Überläufer sind Filme, die vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges gedreht, aber erst nach 1945 im Kino gezeigt werden. Auch der Märchenfilm „Frau Holle“ von 1944 gehört dazu. Seine Mischung aus Gegenwartsbezug, NS-Märchenkino und der Suche nach neuen filmischen Wegen ist dabei ebenso ein Bild seiner Entstehungszeit.
„Große Freiheit Nr. 7“ (D 1944/45), „Unter den Brücken“ (D 1945/50) oder „Das kleine Hofkonzert“ (D 1945/49): Nur drei von fast 50 deutschen Spielfilmen, die vor Kriegsende begonnen, fertiggestellt oder zensiert, aber erst nach 1945 im Kino gezeigt werden. Als so genannte Überläuferfilme haben sie Filmgeschichte geschrieben. Der Grund: An ihnen werden Parallelen und Brüche, Anpassung und Verweigerung – die das NS-Kino von Beginn an prägen – noch einmal besonders deutlich.
Dass sich unter den Überläufern auch ein Märchenfilm befindet, ist heute fast vergessen. Dabei ist „Frau Holle“ der erste Nachkriegs-Märchenfilm, den die alliierte Militärzensur im Oktober 1948 zulässt und der schon einen Monat später in den Kinos anläuft. Mit der Verfilmung des Grimmschen Märchens über eine Witwe mit einer fleißigen und einer faulen Tochter, die bei Frau Holle die Betten schütteln und dafür mit Gold oder Pech belohnt werden, wird bereits im Juni 1944 in Bayern begonnen.
Film als Überlebens-Strategie für Schauspieler
Der Drehbeginn lässt sich aus Schauspieler-Anstellungsverträgen datieren, die damals bei der Reichsfilmkammer einzureichen sind. Produziert wird der Märchenfilm von Naturfilm Hubert Schonger, die seit 1938 bereits zwölf Märchen mit Schauspielern verfilmt hat und nun „Frau Holle“ fürs Kino adaptieren will. Dennoch ist bei Filmproduktionsdokumenten, wie jene Anstellungsverträge für Schauspieler, immer auch Vorsicht geboten. Denn das „Dritte Reich“ steht zu dieser Zeit kurz vor seinem Zusammenbruch.
Wie der Filmhistoriker Thomas Brandlmeier in seinem Aufsatz zu Überläufern schreibt, werden „Filme (auch zum Schein, d. A.) gedreht, notfalls ohne Rohfilm, ohne Strom, ohne Benzin. Die uk-Stellung ist wichtig, die meisten Filmleute waren bereits an der Front“. Damit werden Filmproduktionsvorhaben 1944/45 Teil von Überlebens-Strategien, die den Filmstab vor dem Fronteinsatz retten. Ob das für „Frau Holle“ auch zutrifft, bleibt offen, denn die Filmstabsliste liest sich wie das Who-is-Who der deutschen NS-Filmbranche.
Große Namen, große Vorbehalte
Hans Grimm, Ex-Chef-Tonmeister des Filmkonzerns Tobis, führt Regie. Bernhard Eichhorn, bis 1944 Musikdirektor der Städtischen Bühnen in Dresden, schreibt die Filmmusik. Und Heinrich „Heinz“ Schnackertz, Chef-Kameramann der Bavaria, steht hinter der Kamera. Als der Märchenfilm 1948 in Berlin uraufgeführt wird, erfährt aber niemand etwas von ihnen. Weder im Vor- noch im Nachspann erscheinen ihre Namen. Kein Wunder, denn einige Filme, an denen sie vor 1945 beteiligt sind, werden nach 1945 verboten.
Dabei weht „Frau Holle“ vor der Premiere noch ein ganz anderer Wind entgegen. Es gibt damals große Vorbehalte gegenüber Märchen: „Insbesondere die (…) der Brüder Grimm wurden zur Zielscheibe der Verdächtigungen“ (Wardetzky). Vor allem wegen darin vorkommender Grausamkeiten, die als literarische Wurzel der Nazi-Verbrechen gelten. Was heute obskur klingt, prägt 1946/47 die öffentliche Meinung der westlichen Alliierten. In diesem Anti-Märchen-Klima wirkt der Kinostart von „Frau Holle“ fast wie ein Neustart. Und doch ist es keiner. Vielleicht ein erzählerischer.
Märchenfilm spielt auch in der Gegenwart
Denn der Märchenfilm spielt mit einer Rahmenhandlung Mitte der 1940er Jahre auch in der Gegenwart. Hier erzählt ein Großvater (Carl Wery) seinen Enkeln Bärbel und Michel das Märchen von der „Frau Holle“. Die Rahmenhandlung betont da ganz nebenbei und doch bestimmt, dass das eigentliche Märchen nicht die Wirklichkeit ist, sondern eine Fantasiewelt im Nirgendwo. Gut möglich, dass diese Szenen erst nach 1945 hinzugefügt werden, um Vorbehalte der alliierten Militärzensur zu zerstreuen und eine Zulassung zu erhalten.
Der Märchenfilm bietet damit zugleich ein ungeschöntes Abbild der Realität, sprich: eine „vaterlose“ Familie. Denn nur ein Großvater und die Mutter der Kinder – aber nicht deren Vater – sind in der Bauernhütte einer verschneiten Bergwelt zu sehen. Dort klappt der bärtige Alte ein großes Bilderbuch auf, dessen Illustrationen in das Märchen überblenden. Die Geschichte von der fleißigen Blondmarie und der faulen Schwarzmarie erzählt er aus dem Off – und hält sich dabei nicht ganz an die Fassung der Brüder Grimm.
