Geschichtsstudenten der Humboldt-Universität befragen Besucher in zeithistorischen Berliner Gedenkstätten
Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer von Nationalsozialismus oder Stalinismus gelten weithin als Orte historisch-politischer Bildung. Große Teile der Öffentlichkeit glauben beispielsweise, dass Gedenkstättenbesuche Jugendliche gegen extremistische Einstellungen immunisieren oder gar bereits „infizierte“ davon heilen können. Die einfache und konkrete Frage, was die Besucher in diesen „Lernorten“ lernen, bleibt vielfach aber unbeantwortet. Im verordneten Antifaschismus der DDR wären diese Fragen pure Ketzerei gewesen. Besucherforschung und Evaluationsmethoden wirken aber auch heute noch in diesem Zusammenhang etwas pietätlos, immerhin handelt es sich um ehemalige Konzentrationslager u. ä. und nicht etwa um einsparbare Universitätsinstitute. Manch ein Gedenkstättenpädagoge mag es für unmoralisch halten, wenn er nach der Effektivität seiner Arbeit gefragt wird, manch einer möchte nicht am Ast sägen, auf dem er sitzt. Trotzdem gab es seit den 1980er Jahren eine Reihe von Studien zur Besucherforschung, die eine vorläufige Bilanz der Lernerfolge von Gedenkstättenarbeit möglich machen. Demnach ist Gedenkstättenlernen ein Lernprozess, der sich an der konkreten historischen Topographie festmacht. Wichtig ist dabei der Erlebnischarakter des Besuchs, der sich von anderen Lernsituationen in Schule, Universität und Museum abhebt. Entscheidend ist aber das Vorwissen der Besucher, das den Erfolg des Anschlusslernens erst möglich macht: Neues wird in bekanntes Wissen integriert, neue Details oder Bilder veranschaulichen oder bekräftigen bereits erworbenes Wissen. Der Erlebnischarakter des Besuchs formt ein Lernen, das von nicht-kognitiven Erfahrungen ausgeht: Man nimmt einen historischen Ort in Augenschein, erwandert seine Topographie, sensibilisiert sein Raumgefühl und lernt durch Einfühlung und Imagination, etwa beim Betreten feuchtkalter Gefängniszellen.
Umfragen und Interviews, die Geschichtsstudenten der Humboldt-Universität 2008 in zeithistorischen Berliner Gedenkstätten durchgeführt haben, zeigen, wie überaus wichtig der konkrete historische Ort für die Besucher ist, wie stark das Erleben durch die Erwartung und Empfindung von Authentizität bestimmt wird.
Der historische Konferenzsaal, in dem der Holocaust bürokratisch koordiniert und systematisiert wurde, bildet den Kern der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz. Sowohl erwachsene als auch jugendliche Besucher empfinden hier eine starke Wirkung, die gerade aus dem Gegensatz von edlem Erscheinungsbild und historischer Bedeutung entsteht. Der Speiseraum der Villa mit seinen zahlreichen Fenstern und Perspektiven ins Grüne wird von Schülern einerseits als „hell“ andererseits „als düster und bedrückend“ empfunden. Durch Führungen und Dokumente wird die Bedeutung des an sich wenig aussagenden Raumes erklärt. Bei einigen Besuchern ist die Erwartungshaltung anzutreffen, hier das „zentrale“ Holocaustmahnmal anzutreffen, das historische Zentrum des Bösen“, entsprechend emotional reagieren sie auf den Konferenzraum. (14 Interviews von Nese Bingöl)
Besucher des Deutsch-Russischen Museums Karlshorst zeigten sich besonders von den originalen Waffen und Räumlichkeiten des düster-prächtigen „Kapitulationssaales“ beeindruckt. Russische Besucher, die das Museum in jedem russischen Berlin-Reiseführer ausführlich behandelt vorfinden, waren von der tatsächlichen Randlage des Hauses in der Berliner Kulturlandschaft enttäuscht. Sie hoben die Medienabteilung des Hauses hervor, wo sie in historischen Reden und Liedern den damaligen Zeitgeist erspüren konnten. (10 Interviews von Anna Teplyakova)
