erscheint in seinem rassentheoretischen Teil über große Strecken wie eine Wiedergabe der Gedanken Chamberlains. Dasselbe lässt sich über Alfred Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ sagen. Goebbels, der den todkranken Chamberlain 1926 in Bayreuth besucht, notiert darüber in sein Tagebuch: „Vater unseres Geistes, sei gegrüßt. Bahnbrecher. Wegbereiter.“
Autor: Dr. Bernd Kleinhans
Literatur und Quellen
Exemplarische Schriften von Chamberlain:
– Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 2 Bände, München 1899
– Arische Weltanschauung, Berlin 1905
– Kriegsaufsätze, München 1914
– Neue Kriegsaufsätze, München 1915
– Politische Ideale, München 1915
– Lebenswege meines Denkens, München 1919
– Rasse und Persönlichkeit, München 1925
– Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm II, München 1928
Literatur über Chamberlain
Becker, P.E.: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke (Wege ins Dritte Reich II), Stuttgart und New York 1990
Field, G.G.: Evangelist of race. The Germanic Vision of Houston Stewart Chamberlain, New York 1981
Mendlewitsch, D.: Volk und Heil. Vordenker des Nationalsozialismus im 19. Jahrhundert, Rheda-Wiedenbrück 1988
Mosse, G.L.: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus, Königstein 1979