Bittere Ironie und der Zynismus der Wirklichkeit sind Bestandteile von Boris Luries Kunst. Seine 2019 publizierten Erinnerungen an Riga, die bislang nur in Englisch vorliegen, ist ein wegweisendes Zitat vorangestellt: „Ich danke dir, Adolf Hitler, mich zu dem gemacht zu haben, der ich bin und für all die fruchtbaren Stunden, die ich in deiner Gewalt verbrachte, für alle kostbaren Lektionen, die ich aufgrund deiner Weisheit erhielt, für alle tragischen Momente, schwebend zwischen Leben und Tod.“
Lurie, der 1924 in Leningrad geboren wurde, wuchs in Riga auf, da der Vater, Ilja Lurie, ein erfolgreicher Kaufmann, unter sowjetischen Verhältnissen seinen Geschäften nicht mehr nachgehen konnte. Von Riga aus versorgte er die Rote Armee u.a. mit Leder. Boris und seine Schwestern Asya und Jeanna erlebten eine Kindheit in bürgerlich-behüteten Verhältnissen. Boris engagierte sich in einer linkszionistischen Jugendorganisation und entwickelte grafische Entwürfe für linke Verlage. Das Leben der Familie erfuhr eine tiefgreifende Zäsur, als die Deutsche Wehrmacht im Sommer 1941 Riga besetzte. Von da an bis zum April 1945, also knapp vier Jahre, verbrachten Boris und sein Vater im Arbeitsghetto und mehreren Konzentrationslagern bis zu ihrer Befreiung aus einem Außenlager des KZ Buchenwald in den Polte Werken in Magdeburg. Zu den traumatischen Erfahrungen, die ständige Angst vernichtet zu werden, kommen die großen Verluste von Mutter Shaina, der Großmutter, seiner Schwester Jeanna sowie Boris’ ersten großen Liebe Ljuba Treskunova. Alle vier Frauen befanden sich im Ghetto für Kinder, Frauen und Alte und waren unter den ca. 26.000 jüdischen Menschen, die bei der letzten von zwei „Großen Aktionen“, am 8. Dezember 1941, in Rumbula, ca. sechs Kilometer südlich von Riga, erschossen und in Massengräbern verscharrt wurden.
Später, ab 1946 in New York, begann Lurie diese Ereignisse anfangs in klassischer Malerei zu verarbeiten, machte sich aber allmählich von der direkten Übertragung erlebter Szenen frei und ging zu einer offeneren Kunstform über, die Malerei, Assemblage, Collage, Skulptur und typografische Elemente umfasste.
Außerdem begann er seine Ansichten zu Politik, Kunst und Museen niederzuschreiben, die bislang nur in kleinen Auszügen veröffentlicht sind. Auch ein Roman über einen Ghettopolizisten namens Wand blieb bislang unveröffentlicht.
Für das Verständnis der Lektüre von „Haus von Anita“ sind Kenntnisse von Boris Luries Trauma unabdingbar. Der Roman umfasst 68 Kapitel und beschreibt das von Anita geleitete „moderne kulturerzieherische Sklaveninstitut der Avantgarde“, untergebracht in einem großen Apartment am Central Park West, Ecke 65. Straße. Lurie ließ sich hier von der herrschaftlichen Wohnung seiner Freundin Gertrude Steins inspirieren, die der „Boris Lurie Art Foundation“ vorsteht und im „Prasada“ an jener Straßenecke residiert. Lurie sprach immer süffisant vom „italian Palazzo“ während er als Multimillionär eine enge und überfüllte Parterrewohnung bewohnte.
Neben Anita sind Tana Louise, Beth Simpson, Judy Stone, die als vier Herrinnen oder Dominas ihre Wünsche an den männlichen Sklaven ausleben.
Die versklavten Männer sind der jüdische Bobby, aus dessen Perspektive Lurie erzählt, die zwei Deutschen Fritz und Hans sowie der italienische Kapo Aldo, der als Kalfaktor anfangs Privilegien genießt. Die ersten Seiten sind dem Interieur des Instituts gewidmet, das im „Zen-Stil der Leere“ eingerichtet ist. Bereits bei der Unterbringung, der Dienstkleidung der Sklaven in „blaugestreiften Uniformpyjamas“ und deren geschorenen Köpfe klingen deutlich Motive aus Konzentrationslager an. Die Sklaven sind in Kojen untergebracht, die durch gläserne Wände Tag und Nacht einsehbar und von Lampen beleuchtet sind und mit „Marschliedern der radikalen amerikanischen Gewerkschaftsbewegung oder des Spanischen Bürgerkriegs“ beschallt werden. Ständige Verfügbarkeit stößt auf willfährige Unterwürfigkeit, so dass auch Lust bei den Sklaven aufkommt. Die alltägliche Praxis besteht aus Melken des Ejakulats unter gleichzeitiger Gewaltanwendung, so dass sich Samen und Blut der Sklaven mischen und genüsslich gekostet werden. In rollenden Sarkophagen mit zwei Öffnungen für Mund und Penis stecken die Männer unbeweglich fest und werden malträtiert. In manchen dieser S/M-Szenen kommt es auch zur Entleerung von Kot und Urin und Lurie lässt die Leser mit olfaktorischer Deutlichkeit teilhaben. Die Lektüre dieser „Anti-Pornographie“ (Stefan Ripplinger) bereitet keinen Genuss und ist zum Teil so quälend, wie die Bilder von Lurie schwer genießbar sind. Die Leser können sich nicht in die absurde, surreale und grotesk-tragische Geschichte fallen lassen. Der Roman verweigert sich jeder Identifikationsmöglichkeit, bietet keinen konzisen Handlungsablauf und ist eher eine Addition von Szenen in und um dieses Institut. Methodisch erinnert das Buch an die Collage-Technik von Lurie in seinen Bildern, in denen er Disparates ohne auch nur den Hauch von Harmonisierung der Brüche auf die Leinwand packte, um die Widersprüche und die verstörende Gleichzeitigkeit im Weltgeschehen von Vernichtung und Sexualität, von Terror und Vergnügen zu zeigen.