Im Falle des stark frequentierten Denkmals für die ermordeten Juden Europas wird von vielen Besuchern der Mangel an Authentizität hervorgehoben. Junge englischsprachige Touristen zeigten großen Respekt vor der Entscheidung der Deutschen, dieses Denkmal in der Mitte ihrer Hauptstadt zu errichten, dieses Verhalten gilt nicht wenigen als Vorbildhaft. Doch mit der künstlerischen Form des Mahnmals haben viele Besucher Probleme, auch werden die Namen der Opfer vermisst. „I don’t think this memorial can make you really know what it was like, when I went to Auschwitz I got a better understanding as I got to see the clothes the Jews had been wearing when they arrived…“ kommentierte eine junge Besucherin. (5 Interviews von Chelsea Mannix)
Eine schriftliche Befragung von Besuchern Gedenkstätte Berliner Mauer ergab einen starken Gegensatz zwischen jugendlichen Gruppenbesuchern und älteren Einzelbesuchern. Bei den Schülern fand das Gedenkstättengelände mit seinen vielfältigem Medieneinsatz (Mahnmal, Kapelle, Dokumentationszentrum, Infostelen) großen Anklang, während sich ältere Besucher über Orientierungsschwierigkeiten beklagten und anmerkten, die Ausstellung habe eine verharmlosende Wirkung, die die Grausamkeit der Teilung nicht angemessen widerspiegelt. Diese Kritik formulierten SED-Opfer auch seinerzeit bei der Einweihung des Mahnmals an der Bernauer Straße. (120 ausgewertete Fragebögen von Elisabeth Bänsch und Jula Danylow)
Wie das Deutsch-Russische Museum befindet sich auch die Gedenkstätte Hohenschönhausen am äußersten Rand der Museumslandschaft. Trotzdem besuchen jährlich mehr als 150.000 das einstige Untersuchungsgefängnis des MfS. In zwei schriftlichen Befragungen wurde vor allem der Wirkung der Zeitzeugenführungen nachgespürt. Diese Führungen gelten als umstritten, setzt die Gedenkstätte doch damit auf eine Strategie der Emotionalisierung und Überwältigung der Besucher. Trotzdem kommen die Führungen gerade bei Schülern gut an, die in ihrer großen Mehrheit noch nie mit „Zeitzeugen“ Bekanntschaft gemacht hatten. Zwei Drittel sagte die Emotionalität der Führung zu, knapp die Hälfte empfand sie als „spannend“, während sie nur wenige als „zu persönlich“ und „ohne Distanz zum historischen Geschehen“ bezeichneten. (138 ausgewertete Fragebögen von Nicolas Kwasniewski, Rosalie Schaefer, Melanie Keck)
Ein differenzierteres Bild ergab hier eine weitere Befragung in Hohenschönhausen, bei der sich ältere Besucher weit stärker von den Zeitzeugenführungen berührt sahen als Schüler, die in gewisserweise Weise permanent an Gewaltdarstellungen in Film, Computerspiel und Internet gewohnt sind. Auch hier wurde das Konzept der Zeitzeugenführung fast einhellig als positiv gewertet, nur wenige sahen hier die Gefahr einer Verfälschung. Neben der Führung beeindruckten die Foltermethoden und plastisch geschilderten Haftbedingungen am stärksten, vor allem die Wasserfolter aus der frühen stalinistischen Phase des Gefängnisses. Die Anschaulichkeit der betretbaren Sammel- und Stehzellen trug zu diesem Bild bei, so dass sich hier ein Effekt einstellte wie in manchen Mittelaltermuseen, wo Morgenstern und Eiserne Jungfrau beim Besucher für nachdrückliche Wirkung sorgen. Die Gefahr eines „Gruseltourismus“ ist hier nicht von der Hand zu weisen. (186 ausgewertete Fragebögen von Matthias Schöbe, Naomi Lehner, Sophie von Puttkamer, Victoria Wolff. 55 Besucher nahmen einige Woche später an einer Wiederbefragung teil)
