Christoph J. Eppler: Erziehung im Nationalsozialismus. Bündnische Jugend − Hitlerjugend − Reformpädagogik. Beltheim-Schnellbach 2012.
Mit kaum einer anderen Epoche hat sich die Pädagogik so intensiv befasst wie mit der des Nationalsozialismus. Gilt die Zeit von 1933 bis 1945 auch in der Erziehungswissenschaft oft als ein erklärungsbedürftiger Zivilisationsbruch. Es ging der Pädagogik seit ihrer Blütezeit im 18. und 19. Jahrhundert – repräsentiert durch Philosophen wie Rousseau, Kant und Humboldt – immer darum, die Menschen zu mündigen und gesellschaftlichen verantwortlichen Individuen zu bilden. Die Pädagogik im Dritten Reich zielte dagegen auf Gleichschaltung. Die Kinder und Jugendlichen sollten auf eine einheitliche nationalsozialistische Weltanschauung hin gedrillt werden, jederzeit bereit für ihren Führer im Krieg zu sterben. Hitler hatte bereits in seiner programmatischen Schrift Mein Kampf lange vor der Machtergreifung dieses pädagogische Programm formuliert. Auf Basis seiner Rassenlehre sollte aus der Jugend eine neue Generation von Herrenmenschen herangezüchtet werden.
Diesem Ziel hatten sich alle pädagogischen Bereiche unterzuordnen: die Erziehung in der Familie und in der Schule, aber auch in den Formationen wie der Hitlerjugend, der SA oder dem Reichsarbeitsdienst, die nach der Vorstellung der NS-Ideologen ebenfalls pädagogische Funktionen übernehmen sollten. Auch die wissenschaftliche Pädagogik an den Universitäten – vertreten unter anderem durch Ernst Krieck und Alfred Baeumler – unterstützte die Erziehung zur Ideologie der Volksgemeinschaft.
Wie aber war ein solcher Bruch zu den Traditionen der Pädagogik möglich? Oder gab es vielleicht gar keinen solchen radikalen Bruch? Wie weit schufen bereits vor 1933 pädagogische Auffassungen und Praxen Voraussetzungen für die NS-Ideologie? Die vielfältigen Forschungen von Historikern, Pädagogen und Sozialwissenschaftlern haben auf diese Fragen bisher noch keine eindeutige Antwort geben können.
Ohnehin ist die Forschung zur NS-Pädagogik inzwischen in eine Vielfalt von Ansätzen und Themen aufgefächert, sodass es für Nichtwissenschaftler kaum noch möglich ist, sich einen qualifizierten Überblick zu verschaffen.
Genau dieses versucht Christoph J. Eppler mit dem mehr als 700 Seiten starken Band Erziehung im Nationalsozialismus. „Absicht dieser Studie ist es“, heißt es gleich im Vorwort, „eine Erziehungsgeschichte der deutschen Jugend über die Zeit etwa von 1890 bis 1945 vorzulegen“. Schon mit der Wahl dieses Zeitrahmens wird postuliert, dass die NS-Pädagogik an praktische und theoretische Konzepte aus der Kaiserzeit und der Weimarer Republik anknüpfen konnte. Eppler stellt hier besonders die in sich disparaten Jugendbewegungen – wie den Wandervogel – vor und nach dem Ersten Weltkrieg heraus, die in Absetzung gegen eine erstarrte konservative Gesellschaft ein neues naturnahes und gemeinschaftlich verbundenes Leben forderten. Volksgemeinschaft war bereits bei diesen Jugendgruppen ein Kampfwort. Viele Angehörige der Jugendbewegung waren dabei antidemokratisch, manche auch antisemitisch und völkisch eingestellt. In der Pädagogik spiegelte sich diese Jugendbewegung in einer Bewegung der Reformpädagogik wider, die von Pädagogen wie Gustav Wyneken, Peter Petersen oder Hermann Lietz vertreten wurde. Ungeachtet aller Differenzen einte diese Reformpädagogen die Ablehnung der „Buchschule“ der Kaiserzeit, die lebensfremdes Wissen den Schülern durch bloßen Drill vermittelte. Die Reformpädagogen wollten eine Gemeinschaft der Jugendlichen, die sich selbst unter der Anleitung eines kameradschaftlich agierenden Lehrers weiterentwickelten.
