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Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache − Rasse – Religion. WBG, Darmstadt 2001, 464 Seiten, ISBN 3-534-15052-X. |
Der Begriff „völkisch“ ist so eng mit der NS-Ideologie verbunden, dass er oft beinahe synonym mit nationalsozialistisch gebraucht wird. Mindestens aber scheint die sogenannte völkische Bewegung, die es ja bereits vor der Gründung der NSDAP gab, der direkte Vorläufer und Wegbereiter des deutschen Faschismus zu sein. Tatsächlich sind Parallelen und Kontinuitäten unübersehbar. Viele der späteren NS-Führer waren bereits in völkischen Verbänden der Weimarer Zeit oder des Kaiserreiches tätig und bekannten sich öffentlich zum völkischen Denken. Schließlich wurden Runensymbole und Hakenkreuz, Begriffe wie „Arier“ und „Rasse“ in der völkischen Bewegung populär gemacht.
Andererseits: Etliche völkische Aktivisten lehnten die Bildung einer politischen Partei ebenso ab wie die Modernitäts- und Technikbegeisterung der Nationalsozialisten. Auch von deren Seite fehlte es nicht an Distanzierung. Der spätere Propagandaminister Joseph Goebbels kritisierte bereits in seinen Jugendtagebüchern die Völkischen. Und Hitler verspottete sie mehrfach, sah in ihnen einen „Methusalem“, der eine Idee zum „Verkalken“ brachte – eine Bewegung jedenfalls, die mit dem Nationalsozialismus als der „jungen Bewegung“ nichts gemein habe. Wer oder was aber waren die Völkischen nun wirklich? Uwe Puschner geht in seiner – ursprünglich als Habilitationsschrift verfassten – Studie den Anfängen dieser vielgestaltigen Bewegung im Kaiserreich nach. Und er fängt dort an, wo ein guter Historiker beginnen sollte: bei den Quellen. Akribisch hat Puschner alle erreichbaren Publikationen, Zeitschriften und Pamphlete der frühen völkischen Bewegung zusammengesucht und geordnet. Er zeigt dabei ebenso die Gemeinsamkeiten einer vor allem in kleine Gruppen und Splitterorganisationen aufgespaltenen ideologischen Bewegung wie auch die enormen Differenzen innerhalb der Völkischen. Vage anknüpfend an die Romantik und den philosophischen deutschen Idealismus – besonders an Fichte – zeigt die völkische Bewegung alle Anzeichen eines typischen subkulturellen Phänomens: Politische Bedeutungslosigkeit steht neben dem Anspruch, eine Weltanschauung, ja neue Religion zu begründen und das deutsche Volk vor dem Untergang zu retten.
Es sind vor allem drei Zentren, um die das völkische Denken kreist: Antisemitismus, Rassenlehre und Religion, wobei diese ganz unterschiedlich in den einzelnen Strömungen akzentuiert werden. Das zeigt sich besonders beim Rassebegriff: Während ein Teil der Völkischen das Spezifische jeder Rasse in Blut und Abstammung ausmachten, und bereits Menschenzucht und Eugenik plante, gab es auch Gruppen, die Rasse als eher geistiges und kulturelles Phänomen auffassten. Es ging, wie es in der Sprache der Zeit hieß, darum, ob Rasse im „Geblüt“ oder im „Gemüt“ zu begründen sei. Ähnlich gespalten war die Position zu den Juden. Aggressive Antisemiten, wie Theodor Fritsch, dessen Handbuch der Judenfrage noch im Dritten Reich als Standardwerk galt, standen neben Antisemiten, die die Juden nicht direkt bekämpften, sondern durch eigene kulturelle Leistungen die vermeintliche Überlegenheit der arischen Rasse zeigen wollten. Auch in der Religionsfrage gab es ähnlich große Differenzen. Rückwärtsgewandte Anhänger alter Germanenkulte standen neben Theoretikern, die das Christentum zu einem „Deutschen Christentum“ erneuern wollten.
Uwe Puschner klärt alle diese Zusammenhänge und verfolgt die ideologischen Differenzen bis in die feinsten Verästelungen. Dass man dabei mitunter den Überblick zu verlieren droht, liegt nicht am Autor – er schreibt ausgezeichnet – sondern an der Komplexität der völkischen Bewegung selbst. Nach dem Studium dieses materialreichen Buches wird man jedenfalls nicht mehr einfach die völkische Bewegung als direkten Vorläufer der NS-Herrschaft ansehen. Vielmehr waren es die Völkischen, die einen dumpfen antidemokratischen Geist, geprägt voller Ressentiments und Vorurteile öffentlich zum Ausdruck brachten, der viele Deutsche auch außerhalb der Völkischen über Jahrzehnte prägte. Und die Völkischen förderten diesen Geist aktiv. Auf diesen Boden ist dann auch die NSDAP groß geworden, auch wenn es keine direkte Kausalkette von völkischer Bewegung zum Nationalsozialismus gibt. Auch Dank der zahlreichen Tabellen, Materialien und nicht zuletzt eines sehr umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnisses wird Puschners Untersuchung für lange Zeit das Standardwerk über die völkische Bewegung vor 1914 bleiben – und Ausgangsbasis für weitere Forschungen.
Autor (Rezensent): Dr. Bernd Kleinhans