Mit den Studien Uwe Puschners, Stefan Breuers und Gregor Hufenreuters hat die Forschung zur Geschichte der völkischen Bewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik in den letzten 20 Jahren einen starken Aufschwung genommen. Vertiefte Einblicke in die Popularisierung völkischen Gedankenguts sind allerdings – sieht man von Justus H. Ulbrichts Arbeiten zum Verlags- und Volkshochschulwesen ab – ein Desiderat geblieben.[1] Die zersplitterten völkischen Kernorganisationen stützten sich auf einige Hundert Aktivisten und erreichten mit dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund nur vorübergehend in den frühen 1920er Jahren eine Massenbasis. Ihre Zeitungen und Zeitschriften erzielten keine Resonanz, die über die eigene Anhängerschaft hinausging. Dennoch verfügte völkisches Denken über eine unbestrittene Strahlkraft vor allem ins Bildungs- und Kleinbürgertum hinein.
Die Dissertation von Julian Köck identifiziert die völkische Geschichtsschreibung als das „missing link“ zwischen erfolgloser Organisation und erfolgreicher Popularisierung. Köck rekonstruiert das Geschichtsbild führender völkischer Intellektueller in Monografien und Periodika und analysiert, welche Identifikationsangebote sie als Alternative zum vorherrschenden Historismus unterbreiteten. Außerdem widmet sich Köck der Rezeption völkischer Laiengeschichtswerke durch die etablierte Historikerzunft.
Angelpunkt des völkischen Geschichtsdenkens war ein radikaler Nationalismus, der sich das „Volk“ als Bezugsgröße wählte. Dieses wurde nicht als „demos“, sondern als „ethnos“ konzipiert. Im völkischen Denken bildete nicht die Summe der Staatsbürger das Volk, sondern ein identitärer und organizistischer Volkskörper, den man sich als homogene Kultur- oder Rassengemeinschaft vorstellte. Daraus folgte aber keineswegs eine Nationalgeschichte mit siegesdeutschem Anstrich. So sehr die Völkischen Heinrich von Treitschke wegen seines radikalen Nationalismus verehrten, die historistische Politikgeschichte der Borussischen Schule empfanden sie nicht als identitätsstiftend, weil sie den Staat und nicht das Volk ins Zentrum stellte. Zudem grenzte die kleindeutsch-preußische Historiografie aus der Sicht der Völkischen große Gruppen „blutsmäßiger“ Deutscher (d.h. Österreicher und andere Auslandsdeutsche) aus der Nationalgeschichte aus. Zwar legten Heinrich Claß und Heinrich Wolf sehr erfolgreiche Werke zur deutschen Geschichte vor, und unzählige völkische „Historiker“ widmeten sich dem Germanenmythos und der Heimatkunde. Doch die Völkischen betonten die universelle und überzeitliche Gültigkeit ihrer Weltanschauung, weshalb sie zumindest in ihren Monografien welthistorische Entwürfe bevorzugten. Das Nationale ließen sie insofern einfließen, als sie in bestimmten Personen, Werthaltungen, Ideen und Kulturen „deutsches Wesen“ oder „arisches Blut“ verkörpert sahen. Per Zirkelschluss ließen sich so Epochen, die die Zeitgenossen aus dem Geschichtsunterricht als kulturelle Blütezeiten kannten (z.B. das antike Griechenland oder die italienische Renaissance), für die Germanen bzw. die Deutschen reklamieren.
Den Schlüssel zum Nachweis der angeblichen Überzeitlichkeit des deutschen Volkes fanden die Völkischen im Rassismus. Dabei folgten ihre Geschichtsentwürfe aber keineswegs anthropologischen oder biologischen Rassentheorien, sondern einem schwammigen geisteswissenschaftlichen Rassebegriff. Der Verweis auf die „Rasse“ erlaubte es, die Selbstdefinition durch Feindmarkierung essentialistisch aufzuwerten und Konflikte zwischen Völkern oder innerhalb des eigenen Volkes auf vermeintliche Naturgesetzmäßigkeiten statt auf machtpolitische Interessenlagen zurückzuführen. So entwickelten alle Geschichtswerke ihre Narrative auf der Grundlage eines dualistischen Freund-Feind-Schemas, wobei das Eigene mit Gemeinschaft und Kultur, das Fremde mit Gesellschaft und Zivilisation gleichgesetzt wurde. Das Fremde betrachtete man nicht primär als äußere Bedrohung durch rivalisierende Mächte, sondern als Zersetzung und Überfremdung des „Volkskörpers“ von innen heraus. Als Lehre aus der Geschichte zog man, dass die Blüte der eigenen Kultur nur durch das Ausscheiden des Fremden zu erreichen sei. Kleinster gemeinsamer Nenner war dabei der Antisemitismus. Doch neben den Juden zogen völkische „Historiker“ auch gegen Katholiken, Romanen, Slawen, „Asien“ und den Islam zu Felde. Diesen Purifizierungsfantasien widmet Köck leider nicht genügend Aufmerksamkeit. Nach Radikalisierungstendenzen fragt er ebenso wenig wie nach anderen internen Entwicklungen der völkischen Bewegung, obwohl der Vergleich einzelner Geschichtswerke deutliche soziale, konfessionelle und generationelle Bruchlinien erkennen lässt. Vor allem im dritten Teil der Studie fehlt es an historischer Kontextualisierung der besprochenen Werke, so dass Veröffentlichungen aus den 1890er Jahren, aus der Weltkriegszeit und den 1930er Jahren unverbunden nebeneinander stehen.
