Michael Fahlbusch/ Ingo Haar/ Alexander Pinwinkler (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme, Band 1: Biographien / Band 2: Forschungskonzepte – Institutionen – Organisationen – Zeitschriften, Berlin (2. Aufl.) 2017.
In der öffentlichen Wahrnehmung steht das Dritte Reich zu Recht für staatsterroristische Gewaltherrschaft und Genozid. Wenn es Leistungen in Wissenschaft und Kultur vollbrachte, dann allenfalls trotz und nicht wegen der weltanschaulichen Durchdringung dieser Felder. Und auch die dem Nationalsozialismus vorausgehende völkische Bewegung ist nicht gerade für ihre Beiträge zu Kultur und Wissenschaft in Erinnerung geblieben. Dass die ideengeschichtliche Erforschung des Nationalsozialismus und der völkischen Bewegung dennoch lohnt, beweist nach dem „Handbuch der völkischen Bewegung“ (1996), dem „Handbuch des Antisemitismus“ (2008-15) und „Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften“ (2014) jetzt ein viertes historisch-sozialwissenschaftliches Großprojekt. Das von Michael Fahlbusch, Ingo Haar und Alexander Pinwinkler herausgegebene „Handbuch der völkischen Wissenschaften“ löst die in der Fachwelt als lückenhaft kritisierte erste Auflage von 2008 ab. In der Tat konnten viele Forschungslücken geschlossen werden, und der Umfang des Handbuchs ist auf zwei Bände mit insgesamt über 2.000 Seiten beträchtlich angewachsen. Der Leser findet mehrere Hundert Lemmata zu Biografien (Bd.1), Forschungskonzepten, Institutionen, Organisationen und Zeitschriften (Bd.2). Im Unterschied zur ersten Auflage werden auch die Vorläufer völkischen Denkens aus Frühnationalismus und Romantik, wie Arndt, Fichte und Jahn, berücksichtigt. Ebenso findet das Fortwirken völkischer Wissenschaftler in der frühen Bundesrepublik mehr Beachtung, wobei kritisch anzumerken ist, dass die durchaus vorhandenen organisatorischen Auffangbecken kaum einbezogen wurden. Exemplarisch werden vereinzelt Gegner völkischer Wissenschaftskonzepte, wie Saul Ascher, Max Weber und Hildegard Schaeder, behandelt. Schwerpunkt bleibt aber weiterhin die klassische Epoche völkischer Wissenschaften von den 1890er Jahren bis 1945, wobei das Kaiserreich und die Weimarer Republik vor allem im zweiten Band merklich schwächer berücksichtigt werden als das Dritte Reich.
„Völkische Wissenschaften“ – das ist auf den ersten Blick ein Widerspruch in sich. Verabschiedeten sich die Völkischen mit ihren nationalistisch-rassistischen Weltanschauungen nicht absichtsvoll vom modernen Rationalismus der Aufklärung und somit von jeglicher Wissenschaftlichkeit? Uwe Puschner zeigt in seinem einleitenden Beitrag (S. 9-18), dass sich diese Frage nicht eindeutig beantworten lässt. Einige völkische Weltanschauungsproduzenten stellten sich selbst ganz bewusst als „Dilettanten“ dar und übten scharfe Wissenschaftskritik, insbesondere gegen die als materialistisch verfemten Naturwissenschaften. Andere Weltanschauungsproduzenten reklamierten hingegen Wissenschaftlichkeit für ihre Anschauungen und versuchten, mit Publikationen, Forschungsprojekten, Fachzeitschrifts- und Institutsgründungen zunächst von außen auf den Wissenschaftsbetrieb einzuwirken. Charakteristisch ist ihr Bemühen, das Sinnstiftungspotenzial der Geisteswissenschaften mit dem Objektivitätsversprechen der Naturwissenschaften zu ganzzeitlichen Weltanschauungsentwürfen zu verbinden. Die in Anlehnung an Thomas Mann häufig zu vernehmende These, völkische Wissenschaftler hätten mit der humanistisch-idealistischen Bildungskultur Deutschlands zugunsten eines ethikentleerten Biologismus gebrochen, ist daher zu verwerfen. Mit der republikfeindlichen Berufungspraxis gelang es völkischen „Forschern“, sich noch vor der nationalsozialistischen Machtergreifung zunehmend auch im universitären Wissenschaftsbetrieb zu etablieren. Erstaunlicherweise werden ausgerechnet die Wissenschaftskritiker Julius Langbehn und Houston Stewart Chamberlain im Handbuch mit Beiträgen bedacht, während namhafte völkische Professoren wie Max Wundt, Bruno Bauch und Adalbert Wahl fehlen. Man vermisst wichtige völkische Systembauer wie Theodor Fritsch, Adolf Bartels und Ludwig Schemann[1], denen selbst noch die wissenschaftliche Anerkennung versagt blieb, deren Gedankengut aber erheblichen Einfluss auf völkische Wissenschaftler und nationalsozialistische Politiker ausübte. Das gilt in besonderem Maße für die religionswissenschaftliche Judenforschung[2], deren wichtigste Vertreter Gerhard Kittel und Walter Grundmann ebenfalls nicht mit einem Beitrag bedacht wurden. Dagegen findet der Leser Artikel über Johann Gottfried Herder, Jacob Friedrich Fries und Heinrich Ritter von Srbik, die eher am Rande für völkisches Gedankengut relevant wurden. Arthur Moeller van den Bruck und Hans Grimm werden gewöhnlich der „Konservativen Revolution“ zugerechnet und nicht den Völkischen. Nur für das Dritte Reich lässt sich eine gewisse Systematik bei der Auswahl der Biografien erkennen, die zahlreiche Disziplinen wie Geschichte (Brunner, Conze, Schieder), Soziologie (Aubin, Nadler), Geografie (Haushofer, Boeckh), Rassenforschung (Günther), Judenforschung (Grau) mit den wichtigsten Köpfen abdeckt.
