„Da müssen wir durch“1
Franz Josef Degenhardt, von seinen Fans liebevoll nach seinem frühen Song „Väterchen Franz“ genannt, ist am 14. November 2011 nach längerer Krankheit gestorben. Dieselben bürgerlichen Medien, die Degenhardts Veröffentlichungen seit vielen Jahren übergingen oder boykottierten, widmeten ihm nun große Nachrufe. Degenhardt war Realist und wusste genau, dass er für seine in Liedern zum Ausdruck gebrachte Überzeugung einen Preis zu zahlen hatte. Im Unterschied zu seinem ehemaligen Freund und Kollegen Biermann richtete er seine Einstellung nicht nach dem politischen Zeitgeist.
Schon einmal, viele Jahre vorher, hatte man sich aufgrund der Ballade „Treiben, Gleiten“, erschienen auf seiner CD „Da müssen wir durch“ (1987) Sorgen um seine Gesundheit gemacht. In einem bedächtigen Rhythmus, begleitet von einem intensiv klagenden Saxophon, hat da einer einen Herzkasper und treibt und gleitet in einem Kahn liegend, gewunken vom Knochenmann „ins Schilf“. Ein deutliches Todesthema, so ganz ohne politische Note. Dem Tod ist Degenhardt damals noch von der Schippe gesprungen und er konnte in fast jährlicher Regelmäßigkeit weiterhin seine CDs veröffentlichen. Sie warfen immer ein kritisches Licht auf die deutsche Entwicklung und die schwierige Lage einer Linken, die sich infolge der Wende und des Kollaps der sozialistischen Staaten immer weiter atomisierte. Aber seine Utopie von einer sozialistischen Welt hat er bis zuletzt nicht verloren.
Geprägt durch die Erfahrungen mit Faschismus und Krieg
Die historische Perspektive von Degenhardt – 1931 in Schwalm in einer bürgerlich-katholischen und antifaschistischen Familie geboren –war geprägt von den Erfahrungen mit Faschismus und Krieg und der anschließenden Restauration. Bereits im ersten Roman „Zündschnüre“ (1973), setzte Degenhardt dem Widerstand der aufmüpfigen Jugend aus proletarischen und kleinbürgerlichen Kreisen ein literarisches Denkmal und würdigte die Edelweißpiraten in einem Lied.2 Sie wurden in der offiziellen Bundesrepublik mit Verachtung gestraft oder einfach ignoriert. Denn als ob nichts gewesen wäre, setzte sich die alte als neue und nur leicht gewendete Nomenklatura in den Schaltstellen eines im Westbündnis fest verorteten kapitalistischen Staates fest. In bewährter Tradition lautete die neue wie schon die alte Agenda: Tod dem Bolschewismus. Diesmal nur mit anderen Mitteln. Dafür war es nötig, die deutliche Minderheit, die an das „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ gemahnten, kaltzustellen. Wiederbewaffnung und KPD-Verbot waren die zwei Seiten einer Medaille. Vergessen die Millionen Opfer des Faschismus, stattdessen stilisierten sich die Deutschen selbst zu Opfern einer Hitlerdiktatur, und die Vertriebenenverbände klagten über den neuen Status quo in Osteuropa. Unter der Aufsicht der Westalliierten war das Kunststück gelungen, mit gewendetem Antlitz in die braunen Fußstapfen zu treten. Die begeisterte Wiederaufbaustimmung mit einer Bourgeoisie und ihrem „Wir sind wieder Wer“-Ton und den weißen Hemden, die sich über den Wohlstandsbäuchen spannten, wurde von einem 32-jährigen Sänger 1963 (erster Auftritt bei Radio Bremen) und promoviertem Juristen nachhaltig gestört. Genüsslich zelebrierte Degenhardt mit eulenspiegelschem Hintersinn die Störung der bürgerlichen Ordnung in seinem Song „Rumpelstilzchen“3.