Welchen Effekt haben diese Lernerfahrungen auf die politische Einstellung des Einzelnen? Folgen die Besucher dem moralischen Impetus der antifaschistischen oder antistalinistischen Lernziele á la „Nie wieder!“ oder „Wehret den Anfängen“? Auch hier liegt ein eklatanter Mangel an empirischen Studien vor, so daß man nur thesenartige Antworten artikulieren kann. Bisherige Untersuchungen zeigten, dass die Folgen eines Gedenkstättenbesuchs so individuell sind wie das Vorwissen, die Einstellungen und die Erwartungen des Einzelnen. Bei einer interessierten Minderheit führte der Gedenkstättenbesuch dazu, sich näher mit dem Thema zu beschäftigen. Nach der Besichtigung in Hohenschönhausen berichteten knapp 30 % Freunden von diesem Erlebnis, 20 % gaben an, „noch manchmal darüber nachgedacht zu haben“ und knapp 10 % informierten sich auf eigene Initiative weiter über das Thema, wobei Internet und Gespräche im Vordergrund standen, während Bücher nur selten gekauft wurden. Die Schülerbefragung in der Gedenkstätte Hohenschönhausen ergab, dass über 80 % den Besuch als wichtig erachteten und einen „Wissenszuwachs“ damit verbanden. Tatsächlich findet bei vielen Besuchern eine Verknüpfung von Vergangenheitsdeutung und Gegenwartswahrnehmung statt, aber nicht immer im Sinne der Gedenkstättenpädagogen, wenn etwa jugendliche Besucher Holocaust und Karikaturenstreit kurzschließen: „Gestern die Juden, heute die Muslime!“. Der Anspruch der dekonstruktivistischen Geschichtspädagogik, jede Art von Geschichtsdeutung in Frage zu stellen, beim Besucher eine Sensibilität für die immerwährende Konstruktion und Manipulation von Geschichte zu entwickeln, bleibt meistens Theorie. Im Gegenteil – wegen der Historizität und Authentizität des Ortes gelten die Gedenkstätten vielen Besuchern als Garanten der Wahrheit, die man nicht hinterfragt. Und schon gar nicht wagt man ehemaligen Häftlingen zu widersprechen, die mit großer moralischer Autorität daherkommen. So kommt eine offene Diskussion häufig nicht zustande. Wenn schon keine kritische Sicht auf die Geschichtsschreibung erzeugt werden kann, wie steht es mit dem Wunsch, die Kenntnis der inhumanen totalitären Vergangenheit könnte Demokratiebewusstsein und Toleranz stärken? Engagierte Demokraten oder die autonome Antifa können den Gedenkstättenbesuch sicherlich als motivierend empfinden. Leider verlassen nicht wenige Besucher die Gedenkstätten irritiert und deprimiert. Ein negatives, pessimistisches Menschenbild kann auf diese Weise geprägt oder verstärkt werden: „Der Mensch ist von Natur aus böse!“ oder ähnliches steht dann im Besucherbuch.
Fazit: Die Besucher deuten die Informationen in zeithistorischen Gedenkstätten häufig nach dem Muster mitgebrachter Interpretationen und ideologischer Prägungen. Der Effekt des Besuchs auf diese politischen Einstellungen ist gering. Der Holocaust-Revisionist wird auch in Auschwitz an seiner Wahnvorstellung festhalten, dies alles sei nachträglich gebaut worden. Der frühere MfS-Offizier wird auch beim Gang durch das ehemalige Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen davon überzeugt sein, dass die DDR ein Rechtsstaat war.
Es zeigt sich, dass man Gedenkstätten nicht mit programmatischen politischen oder moralischen Ansprüchen überfrachten darf. Gleichwohl sind sie wertvolle Kristallisationspunkte für den gesellschaftlichen Diskurs um Geschichte. In Zukunft werden sie sich stärker als bisher auf die Vielfalt der Besucherinteressen und –voreinstellungen ausrichten müssen. Statt herkömmlicher Wissensvermittlung wird die Anregung zur Auseinandersetzung Hauptziel der pädagogischen Arbeit werden. Dabei geht es um die behutsame Erzeugung von Dissonanzen zwischen Voreinstellungen und Vorort-Erlebnissen der Besucher. Widersprüche können produktiv sein.
Studien zur Besucherforschung im Haus der Wannseekonferenz, in der Gedenkstätte Berliner Mauer, im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst, am Denkmal für die ermordeten Juden Europas und in der Gedenkstätte Hohenschönhausen im Rahmen der Lehrveranstaltung „Die Präsentation des Zeitalters der Extreme in Berlin: Authentische Orte, Museen und Gedenkstätten“ am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität (Frühjahr 2008).
Autor: Christian Saehrendt
Bert Pampel: „Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist“: Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher, Frankfurt 2007.