Das Ausmaß der gesellschaftlichen Akzeptanz völkischer Geschichtsentwürfe misst Köck an ihrer Rezeption durch die Historikerzunft, zu der vor 1918 nur sehr wenige Völkische selbst gehörten. (Schäfer, Lamprecht, Below, Kossinna) Erst der Schock der Weltkriegsniederlage und die republikfeindliche Berufungspraxis an vielen Universitäten in der Weimarer Republik führten zu einer nennenswerten Durchmischung von völkischer Ideologie und Wissenschaft. Doch auch bereits im Kaiserreich fiel die Wahrnehmung völkischer Geschichtsbilder in akademischen Kreisen nicht durchweg negativ aus. Rezensionen in Fachzeitschriften monierten zwar wissenschaftliche Defizite der Geschichtswerke, qualifizierten sie aber nur selten als unwissenschaftliches Weltanschauungsschrifttum ab. Ihre politische Tendenz wurde eher begrüßt als bekämpft. Köck erklärt dies mit der Nähe der Völkischen zum akademischen Milieu, die sie trotz ihres avantgardistischen und zuweilen wissenschaftskritischen Selbstbildes bewusst suchten. Hier beschränkt sich die Darstellung des Autors allerdings im Wesentlichen auf das personelle und institutionelle Netzwerk Ludwig Schemanns. Dem studentischen Verbindungswesen als Bindeglied zwischen den Völkischen und der akademischen Sphäre schenkt Köck zu wenig Aufmerksamkeit.
Zu kritisieren ist außerdem die Auswahl der vorgestellten weltgeschichtlichen Entwürfe. Zum einen fehlt mit Houston Stewart Chamberlains „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ das wirkungsmächtigste geschichtsphilosophische Werk der Völkischen. Zum anderen sind mit Theodor Fritsch, Heinrich Wolf, Ludwig Schemann, Max Wundt und Willibald Hentschel nur „Historiker“ vertreten, die sich in die humanistisch-idealistische Tradition der Geisteswissenschaften stellten. Im anschließenden Kapitel über Themen und Methoden völkischer Geschichtsschreibung wird jedoch dieser konservative Ansatz gar nicht mehr thematisiert. Vielmehr werden die Völkischen nun wegen ihres Rückgriffs auf naturwissenschaftliche Ansätze und die soziologische Milieutheorie als „modern“ dargestellt. Diese Fehlkonstruktion erschwert das Abwägen zwischen progressiven und regressiven Elementen in der völkischen Bewegung. Es bleibt unklar, ob sie den Historismus in Richtung der Romantik zurückabwickelte oder ihn durch den interdisziplinären Zugriff auf die neuen Natur-, Human- und Sozialwissenschaften progressiv überwand. Köck betont, dass beide Tendenzen unverbunden nebeneinander existieren konnten. (S. 418)
Tatsächlich scheint jedoch der konservative geisteswissenschaftliche Strang hegemonial gewesen zu sein. Der in den 1990er Jahren vieldiskutierte angebliche Dreischritt von der völkischen Geschichtsschreibung über die NS-Volksgeschichte zur frühen Sozialgeschichte der Bundesrepublik[2] lässt sich auf der Grundlage von Köcks Studie jedenfalls nicht bestätigen. Mit ihrer Vorliebe für die Geistes- und Kulturgeschichte haben die Völkischen eher klassische Themenfelder besetzt, als neue erschlossen. Obwohl es das Operieren mit dem Rassebegriff nahegelegt hätte, war ihnen eine materialistische Geschichtsbetrachtung fremd. Das Volk war ihnen eine ideelle und keine statistische Größe, weshalb historische Demographie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in ihren Werken mit Abwesenheit glänzten. Die Rezeption von Biologie und Anthropologie beschränkte sich auf die Zeitschriften „Politisch-anthropologische Revue“ und „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“. Die Mehrheit der Völkischen setzte, wie Köck zu Recht feststellt, auf einen kulturalistisch verdünnten Rassismus, um anschlussfähig an die humanistisch-idealistische Tradition des deutschen Bildungsbürgertums zu bleiben und dennoch nicht auf die Objektivitätssuggestion naturwissenschaftlicher Begriffe verzichten zu müssen. Selbst die Fußnoten der völkischen Geschichtswerke waren ganz auf Strategie und Effekt getrimmt. Es wurde gleichrangig auf die Werke etablierter Wissenschaftler und völkischer Dilettanten verwiesen, mit dem Ziel, letztere aufzuwerten. Zudem fällt auf, dass die Arbeiten von renommierten Fachgelehrten oft nur ausschnittweise rezipiert wurden, um zu kaschieren, dass ihre Gesamttendenz nicht zum eigenen Geschichtsbild passte. Der Hang zu einer wissenschaftsstrategisch geschickten Positionierung erklärt nicht zuletzt die vielen logischen Brüche und inhaltlichen Sprünge in den völkischen Geschichtsbildern, die man nicht leichtfertig mit fachlicher Inkompetenz abtun sollte.