Auch wenn Degenhardt später seine frühen Lieder für unpolitisch hielt, so muss man ihm postum widersprechen. Er zeichnete Bilder von Kleinstädten, in denen die Oberfläche aus Gemütlichkeit und Bratendüften den gefährlichen Bodensatz des Gestrigen ahnen ließ. Das Lied „Deutscher Sonntag“4 ist eine zugespitzte Beschreibung des Familienrituals jener Zeit bestehend aus Kirchgang, Bratenschmaus, Besuch von Friedhof und Schlachtfeldstätten, das in einem Befund der Antipathie mündet: „Da frier ich vor Gemütlichkeit.“ In „Feierabend“5 kommt Degenhardts Misstrauen zum Ausdruck. Bewaffnet mit MG liegt er auf der Lauer, bereit zu entsichern: „wenn man im Chor und Marschtakt lacht.“6
Denn:
„Diesmal, Lodenröcke,
dieses Mal da lauern wir.
Wir sind diesmal Jäger.
In die Falle tappt jetzt ihr.“
Das besondere seiner Poetik, sie entwarf dichte Bilder mit einer heimelig-idyllischen Atmosphäre und einer Ambivalenz zwischen Ekel und Sympathie. Degenhardt fand die richtigen Zeilen für die pseudodemokratische Fassade, hinter der der braune Geist unbeschadet fortlebte. Die Texte enthalten kleine Erzählungen, deren Personal immer Unikate sind, unverwechselbare Figuren mit Deformationen und Blessuren, die manchmal zu Karikaturen werden. Ob der „schwule Kommunist mit TBC und ohne Pass“, der „abgefallene Priester“7 „Rudi Schulte“, „Natascha Speckenbach“ oder „Pastor Klaus“8, die von Degenhardt konzipierten positiven Figuren sind nicht perfekt und haben ihre Fehler und Beschädigungen. Es sind Typen, die sich dennoch als positive Rolemodels eignen, denn sie beweisen ihre Widerständigkeit, manchmal nur in einer kleinen Situation, wenn z.B. der Pastor dem verletzten Anti-AKW-Aktivisten Unterschlupf gewährt.9
Parallel zur Studentenbewegung wurden die Texte direkter
Es ist kein Wunder, dass Degenhardt sich auch als Romancier erwies und die lange epische Form in mehreren Romanen erfolgreich nutzte. Szenen und Typen schilderte Degenhardt in buchstäblich nachspürbarer, ja nahezu riech- und schmeckbarer Weise. Meisterhaft vermochte er es, in dem Vertrauten und romantischen Idylle den schwelenden Terror freizulegen. Die frühen Songs fußten noch nicht auf einer marxistischen Klassenanalyse, die erst allmählich gegen Anfang der 1970-er Jahre deutlich wurde. Parallel zur Studentenbewegung 1967/68 wurden Degenhardts Liedtexte direkter und nahmen zu aktuellen Anlässen Stellung wie der Song zur Ermordung Benno Ohnesorgs10, dessen erste Strophe bereits einem tiefen Zweifel an der parlamentarischen Demokratie zum Ausdruck brachte:
„Da habt ihr es, das Argument der Straße.
Sagt bloß jetzt nicht: Das haben wir nicht gewollt.
Zu oft verhöhnt habt ihr die sogenannte Masse,
die euch trotz allem heute Beifall zollt.
Nun wisst ihr es: Uns ist es nicht genug,
in jedem vierten Jahr ein Kreuz zu malen.