In der schmalen Zeitschriftensektion findet man einige – aber nicht die bedeutendsten – nationalsozialistischen Gründungen, jedoch kein einziges völkisches Periodikum der Vorkriegszeit. Nicht einmal gut erforschte und sich offensiv wissenschaftlich gebende Publikationen wie die „Politisch-anthropologische Revue“ und das „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“ sowie die Lexikonprojekte „Semi Kürschner“ und „Semi Gotha“[3] sind mit Beiträgen vertreten. „Deutschlands Erneuerung“, das Leitmedium der Völkischen in der Weimarer Republik, förderte einen regen Austausch zwischen Weltanschauungsproduzenten und Wissenschaftlern. Auch diese Zeitschrift sucht man vergebens. Die enge Beschränkung auf Fachzeitschriften der NS-Zeit verpasst die Chance, die frühen Versuche der Völkischen nachzuvollziehen, ihre Weltanschauung in (Pseudo)wissenschaft zu übersetzen. Auch bei den Institutionen und Organisationen liegt der Schwerpunkt klar auf dem Dritten Reich, dessen verwirrendes Netzwerk aus Forschungsstellen, Instituten und Ämtern von Staat, Partei und SS unter die Lupe genommen wird. Nur bei den Biografien und Forschungskonzepten ist der erweiterte Zeitrahmen des Handbuchs tatsächlich umgesetzt worden. Weitgehend übergangen wird leider die zentrale Rolle populärer Kultur- und Wissenschaftsverlage (Eugen Diederichs, Hugo Bruckmann, Julius Friedrich Lehmann) bei der Verbreitung völkischer (Pseudo)wissenschaft. Inhaltlich konzentrieren sich die Beiträge auf die Kultur-, Religions-, Sozial- und Humanwissenschaften. Im Bereich der Naturwissenschaften werden allein biologische und medizinische Forschungskonzepte gut abgedeckt, während wenig beachtet wird, dass auch andere Naturwissenschaften im Dritten Reich eine völkische Durchdringung erfuhren.[4]
Damit ist ein offenkundiger Schwachpunkt des Handbuchs benannt: die mangelnde Anbindung an die Wissenschaftsgeschichte. Das führt schon im Vorwort zu Irritationen, wenn die Herausgeber im Werk berücksichtigte „Forschungskonzepte“ aufzählen: „Archäologie, Burgenforschung, Pädagogik, Rassenbiologie, Antisemitismus, Tsiganologie (Zigeunerkunde), Volkskunde, Sportwissenschaften und auch Pseudowissenschaften“. (S. XIII) Waren Rassenbiologie, Antisemitismus und Tsiganologie jemals etwas anderes als Pseudowissenschaften? Als wissenschaftlich hinzunehmen, was Zeitgenossen aus weltanschaulicher Verblendung oder karriereförderndem Opportunismus für wissenschaftlich hielten, kann nicht der Anspruch einer „traditionskritisch orientierten Wissenschaftsgeschichte“ (S. XIII) sein. Auf die pauschale Wissenschaftsschelte wegen unaufgearbeiteter völkischer und nationalsozialistischer Prägungen von Forschern und wissenschaftlichen Disziplinen folgt keine stichhaltige Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Diese wäre aber zwingend erforderlich, um Grenzüberschreitungen überhaupt feststellen zu können. Hier schimmert die kulturpessimistische Foucault-Schule durch, die annimmt, dass totalitäre Welt- und Menschenbilder nicht von außen in die Wissenschaften gelangten, sondern von einem „expansiven Szientismus“ selbst entwickelt worden seien.[5] Die meisten Beiträge argumentieren hier erfreulicherweise differenzierter als die Einleitung und erheben keineswegs den Anspruch, die Herausbildung völkischer Hegemonien allein wissenschaftsimmanent erklären zu wollen. Überhaupt sind die Artikel durchweg gut recherchiert und bewegen sich auf dem aktuellen Forschungsstand. Da sie mit Zitaten und Fußnoten arbeiten, haben sie weniger den Charakter von Lexikoneinträgen als kleinen wissenschaftlichen Abhandlungen mit engem Quellenbezug. Problematisch ist allerdings die teleologische Fixierung auf das Dritte Reich. Sie macht völkische „Wissenschaftler“ des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zu Vordenkern der „kämpfenden Wissenschaften“ und reduziert die Beiträge zur Nachkriegszeit auf die Karrierefortsetzung von Altnazis. Hier werden die Erkenntnisse der neueren Forschung ignoriert, die das eigenständige ideengeschichtliche Profil der Völkischen vor 1933 und nach 1945 betonen und sie eben nicht mehr auf Vordenker und Altlasten des Nationalsozialismus reduzieren. Daher hat die Gegenwart der Völkischen, beispielsweise in Form des Revivals der Soziobiologie durch Thilo Sarrazin und die AfD, erneut nicht den Weg in ein wissenschaftliches Standardwerk finden können.
