Dass das Verbrechen des Holocaust nicht vergessen werden sollte, damit es sich nicht wiederholen kann, ist in Deutschland zu einem geflügelten Wort geworden. Doch wie kann man ein Ereignis, an das sich Individuen durch ihre späte Geburt nicht persönlich erinnern können, gesamtgesellschaftlich erinnern? Wie funktioniert die Erinnerung einer Gesellschaft an vergangene Ereignisse? Der französische Philosoph und Soziologe Maurice Halbwachs(1) war einer der ersten, der das Gedächtnis unter dem soziologischen Aspekt betrachtete. In ‚Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen’ (1925, 1985a) und in dem posthum veröffentlichten ‚Das kollektive Gedächtnis’ (1985b) stellte er seine Theorie von dem sozial geprägten Gedächtnis des Individuums vor. Er wandte sich damit ab von damals üblichen biologistischen Erklärungsversuchen des Gedächtnisses.
Halbwachs begründete die Theorie des kollektiven Gedächtnisses in der Annahme, dass sich das Gedächtnis durch eine Wechselwirkung zwischen Individuum und Gruppe konstituiert. Für die Ausbildung eines Gedächtnisses benötigt ein Individuum „soziale Rahmen“, die sich in den Dimensionen Raum, Zeit und Gruppenzugehörigkeit in Verbindung mit dem Merkmal einer gemeinsamen Sprache manifestieren (Echterhoff/Saar 2002, S. 23). Durch Kommunikation und Interaktion innerhalb einer Gruppe entsteht die Möglichkeit, Erinnerungsspuren im Individuum zu lokalisieren und daraus ein vollständiges Bild einer Erinnerung („Erinnerungsbild“) zu entwickeln: „Die Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon recht verändert hervorgegangen ist.“ (Halbwachs 1985b, S. 55f.) Erinnerungen bilden sich nach Halbwachs also nur im Miteinander der Menschen in einer bestimmten aktuellen Situation aus.
Trennung zwischen Geschichte und Gedächtnis
Halbwachs nahm daraus folgernd eine Trennung zwischen Geschichte und Gedächtnis vor. Geschichte hatte für ihn einen universalen und unparteiischen Anspruch. Die Träger eines kollektiven Gedächtnisses sind im Gegensatz dazu räumlich und zeitlich begrenzte Gruppen, deren Erinnerung stark wertend und hierarchisierend ist (Echthoff/Saar 2002, S. 22). Zudem ging er von der Existenz einer Vielzahl von kollektiven Gedächtnissen aus, die nebeneinander existieren können (Halbwachs 1985b, S. 73). In seinen späteren Überlegungen dehnte Halbwachs den Begriff des Generationsgedächtnisses aus und wandte sich Kollektivgedächtnissen zu, deren Zeithorizont über Tausende von Jahren reicht und bei denen es sich nicht mehr um oral überlieferte Erinnerungen innerhalb einer sozialen Gruppe handelt. Hier werden Gegenstände und Gedächtnisorte für die Rahmenbildung eines kollektiv konstruierten Wissens über eine ferne Vergangenheit gebraucht (Erll 2003, S. 171).
Jan Assmann: das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis
In Anlehnung an Halbwachs’ Gedächtnistheorie entwickelte Jan Assmann in den 1980er Jahren die Theorie des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses. Beide Gedächtnisformen lassen sich unter dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses subsumieren, stellen aber „zwei Gedächtnisrahmen“ (Assmann 1992, S. 50) dar. Das kommunikative Gedächtnis beruht „ausschließlich auf Alltagskommunikation“. Es zeichnet sich durch eine ausgeprägte Alltagsnähe aus und beinhaltet das, was die Menschen aus ihrer Erinnerungen an die unmittelbare Vergangenheit an die nächsten Generationen weiterreichen. Zudem ist es gekennzeichnet durch ein „hohes Maß an Ungeformtheit, Beliebigkeit und Unorganisiertheit“ (Assmann 1988, S. 10). Das kommunikative Gedächtnis reicht über einen Zeitraum von 80 bis 100 Jahren, es umschließt folglich drei bis vier Generationen. Durch das kommunikative Gedächtnis konnte bis heute die Erinnerung an den Holocaust bewahrt werden, da Überlebende den nachfolgenden Generationen von den Verbrechen berichten. Die letzten Zeugen der Ereignisse werden jedoch nicht mehr lange leben.