Wir rechnen nach, und nennen es Betrug,
wenn es gar keine Wahl gibt bei den Wahlen.“
Ausschluss aus der SPD
Zu jener Zeit war Degenhardt noch Mitglied der SPD, die ihn 1971 aufgrund des „Unvereinbarkeitsbeschlusses“ ausschloss, nachdem er 1970 einen Wahlaufruf für die DKP unterzeichnet hatte, der er 1978 beitrat. In einem Song11 auf der CD „Wildledermantelmann“ zeichnet er den mühsamen und manchmal einsamen Kampf eines Kommunisten nach. Hier erwähnte er die DKP-Zeitung UZ, eine der wenigen direkten Referenzen an die DKP. Degenhardt hat jeder Versuchung widerstanden zu einem Parteisänger zu werden, was der Qualität seiner Songtexte zugute kam. Dessen ungeachtete wurde er, je stärker er seine Kritik an Ausbeutung, an Imperialismus und den Opportunismus von Sozialdemokratie und ehemaligen Linken formulierte, boykottiert. Während viele ehemals radikale Linke peu à peu ihren Frieden mit dem kapitalistischen System machten, ihren langen Marsch durch die Institutionen begannen und sich dabei bis zur Unkenntlichkeit veränderten, blieb sich Degenhardt treu. Nebenher arbeitete der promovierte Jurist als Anwalt in einer Kanzlei zusammen mit Kurt Groenewold in Hamburg und verteidigt Leute der APO sowie der ersten RAF-Generation. Dem zwanghaften Distanzierungskurs von der RAF wollte er nie folgen und setzte dafür auf Kritik an den Genossen und den bewaffneten Kampf, den er unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus der Bundesrepublik ablehnte.
Sympathie für „Linksabweichler“
„Gerade in diesen Zeiten, in denen der Kapitalismus einen Endsieg errungen zu haben scheint, find ich es wichtig, an Revolutionäre zu erinnern. Gerade auch, wenn sie, wie ich weiß, entsetzliche Fehler gemacht haben. Vom Sofa aus zu konstatieren, dass kämpfende Menschen entsetzliche Fehler machen, ist, das weiß ich, äußerst problematisch – ich nehme es mir aber heraus, und ich meine das ganz anders als die Schnoddrigkeit, mit der zum Beispiel die TAZ über die RAF herzieht.“12
Trotz seiner gradlinigen Haltung denunzierte er „Linksabweichler“, Anarchisten, Spontis und Autonome nicht, sondern würdigte sie mit Sympathie, aber aus einer kritischen Distanz. In dem Lied „Im Gonsbachtal“13 zeichnet Degenhardt ein liebevolles Bild von der disparaten Gemeinschaft aus Lebenskünstlern und Hedonisten, die sich an langen Tafeln zu Festen zusammenfindet. In seinen Bildern von der „Basisgruppe Horridoh, Club der Kenner aller Künste, parteiloses Politbüro“ wird eine Sympathie erkennbar, auch wenn er sich dort nicht völlig verortet. Im Gonsbachtal lebten Degenhardts Bruder Martin und dessen Frau Gertrude Degenhardt, die Platten und ein Textbuch von Degenhardt kongenial mit ihren Farbradierungen illustriert hat.14
In „Rondo Pastorale“15 erwies Degenhardt 1977 den Aussteigern, die sich vom Kampf zurückzogen, um sich im Landleben im Einklang mit der Natur neu zu finden, trotz seiner konträren Haltung und seinem Festhalten am Klassenkampf, Respekt:
„Ja, unser Kampf ist noch der gleiche,
und noch immer ist er schwer.
Nein, ihr seid nicht einfach abgehauen,
wie man das so einfach daherquatscht.
Und ihr habt auch eure Gründe.
