Dunkelblum lautet der Name des kleinen Ortes im Burgenland, dicht an der ungarischen Grenze. Erfunden – angelehnt an den Ort Rechnitz – hat ihn Eva Menasse und ihn zum titelgebenden Schauplatz ihres neuen und grandiosen Romans gemacht. Dunkelblum klingt mysteriös, geheimnisvoll. Es ist ein lautmalerischer Symbolismus für eine übertünchte Vergangenheit. Und tatsächlich liegt hier nicht nur eine Leiche begraben, über die die Bewohner den Mantel des Schweigens decken. Die Handlung spielt während der Hundstage im Sommer 1989. Jenseits der Grenze warten DDR-Bürger auf die Ausreise und einem gelingt die Flucht nach Dunkelblum. Die Verhältnisse geraten aber nicht nur jenseits der Grenze im Ostblock in Bewegung, sondern auch in Dunkelblum. Denn zeitgleich legen dort angereiste junge Aktivisten den überwucherten jüdischen Friedhof frei, richten die umgekippten Grabsteine auf und wecken damit bei manchen Bewohnern Erinnerungen an kollektiv verdrängte Ereignisse. Dass diese bislang nicht an die Oberfläche drangen, ist einem netzwerkartigen Gefüge gegenseitiger Abhängigkeiten, einer Balance zwischen gemeinsamer und manchmal auch gegenläufiger Interessen zu verdanken. Eine Hand wäscht die andere. Aktuell ist die Bevölkerung zerstritten über die Frage der zukünftigen Wasserversorgung. Reichen die örtlichen Wasserquellen? Probebohrungen könnten Unerwünschtes zutage fördern, da könnte es besser sein, sich an den Wasserverband zu binden, was einige zu intensiver Lobbyarbeit beflügelt. Ganz vorne dabei der erkrankte Bürgermeister und sein Stellvertreter. Eva Menasse verwebt die thematischen Stränge gekonnt zu einem spannenden Heimatthriller. Vor den Augen der Leserinnen und Leser lässt sie ein Histo-, Sozio- und Psychogramm eines Ortes entstehen, in dem alles engmaschig und scheinbar undurchdringlich miteinander verbunden scheint. Nur Unbeteiligte, von außen Zugereiste haben hier eine Chance, etwas Licht in die dunklen Verhältnisse zu bringen. So argwöhnisch sie betrachtet werden, sie stellen die richtigen Fragen und legen die Finger in die oberflächlich verheilten Wunden. Da ist Flocke, die kluge, sympathische und eigenwillige Tochter von Leonore Malnitz und ihres Mannes Toni. Ob Flocke, die nur den Sommerurlaub bei ihren Eltern verbringt, allerdings wirklich das Produkt dieser Ehe ist, scheint fraglich, denn im Ort kursieren so manche Gerüchte. Auf jeden Fall ist sie längst nicht mehr so verwurzelt im Ort, ebenso wie Lowetz, der nur zurückgekehrt ist, um das Haus der kürzlich verstorbenen Mutter aufzulösen. Hinzu gesellen sich der Reisebüroinhaber und Hobbyhistoriker Rehberg sowie der aus den USA angereiste ominöse Dr. Gellért, der auf der Suche nach Gräbern ermordeter Zwangsarbeiter ist, um diese würdig zu bestatten. Nein, die Vergangenheit ist eben nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen, wie es Faulkner formulierte. „Das ist nicht das Ende der Geschichte“, lautet auch der letzte Satz des Romans, als ob Menasse nochmals Fukuyama widerlegen müsse, denn der prophezeite fälschlicherweise genau dieses. Dass der Ostblock als Folge des Zurückdrängens der deutschen Faschisten und ihrer Helfershelfer durch die Rote Armee entstanden war, und Menasse dessen 1989 einsetzende Auflösung mit der Lüftung des Geheimnisses um ermordete Zwangsarbeiter in Dunkelblum verknüpft, ist ein kluger Schachzug. Bis heute sind sowohl die blockbedingte Spaltung Europas nicht überwunden sowie die NS-Verbrechen immer noch nicht restlos aufgeklärt. 1989 war das entscheidende Jahr, in dem Geschichte einer turbulenten Revision unterzogen wurde, ohne dass ein Ende abzusehen wäre.
Menasse schreibt stilistisch mit einer anderen Sprache als der ebenfalls österreichische Hans Lebert, der 60 Jahre zuvor seinen Roman „Wolfshaut“ mit einer durchgängig düsteren Atmosphäre versah. Darin ging es ebenfalls um ungesühnte NS-Morde in einem Dorf mit dem bedeutungsreichen Namen „Schweigen“. Menasse ist die große Fabulierfreude auf jeder Seite anzumerken. So grausam die Geschichte um die Ermordeten und die Mörder, die aus Niedertracht, Habgier und Opportunismus handelten, auch ist, Menasse gelingt ein Ton, der auch Ironie und Sarkasmus nicht scheut, was die spannende Lektüre bis zum Schluss zu einem Lesevergnügen macht. Ihren Roman spickte Menasse mit vielen „Austriazismen“ (im Anhang glossarisch aufgelistet), wie zum Beispiel das schnell zu sprechende „Gschisti-Gschasti“ für Schnickschnack, der zum Lieblingsbegriff des Rezensenten wurde.
Autor: Matthias Reichelt
Eva Menasse: Dunkelblum, Kiepenheuer und Witsch, 2021, 524 Seiten, 25 €