Im Moment befinden wir uns an einem Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, was die Erinnerung an den Holocaust anbelangt. Das kulturelle Gedächtnis stellt eine „Außendimension des menschlichen Gedächtnisses“ (Assmann 1992, S. 19) dar. Durch das kulturelle Gedächtnis kann die Vergangenheit laut Assmann (1988, S. 12) „über Jahrtausende hinweg“ rekonstruiert werden. Fixpunkte, Ereignisse wie der Holocaust, dienen in Form von Zeugnissen als Anhaltspunkte zur Rekonstruktion der Vergangenheit. Dabei kann die Vergangenheit, wie sie wirklich geschehen ist, nicht wieder hergestellt werden. Sie wird immer aus einem aktuellen Bezug heraus rekonstruiert. Mit anderen Worten: Jede Gesellschaft erinnert die Vergangenheit, die sie für die Gegenwart braucht.
Gedenkstätten, Erinnerungen Überlebender oder Romane sind Teil des kulturellen Gedächtnisses
Das kulturelle Gedächtnis manifestiert sich in der sogenannten objektivierten Kultur, wie zum Beispiel Texten, Bildern oder Bauwerken. Bezogen auf den Holocaust können das KZ-Gedenkstätten, die niedergeschriebenen Erinnerungen Überlebender, Spielfilme, Romane und andere Kunstformen wie Werke der Medienkunst sein. Die vergangene kollektive Erfahrung kristallisiert sich dabei in kultureller Formgebung aus. Es bedarf dafür der Pflege dieser objektivierten Kultur durch Institutionen oder spezialisierte Träger wie Künstler. In dem Wissen, das in der objektivierten Kultur steckt, entwickeln sich „normative und formative Kraft“ (Assmann 1988, S. 52), die auf die Mitglieder einer Gesellschaft wirkt. Das kulturelle Gedächtnis bezieht sich immer auf Gruppen, es reproduziert ihre Identität, was Assmann (1988, S. 13) unter dem Begriff der „Identitätskonkretheit“ zusammenfasst. Durch wiederholte Einweisung und Einübung des kulturellen Gedächtnisses werden so Handeln und Erleben der Mitglieder einer Gruppe gesteuert. Unter dem Begriff der „Reflexivität“ verdeutlicht Assmann (1988, S. 15), dass sich eine Gesellschaft in der objektivierten Kultur spiegelt.
Mit dem Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis ist bezüglich des Holocausts die Herausforderung verknüpft, das Wissen um das Geschehene, das bisher durch die Kommunikation der Überlebenden mit den nächsten Generationen weitergereicht und so bewahrt wurde, in Zukunft ausschließlich durch das kulturelle Gedächtnis zu erhalten. Je mehr dabei versucht wird, den Holocaust auf eine angemessene Art in Werken darzustellen, desto vielfältiger werden die kulturellen Objektivationen und desto breiter gefächert ist auch der Inhalt des kulturellen Gedächtnisses. Über Jahrtausende ist es durch dieses Gedächtnis möglich, Gesellschaften in ihrer „Sozialdimension und Zeitdimension“ (Assmann 1992, S. 16) miteinander zu verknüpfen, somit Ereignisse wie den Holocaust zu erinnern und in der Folge die Mitglieder einer Gesellschaft in ihrer Identität zu prägen. Die Hoffnung dabei lautet, dass das, was man nicht vergisst, sich auch nicht wiederholen kann.
Autorin: Sarah Krüger
Literatur
Assmann, Jan 1988: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders./ Hölscher, Tonio (Hg.) 1988, Kultur und Gedächtnis. Suhrkamp, Frankfurt a. M., S. 9-19.
Assmann, Jan 1992: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. Beck, München.
Erll, Astrid 2003: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. In: Nünning, Ansgar und Vera (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften: Theoretische Grundlagen – Ansätze –Perspektiven. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar, S. 157-179.
Echterhoff, Gerald/Saar, Martin (Hg.) 2002: Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz.
Halbwachs, Maurice 1985a: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Halbwachs, Maurice 1985b: Das kollektive Gedächtnis. Fischer, Frankfurt a. M.
Anmerkungen
(1) Maurice Halbwachs (geboren 1877 in Reims) wurde 1944 von der Gestapo verhaftet, da seine Söhne Mitglieder der résistance waren. 1945 starb er im Konzentrationslager Buchenwald als Folge der Bedingungen im Lager.