Köck betont, dass es den völkischen Geschichtsschreibern ohnehin nicht um die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse ging, sondern um die Legitimierung ihrer Weltanschauung. Die Einschätzung des Autors, dass die Geschichtsschreibung eine „entscheidende Grundlage der völkischen Positionen“ (S. 420) gewesen sei, muss man allerdings mit Blick auf seine eigenen Befunde relativieren. Die Völkischen gewannen ihre „Erkenntnisse“ gerade nicht induktiv aus den Quellen, sondern zwangen ihr bereits vorhandenes Gedankengut deduktiv den Quellen auf. Die Geschichte war für sie nicht viel mehr als ein Steinbruch, aus dem man sich das Beweismaterial für die Richtigkeit der eigenen Weltanschauung nach Belieben herausbrechen konnte. Daher kann es nicht verwundern, dass die völkischen „Historiker“ auf das methodische Korrektiv der idealtypischen Modellbildung bewusst verzichteten.
Dieser Abgrund der Unwissenschaftlichkeit war für die Zeitgenossen aber nicht leicht zu erkennen, da die meisten völkischen Geschichtsschreiber zeitgenössische wissenschaftliche Standards keineswegs massiv unterschritten. Ein Beispiel: Die Stilisierung einer Person oder einer Epoche zum Träger überzeitlicher Werte erscheint aus der heutigen Warte als grob anachronistisch und unwissenschaftlich. In der zeitgenössischen universitären Philosophie und Geistesgeschichte war dieses Verfahren aber durchaus üblich. Der Lebensphilosophie – man denke an Friedrich Nietzsche – ist es gar gelungen, dieser plumpen Methodik einen neuen Aufschwung zu verschaffen.
Das Erfolgsgeheimnis der völkischen Geschichtsschreiber lag nicht primär darin, sich mit wissenschaftskritischem Gebaren, spektakulären Thesen, alternativen Fakten und identitären Angeboten von der „scientific community“ abzuheben. Sieht man von einigen esoterischen Außenseitern (List, Lanz von Liebenfels), selbsterklärten Wissenschaftsfeinden (Langbehn, Chamberlain) und Radauantisemiten (Fritsch, Henschel, Bartels, Reventlow) ab, agierten sie durchaus konventionell und im Einklang mit den wissenschaftlichen Trends der Zeit. Auf diese Weise erreichten sie mit ihren historisch verpackten Weltanschauungsentwürfen schon im Kaiserreich die bildungsbürgerliche Mitte der Gesellschaft. Köcks Fazit kann man daher nur unterstreichen: Völkisches Gedankengut beschränkte sich nicht auf sektiererische Zirkel, sondern erzielte über den Umweg von Geschichtswerken und Belletristik eine breite Resonanz, die von den organisatorischen Strukturen der völkischen Bewegung nicht annähernd abgebildet wurde.
Autor: Thomas Gräfe
Julian Köck, „Die Geschichte hat immer Recht“. Die völkische Bewegung im Spiegel ihrer Geschichtsbilder, Frankfurt a.M.: Campus 2015.
Anmerkungen
[1] Uwe Puschner/ Walter Schmitz/ Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur völkischen Bewegung 1871-1918, München 1996; Justus H. Ulbricht/ Meike Werner (Hg.), Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichts Verlag im Epochenkontext 1900 bis 1949, Göttingen 1999; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001; Paul Ciupke/ Klaus Heuer/ Franz-Josef Jelich/ Justus H. Ulbricht (Hg.), „Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007; Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008; Gregor Hufenreuter, Philipp Stauff. Ideologe, Agitator und Organisator im völkischen Netzwerk des Wilhelminischen Kaiserreichs, Frankfurt a.M. 2011.
[2] Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993.