Obwohl nur wenige Reformpädagogen sich nach 1933 offen zum Hitlerstaat bekannten, konnte die NS-Pädagogik an viele ihrer Ideen anknüpfen und diese entsprechend dem Nationalsozialismus umformen. Auch in der wissenschaftlichen Pädagogik sieht Eppler Tendenzen, die für den Nationalsozialismus Anknüpfungspunkte boten. Auch hier spielte, etwa beim Pädagogen Ernst Krieck, schon lange vor 1933 der Gedanke einer Erziehung zur Volksgemeinschaft – wenn auch ohne rassistische Färbung – eine Rolle.
Eppler schließt sich in seiner Beschreibung der Kontinuitäten dabei an die Arbeiten des 1932 geborenen und 1997 emeritierten Pädagogen Hermann Giesecke an. Epplers Arbeit – die zurückgeht auf seine 2007 in Augsburg vorgelegte Dissertation, nimmt Gieseckes Werk als Grundlage seiner Argumentation. Giesecke hatte sich bereits seit den 80er-Jahren mit der NS-Pädagogik befasst, unter anderem in seinen Büchern Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend. Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik aus dem Jahr 1981 sowie Hitlers Pädagogen. Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung aus dem Jahr 1993. Eine der Kernthesen Gieseckes war es, dass in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg von vielen Jugendlichen, aber auch von praktizierenden Pädagogen und pädagogischen Theoretikern, die neue Demokratie als ein Verlust von Gemeinschaft empfunden wurde. Die Pluralität der Lebensauffassungen und politischen Meinungen wurde hier weniger als ein Gewinn an individueller Freiheit als ein Verlust an kollektiven Werten empfunden. Die Reaktion darauf war die Propagierung einer antimodernen Ideologie einer alle Klassen und Schichten versöhnenden Volksgemeinschaft. Viele konservative Pädagogen sahen ihre Aufgabe darin, den Kindern und Jugendlichen solche Ideale zu vermitteln.
Entlang dieser Thesen arbeitet auch Eppler die Geschichte der NS-Pädagogik auf. Gieseckes Werke dienen dabei selbst immer wieder als Beleg für die These. Im Literaturverzeichnis werden mehr als 200 Publikationen von Giesecke aufgeführt.
Ein solcher Ansatz hat Vorteile, bringt aber auch Probleme mit sich: Einerseits wird dadurch Gieseckes noch immer interessante, aber eher skizzenhafte Geschichte der NS-Pädagogik genauer expliziert und durch zusätzliche Belege gestützt, andererseits wird dadurch der Zugang zu neueren Forschungsansätzen blockiert. So werden von Eppler eine Reihe neuerer Arbeiten zur NS-Pädagogik nicht berücksichtigt, und andere in der Forschung diskutierte Fragen kaum angesprochen, etwa die Frage nach Modernisierungstendenzen in der NS-Schulpolitik, die Frage nach dem NS-System als Erziehungsstaat und der Vergleich der Pädagogiken in anderen totalitären Staaten etwa der DDR oder des faschistischen Italiens.
Gleichwohl: Insgesamt ist Eppler eine gute, detaillierte und genau belegte Gesamtdarstellung der NS-Pädagogik gelungen, die überdies jederzeit lesbar ist. Insofern bietet sie nicht nur dem Fachwissenschaftler einen kompakten Überblick, sondern auch einem breiteren Publikum von Historikern und praktischen Pädagogen.
Autor: Dr. Bernd Kleinhans M.A.
Christoph J. Eppler: Erziehung im Nationalsozialismus. Bündnische Jugend − Hitlerjugend − Reformpädagogik. Lindenbaum Verlag, Beltheim-Schnellbach 2012, 774 S., ISBN 978-3-938176-38-2, EUR 38,00.