Von Beginn an wird klar, das Wort – ohne – geschrieben oder ungeschrieben, wird in diesem Büchlein, das Professor Michel Krätke im Engels Jahr 2020 vorlegte, zu einem Hauptwort. Denn ohne Engels hätte es Marx so nicht gegeben. Was der Leser mit Krätkes Arbeit in der Hand hält ist eine gut lesbare Lebens – und Werksbeschreibung des „Cotton – Lord“. Aber erst 1864 war es ihm (Engels) gelungen, vollwertiger Teilhaber der Firma Ermen & Engels zu werden wovon Jenny Marx 1850 geträumt hatte: Engels ein „Cotton – Lord“ 1869, als er seine Firmenanteile verkaufte schien für ihn glücklicher Tag zu sein. Es wurde getafelt und Champagner getrunken. Überhaupt war Engels ein untypischer Kapitalist, denn anders als seine Klassengenossen, war er bei jeder Wirtschaftskrise in blendender Laune. Als wohltuend kann man empfinden, dass Krätke sich in seinem „schwungvollen Essay“ (siehe Tom Strohschneider, oxiblog, 14.03.2020), Engels nicht nur aus dem Schatten von Marx holt, indem er seine Gedankenwelt beleuchtet, sondern auch den Privatmann und Menschen ans Licht holt und erlebbar macht.
Dabei wird deutlich, beide Herren waren ganz unterschiedliche Charaktere, aber das hinderte sie nicht über Jahrzehnte bis Marx´ Tod sie schied, freundschaftlich und produktiv als die „linken Edelfedern“ (Krätke) und Kopfarbeiter zusammenzuarbeiten. Dabei sah es anfänglich gar nicht danach aus, denn ihre erste Begegnung in Köln (1842) verlief recht kühl und reserviert. Zwei Jahre später sollten zehn Tage in Paris das ändern. Bei viel Wein wurde diskutiert, interpretiert und es wurden Pläne gemacht. Nun – auch das erfährt man: Karl Marx war eher ein Mann der Schreibstube und Theorie während seine „zweite Violine“ (Engels) einen anderen Lebenstakt pflegte; stets gut gekleidet, liebte er die Frauen und das Leben. Bei all seinem Vermögen zeichnete ihn eine geradezu unheimliche Bescheidenheit aus. Zu Anfang 1851, da war Marx noch kaum imstande Englisch zu schreiben, da schrieb dann Engels für ihn die ersten Artikel, und das ging zwölf Jahre so weiter. Erschienen waren sie jedoch unter Marx´s Namen, sodass er auch das Honorar bekam. Betont wird in dieser Publikation des – autorisierten – Politikwissenschaftlers und profilierten Engels Kenners, dass der Spross einer Fabrikantenfamilie zu Unrecht unterschätzt wurde und ihm in unfairer Weise weniger Beachtung zuteil wurde als dem „Übervater“ Marx. Besonders hervorhebenswert am „Erfinder des Marxismus“ ist, er hat zeitlebens keine akademische Ausbildung erfahren – wie manche plagiierenden Möchtegern – Doktoren, die 200 Jahre später mit künstlicher Intelligenz zu glänzen versuchen. Stattdessen hat ihn sein Vater in die Mühle des kaufmännischen, wie es Engels ausdrückte: „hündischen Commerz“ gesteckt. Will sagen, das große Wissen auf zahlreichen Gebieten und seine enormen Sprachkenntnisse hat er sich autodidaktisch beigebracht. Am Ende galt er vielen als Universallexikon. Oftmals gab er Denkanstöße, stand Marx als Berater zur Verfügung oder ging ihm voran. Hier nennt Krätke beispielhaft Engels´ Aufsatz „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“. Ebenso beschreibt der Buchautor ihn mit Blick auf Marx als Vordenker auf dem Gebiet der Sozialforschung. Dazu zitiert der Professor die Studie (1845) über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“. Sie sei ein Klassiker in der Stadtsoziologie, so Krätke. Selbst im – grünen Bereich – war der berühmte Sohn von Barmen unterwegs, siehe dazu seine „Dialektik der Natur“. Nicht uninteressant, in heutiger Zeit; da wird er in Zeitungen gewürdigt, die es zuvor mit der Kritik an den Naturverhältnissen und der Klimakrise nicht so ernst nahmen. Engels wirkt? Die Beschäftigung mit der Militärfrage überließ Mohr (Marx) gleich ganz seinem General (Engels).
Ein großes Verdienst erwarb sich der Marx Freund bei der Herausgabe des KAPITAL. Man muss wissen, ohne sein hartnäckiges Drängen wäre nicht einmal der erste Band erschienen. Nun hat Engels es geschafft nach Marx´ Tod noch 2 weitere Bände auf den Buchmarkt zu bringen. Nur er konnte die marxsche Handschrift entziffern, sich in seinem hinterlassenen Chaos zurechtfinden und letztlich ordnen. Über diese Herausgeberschaft entbrannte auch ein zum Teil bis heute andauernder Streit, der in dem Buch nachgezeichnet wird.
Klar wird mit dieser Schrift: Engels ist eine facettenreiche Person gewesen, die wesentlich mehr Aufmerksamkeit verdient hätte als es ihm parteioffiziell oft nur zugestanden wurde. Das wiedergutzumachen, dazu lädt auch der zweite Teil des Krätke Buchs mit Texten von und über Engels (Briefe, Interviews, Werkauszüge) ein.
Auch für die früheren „Kanoniere“ des statischen Marxismus – Leninismus dürfte diese Lektüre einigen Sprengstoff enthalten. Für Dogmatiker ist Engels nie was gewesen, er war sich nämlich darüber im Klaren, dass die wissenschaftlichen Zeitdiagnosen nur von begrenzter Haltbarkeit sein werden und Marx und er oft geirrt hätten. Bis zuletzt sah der „Grandseigneur des Sozialismus ohne großbürgerliche Allüren“ (Rudolf Walther, oxiblog, 7.05.2017) die Theorie als ein Work in Progress (in Arbeit) und nicht als ein geschlossenes System. Nochmal Krätke über Engels: „Engels erfand den Marxismus und war doch kein richtiger Marxist. Er war ebenso gut ein Revisionist und damit in guter Gesellschaft“.
Hmm, der Blick durch meine Lesebrille sagt mir: Krätke ist es gelungen, ein differenziertes Bild von Friedrich Engels als eine der vielseitigsten Figuren der modernen Arbeiterbewegung zu zeichnen.
Autor: René Lindenau
Krätke, Michael (Hrsg.): Friedrich Engels oder: Wie ein Cotton-Lord den Marxismus erfand. Dietz Verlag 2020, 200 Seiten, Broschur, ISBN 978-3-320-02368-3, 12 Euro