Kontinuität und Brüche in „Frau Holle“
Was anfangs auffällt, sind die Figuren, die sich – anders als die moderne Rahmenhandlung vermuten lässt – noch dem NS-Märchenfilmkino verpflichtet sehen. Das richtet sich damals an Kinder zwischen vier und acht Jahren. Entsprechend kindertümlich ist die Inszenierung. Doch es gibt nicht nur Kontinuität zum bisherigen Kino des „Dritten Reichs“, sondern auch Brüche, die – so scheint es wenigstens – für Veränderung in den Köpfen der Macher sprechen, zum Beispiel der beiden Drehbuchschreiber Felix Emmel und Peter Hamel.
Eine Einstellung in „Frau Holle“ fällt hier besonders auf: Als die fleißige Blondmarie aus Versehen eine Spindel in den Brunnen fallen lässt, befiehlt die Stiefmutter heftig und unbarmherzig: „Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.“ Doch das Drehbuch lässt sie in ihrer Todesangst nicht in den Brunnen springen – wie noch bei den Grimms. Durchaus ein Bruch mit dem NS-Verständnis, wie Märchen zu verfilmen sind. Denn bisher gilt, sich „streng an das Vorbild im Märchenbuch“ (Weinheber) zu halten.
Grausamer Befehl, aber kein wahnwitziger Gehorsam
Nein, Blondmarie (Elfie Beyer) wünscht sich einfach zu Frau Holle (Hertha von Hagen). Und in der nächsten Szene schwebt sie mittels Trick auf einer Wolke ins Land der guten Alten. Was auf den ersten Blick wie eine harmlose Veränderung der Originalfassung wirkt, ist weitaus mehr: Für die Filmemacher passen grausame Befehle und deren unterwürfiges Ausführen offenbar nicht mehr in diese kaputte Zeit – und vor allem nicht in einen Märchenfilm für Kinder. Erziehung zum wahnwitzigen Gehorsam scheint passé.
Eher zum Nazikino passen Bilderwelten, die sich zum Ende der Verfilmung in die Handlung mischen, nachdem Blondmarie und Schwarzmarie in Frau Holles Dienst getreten sind – und die eine mit Gold, die andere mit Pech belohnt wird. Das Drehbuch erweitert das Märchen bereits am Anfang um eine Liebesgeschichte. Der junge Schafhirte Kasper Franz (Hans Seitz) möchte Blondmarie heiraten. Und sie ihn auch. Doch der Bursche ist plötzlich traurig, als sie im Goldkleid vor ihm steht. Er will eine einfache Bäuerin, keine Prinzessin.
Konforme NS-Bilderwelten, giftige Astrologie
Und so wünscht sich das Mädel, dass nicht es selbst, sondern das Korn auf dem Feld golden glänzen soll. Jux wird aus Goldmarie wieder die einfache Blondmarie. Ende gut, alles gut? Nicht ganz: Auch wenn es der Hahn auf dem Brunnen nicht kräht. Effektvolle Bilder in der Schlusssequenz, wie ein wolkenloser Himmel, sonnenbeschienene Getreidefelder, ordentlich aufgestellte Garben und ein glückliches Bauernpaar, erinnern an vergangene und doch „bekannte Ikonografien von Landschaft, Natur und Heimat“ (Hake).
Ganz anders das Himmelsreich von Frau Holle – das im Filmatelier entsteht – und so gar nicht ins „Dritte Reich“ von 1944 passen will. So zieren astrologische Symbole, teils von Tierkreiszeichen, teils von Planeten, das Haus der Alten. Dabei wird Astrologie im NS-Regime – offiziell – als orientalischer Mummenschanz abgetan, der die Volksseele vergiftet. Gewiss, das sind Kleinigkeiten, die hier auffallen. Und doch stehen alle für ein Krisenkino, in dem bereits offenkundig „die mühsam aufrechterhaltene Kongruenz von Propaganda-Intention und Kunstmitteln“ (Witte) zerbricht.
Autor: Ron Schlesinger (ron.schlesinger(ät)gmx.net)
Film: Frau Holle (1944/48, Regie: Hans Grimm, D). Der Film kann zu Forschungszwecken im Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin gesichtet werden.
Literatur:
- Brandlmeier, Thomas: Kampf ums Nachkriegsprogramm. Überläufer, alte deutsche Tonfilme und alliierte Filme im deutschen Kino nach 1945, in: Bock, Hans-Michael/Jan Distelmeyer/Jörg Schöning (Hrsg.): Träume in Trümmern. Film-Produktion und Propaganda in Europa 1940-1950. Berlin, 2009, S. 156-172
- Hake, Sabine: Film im Dritten Reich. 1933-1945, in: Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895. Reinbek b. Hamburg, 2004, S. 109-155
- Schlesinger, Ron: Rotkäppchen im Dritten Reich. Die deutsche Märchenfilmproduktion zwischen 1933 und 1945. Ein Überblick. Berlin, 2010
- Wardetzky, Kristin: Märchen in Erziehung und Unterricht, in: Märchenspiegel. Zeitschrift für internationale Märchenforschung und Märchenpflege, Heft 1/2014, S. 3-14
- Weinheber, Max: Nur Familienväter sollten Märchenfilme drehen. Disneys „Schneewittchen“ ist ein Erwachsenen-Erfolg. Wir brauchen Märchenfilme für Kinder, in: Film-Kurier, 7.12.1938, S. 1f.
- Witte, Karsten: Lachende Erben, toller Tag. Filmkomödie im Dritten Reich. Berlin, 1995, S. 247f.