In der Lyrik brachte er einen zentralen Widerspruch seines Lebens zwischen kapitalistischer Praxis und politischer Haltung auf den Punkt. Der erfolgreiche Börsenspekulant, der seine Kunst nicht verkaufte, sympathisierte mit Sozialismus und Revolutionen und formulierte: „Meine Sympathie ist mit der Maus, doch ich füttere die Katze.“
Als Gast taucht im Haus von Anita die Kunsthändlerin Hannah Polanitzer auf, der Anita ihre kostbaren Kunstschätze zeigt: „ein Knäuel Auschwitzhaar in der Originalschachtel“ sowie zermahlene Knochen, „aus den Leichengruben“ der Konzentrationslager. Unschwer kommt hier Luries Argwohn gegenüber dem Zynismus des Kunstmarktes in zugespitzter Form zum Ausdruck, der in seiner Vermarktungswut vor nichts halt macht.
Höchst berührend sind die Passagen, in denen Lurie seine Erlebnisse in Riga aufruft. In Kapitel 50 und 52 erscheinen Wiedergänger der in Rumbula Ermordeten, die Bobby in einem Haufen zusammengekauerter Gestalten im Vestibül des Instituts erkennt. Alle sind durch blutige Schusswunden in den Schädeln gezeichnet und verströmen einen „Ostfrontgestank“. Besonders das 16 Jahre junge Mädchen (die Verkörperung von Ljuba Treskunova) hält Gericht über Bobby, „Bobenka“: „ER ist es, der mich vernichtet hat!“
Dass ausgerechnet die Opfer Schuld und Scham empfinden, überlebt zu haben, während die Täter ihre Schuld leugnen, ist auch von Primo Levi bekannt. Der Psychoanalytiker William G. Niederland prägte dafür in den 1960er Jahren den Terminus des Überlebensschuld-Syndroms.
Lurie musste an der Bewältigung seiner empfundenen Scham scheitern, denn seine Erinnerung macht die Auflösung der empfundenen „Schuld“ zur Aporie. Er träumte jede Nacht von seinen Erlebnissen in den KZ während des Holocaust, wie sich Beatrice Lecornu-Hamilton, die in Paris lebende frühere Ehefrau, im Dokumentarfilm über Lurie „Shoah und Pin Ups“ (2007) erinnerte.
In „Haus von Anita“ gibt Lurie in der Personifizierung von Bobby viel von sich preis. Er erklärt seine Verehrung von Stalin als Bezwinger des Faschismus. Im Roman lässt er ihn mit Rotarmisten und Panzern durch Manhattan paradieren und in den Twin Towers residieren. Ganz am Ende finden Bobby wie auch die von ihm aus den Fängen Anitas befreite Jüdin Judy Stone, die als Herrin degradiert und zum Spielobjekt und Kunstwerk wurde, ihren Weg nach dem verheißenen Land Israel via Flug mit El Al-Maschine und Bootsfahrt, wo ihr Leben endet. Im letzten Kapitel schreibt die Kunsthändlerin Hannah Polanitzer in einem Brief an Judy Stone vom Ende Anitas und ihrer Übernahme der Räume als neue Besitzerin. Manhattan liegt wie Sodom und Gomorrha in Trümmern, einem rätselhaften Brand zum Opfer gefallen. Doch das Kunstgeschäft blüht: „Mit ein paar Kartoffeln kaufe ich einen klassischen Picasso. Ein Stapel Pop Art ist für zehn Zigaretten zu haben!“
So schwierig die Lektüre ist, der tragisch-groteske Roman enthält viele Spuren Luries, die sich in seinem Bilder ebenfalls wiederfinden und bei der Analyse seines Werks hilfreich sind.
Autor: Matthias Reichelt
Boris Lurie: Haus von Anita
Roman übersetzt aus dem Englischen von Joachim Kalka
Wallstein Verlag 2021, 24 €