Golda Maria ist der Film eines Gesprächs. Aber es ist nicht irgendeine Unterhaltung, sondern die Geschichte einer 84-jährigen KZ-Überlebenden, die sie ihrem Sohn erzählt. Drei Tage lang filmte der französische Filmproduzent im Jahre 1994 seine Großmutter, wie sie ihm von ihrem Martyrium erzählt.
Aufgewachsen ist Golda Maria Tondovska in Berlin als Tochter einer polnisch-jüdischen Familie. 1933 floh sie nach Paris. Dort lernte sie ihren Ehemann kennen und brachte noch vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs zwei Kinder zur Welt. Dann erzählt sie eine Geschichte, die uns bekannt ist, die wir aber niemals vollends nachvollziehen und nachempfinden können. Es ist die Geschichte eines Martyriums, wie es viele Menschen erleben mussten. Golda Maria erzählt von ihren ersten Kindheitstagen. Sie berichtet von der Einwanderung ihrer Familie von Danzig nach Berlin. Und sie erinnert sich an Hitlers unaufhaltsamen Aufstieg zur Macht.
Sie erzählt von ihrer Flucht nach Frankreich, wo sie ihren Ehemann kennenlernt, von der großen Freude über die Geburt ihrer Tochter Simone und ihres Sohns Robert. Dann beginnen auch in Frankreich die Verfolgungen. Nazis besetzen das Land und die Judenverfolgung wird immer bedrohlicher. Ihre Tochter vertraut sie 1942 ihrem Mann an, damit er in die Schweiz flüchten kann. Sie selbst versucht auch die Flucht. Sie berichtet von Marseille, La Bourboule, Clermont-Ferrand, von Verfolgung, Gefangennahme und Deportation.
Als sie völlig desorientiert und erschöpft in Birkenau abgeladen wird, gibt sie ihren Sohn an ihre Schwiegermutter weiter, die ebenfalls verhaftet wurde. Golda Maria versucht uns zu erklären, wie eine Mutter sich dabei fühlt. Doch für Menschen, die so etwas nie erlebt haben, kann es nur bei einem Versuch bleiben. Wie lebt eine Mutter danach weiter? Diese Frage wird uns bis zum Ende des Films begleiten. Während ihres ganzen Lebens, noch lange nach Konzentrationslager und Naziterror trug sie das Bild ihres Sohnes in sich, ohne es jemals zu vergessen. In jedem Kind, das ihr begegnete, sah sie ihren Sohn Robert und empfand eine große Zärtlichkeit, erzählt sie uns. Und das ist es, was sie trotzdem glücklich machte in ihrem Leben.
Szenen der Mimik
In dem Film sitzt sie ganz ruhig auf ihrem Sofa und blickt in die Kamera ihres Enkels Patrick Sobelman. Keine Filmschnitte und keine Lichteffekte stören diese Stimmung. Alles ist in dezenten blauen Farbtönen gehalten. Ihr Sofa ebenso wie ihre Kleidung. Ihre blauen Augen ebenso wie der leichte blaue Schimmer in ihren Haaren. Die dezente Klezmer-Musik stört niemals, sondern wirkt selbstverständlich. Kaum etwas soll von ihren Worten ablenken. Und auch nicht von ihrer Mimik. Zum Beispiel dann, wenn sie darüber nachdenkt, warum sie nicht früher geflohen ist. Als Zuschauerin und Zuschauer kann man in ihrer Mimik die Überraschung sehen, wenn sie erkennt, dass es doch die Liebe zu ihrer selbst gewählten Heimat Frankreich war, die sie von einer früheren Flucht abhielt.
Das Erbe retten
Nach ihrem Tod im Jahre 2010 wurde Patrick Sobelman bewusst, was er für ein Zeitdokument in der Hand hielt. Ursprünglich wollte er im Jahr 1994, als diese Aufnahmen entstanden, nur seiner Familie das Vermächtnis seiner Großmutter hinterlassen. Doch dann erkannte er, dass es sich um ein universelles Zeugnis handelte. Ein Zeugnis der Verrohung einer ganzen Gesellschaft, eine Darstellung absolut tödlicher Strukturen und Verhaltensweisen. Aber der Film zeigt auch etwas anderes. Er macht deutlich, dass die Liebe zum Leben überwiegen kann. Sehr oft hört man von Zeugen und Opfern dieser Zeit, dass sie Auschwitz oder Birkenau nie wirklich überlebt haben, dass immer wieder diese Zeit sie übermannt und sich Todesängste in ihren Träumen und Panikattacken sie plötzlich regelrecht niederwerfen. Die Erzählungen von Golda Maria enden aber mit Erzählungen von Urlauben mit ihren Kindern am Strand. Noch immer ist alles überwiegend blau. Doch dieses Blau weitet sich jetzt in einem Himmel, der am Horizont auf ein blaues Meer trifft.
Die Menschlichkeit siegt
So ruhig der Film ist mit seinem unveränderten Blick auf das Gesicht von Golda Maria Tondovska, so erschütternd und tiefgründig ist er auch. Es ist kein leichter, kein unterhaltsamer Film. Doch hat man sich erst einmal auf die Worte der 84-jährigen Frau eingelassen, was sehr schnell geht, so schnell vergeht dann auch die Zeit. Eine Zeit, die Spuren hinterlässt.
Nur selten werden Fotos der Familie von Golda Maria oder Archivbilder eingeblendet. Nichts stört uns in das Eintauchen in ihre Geschichte. Dies ist nicht zuletzt der Nähe von Patrick Sobelman zu seiner Großmutter zu verdanken. Man spürt die innige Beziehung dieser beiden Menschen.
Und es ist auch seinem Sohn Hugo Sobelman zu verdanken. Der Dokumentarfilmer schnitt gemeinsam mit seinem Vater aus dem über achtstündigen Filmmaterial diese nahegehende 155-minütige Dokumentation zusammen. Es ist ein Film, der einen nicht wie viele andere zu diesem Thema verzweifelt zurücklässt. Die Essenz dieser Dokumentation ist die Erkenntnis, dass die Menschlichkeit siegt.
Golda Maria
Frankreich 2020, 115 Min.
Regie: Patrick Sobelman und Hugo Sobelman
Berlinale 2020 – Sektion: Berlinale Special