Niemand sagt, ihr wärt reichlich vermatscht.“
Degenhardts analytischem Scharfsinn sind Songtexte zu verdanken, die die rasanten und negativen Auswirkungen der Globalisierung vorwegnahmen. In „Arbeitslosigkeit“ verleiht er einem zynischen Apologeten aus der Chefetage des Kapitalismus seine Stimme, um am Schluss eine linke Utopie der internationalen Vergesellschaftung entgegenzusetzen. Dabei baute Degenhardt auf die real sozialistischen Länder, ohne deren innere Situation zu kritisieren. Selbstkritisch gestand er später seinen Fehler in einem Interview ein:
„Die inneren Verhältnisse in der DDR … auch die fehlende Öffentlichkeit dort, haben mich nicht interessiert. Das war offensichtlich ein schwerer Fehler. Ich und andere haben zwar gelegentlich kritische Anmerkungen gemacht, aber wir hätten nachdrücklich und vehement immer wieder feststellen müssen, dass zum Satz der Gegensatz gehört, und zwar öffentlich. Andere Gruppen in der westdeutschen Linken, wie zum Beispiel der Kommunistische Bund, haben das früher begriffen.“16
Bis ins hohe Alter immun gegenüber jeglichem Nationalismus
In einem Fernsehinterview17 begründete er sein Verbleiben in der DKP damit, allergisch zu sein gegen Austritte aufgrund eines veränderten Zeitgeistes. Außerdem gehörten Kommunisten zur Fundamentalopposition, ohne die „kommt diese Gesellschaft auf den dummen Gedanken, sie sei das Happy End der Geschichte“.18
Degenhardt blieb bis ins hohe Alter immun gegenüber jeglicher Tendenz zum Nationalismus und goss seine Skepsis auch spontan in Sätze, die eine starke Sympathie für das Anarchische offenbarten:
„Der anständige Deutsche ist für Ordnung und Sauberkeit, klare und überschaubare Verhältnisse auch in der Volkszugehörigkeit. Sein Ideal ist und bleibt die charakterstarke, verantwortungsbewusste Persönlichkeit mit klaren Grundsätzen. Dem unanständigen Deutschen ist zunächst einmal egal, dass er Deutscher ist. Er mag keine klaren Grundsätze, sondern das Uneindeutige, das Unscharfe, das Durchmischte. Er ist überhaupt nicht leistungsorientiert, sondern faul. Er ist nicht diszipliniert und bescheiden, sondern chaotisch und unverschämt. Er ist nicht gepflegt, sondern schmuddelig. Aller Fortschritt zum Menschlichen in diesem Land ist also abhängig vom unanständigen Deutschen.“19
Autor: Matthias Reichelt
Anmerkungen
2 „Ballade vom Edelweißpiraten Nevada-Kid“ auf „Du bist anders als die anderen“, LP, Hamburg 1982
3 Auf der LP/CD „Rumpelstilzchen“ (zuerst erschienen als LP unter dem Titel „Zwischen 0 Uhr und Mitternacht“), 1963
4 Auf der LP/CD „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“, Erstveröffentlichung als LP 1965
5 Auf „Väterchen Franz“, LP, Hamburg 1967
6 ebenda
7 „Väterchen Franz“ auf der gleichnamigen LP, 1967/CD
8 „Lied für die ich es sing“ auf „Da müssen wir durch“, CD, Hamburg 1987
9 ebenda
10 Der Titel lautet „2. Juni 1967“ und findet sich auf der LP/CD „Wenn der Senator erzählt“, veröffentlicht 1968
11 „Als Kommunist“, erschienen auf „Wildledermantelmann“, Hamburg 1977
12 Oliver Tolmein: Wiedergutmachung der 68er. Interview mit Franz Josef Degenhardt. Konkret 09/ 1990, S. 54
13 Auf „Wildledermantelmann“, Hamburg 1977
14 „Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen. Alle Lieder von Franz Josef Degenhardt. Mit Zeichnungen von Gertrude Degenhardt“, Büchergilde Gutenberg 1979
15 Auf der LP/CD „Wildledermantelmann“, Hamburg 1977
16 Oliver Tolmein: Wiedergutmachung der 68er. Interview mit Franz Josef Degenhardt. Konkret 09/1990, S. 54
18 ebenda
19 Ansprache von F.J. Degenhardt auf dem Festival „Franz Josef Degenhardt und seine Freunde“, Burg Waldeck, 27./28.6.1997: http://www.youtube.com/watch?v=9gWT11KGWQc