Man merkt dem Handbuchprojekt an, dass es seinen Ursprung in der Debatte über die NS-Vergangenheit prominenter Wissenschaftler in den späten 1990er Jahren hat.[6] Diese Debatte hat mittlerweile erheblich an geschichtspolitischer Relevanz und Brisanz verloren. Die nicht mehr zu leugnende geistesgeschichtliche und politische Renaissance des Völkischen innerhalb des Rechtsextremismus und Rechtspopulismus stellt Historiker, Politologen und Sozialwissenschaftler vor ganz neue Aufgaben, die im „Handbuch der völkischen Wissenschaften“ leider nicht in Angriff genommen worden sind. Dies lässt sich glücklicherweise nachholen, da das Handbuch um einen Supplementband und eine jederzeit aktualisierbare Online-Version ergänzt werden soll. Auf diese Weise werden sich auch die oben genannten Lücken und Einseitigkeiten ausbessern lassen, so dass am Ende doch noch ein Gesamtwerk entstehen kann, das nicht nur die NS-Forschung befriedigt.
Autor: Thomas Gräfe
Michael Fahlbusch/ Ingo Haar/ Alexander Pinwinkler (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme, Band 1: Biographien / Band 2: Forschungskonzepte – Institutionen – Organisationen – Zeitschriften, Berlin (2. Aufl.) 2017.
Anmerkungen
[1] Andreas Herzog, Theodor Fritschs Zeitschrift „Hammer“ und der Aufbau des Reichshammerbundes als Instrumente der völkischen antisemitischen Reformbewegung (1902-1914), in: Ders./ Mark Lehmstedt (Hg.), Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900, Wiesbaden 1999, S. 153-182; Gregor Hufenreuter, „Denn alles, was er der Welt gab, predigt das Evangelium der Rasse“. Adolf Bartels und die völkische Bewegung vor 1933, in: Julius H. Schoeps/ Werner Treß (Hg.), Verfemt und verboten. Vorgeschichte und Folgen der Bücherverbrennungen 1933, Hildesheim 2010, S. 47-64; Julian Köck, Ludwig Schemann und die Gobineau-Vereinigung, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 723-740.
[2] Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der „Judenfrage“ im Nationalsozialismus, Darmstadt 2011.
[3] Gregor Hufenreuter, „… ein großes Verzeichnis mit eingestreuten Verbrechern.“ Zur Entstehung und Geschichte der antisemitischen Lexika Semi-Kürschner (1913) und Sigilla Veri (1929-1931), in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 15 (2006), S. 43-63; Ders., Wege aus den „inneren Krisen“ der modernen Kultur durch „folgerichtige Anwendung der natürlichen Entwicklungslehre“. Die Politisch- Anthropologische Revue (1902-1914), in: Michel Grundewald/ Uwe Puschner (Hg.), Krisenwahrnehmung in Deutschland um 1900. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich, Bern 2010, S. 281-293.
[4] Wilhelm Füßl/ Johannes-Geert Hagmann (Hg.), Konstruierte Wirklichkeit: Philipp Lenard 1862-1947. Biografie, Physik, Ideologie, München 2012; Helmut Maier, Chemiker im Dritten Reich. Die Deutsche Chemische Gesellschaft und der Verein Deutscher Chemiker im NS-Herrschaftsapparat, Weinheim 2015.
[5] Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. (5.Aufl.) 1985. Diesem Paradigma ist die Rassismusforschung ziemlich unkritisch gefolgt und hat es zudem einseitig auf die Natur- und Humanwissenschaften angewandt. Vgl. Heidrun Kaupen-Haas (Hg.), Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, Frankfurt a.M. 1999; Martin Stingelin, Rassismus und Biopolitik, Frankfurt a.M. 2003.
[6] Ausgelöst durch Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993.